Kürzung des Krankengeldes

Gericht

BVerfG


Art der Entscheidung

Beschluss über Verfassungsbeschwerde


Datum

17. 02. 1997


Aktenzeichen

1 BvR 1903/96


Leitsatz des Gerichts

Es ist nicht verfassungswidrig, dass die Krankenkassen die Höhe des Krankengeldes von 80 auf 70 % des Regelentgeldes und den Höchstbetrag des Krankengeldes von 100 auf 90 % des Nettoarbeitsgeldes herabsetzen. Es besteht keine Verpflichtung, die Höhe des Krankengeldes nach Kinderzahl oder Familienstand zu staffeln.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Verfassungsbeschwerde betraf die Kürzung von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Bf. wandte sich unmittelbar gegen Art. 2 Nr. 14 des Gesetzes zur Entlastung der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung (Beitragsentlastungsgesetz - BeitrEntlG) vom 1. 11. 1996 (BGBl I, 1631). Durch diese Bestimmung, die § 47 I 1 und 2 SGB V abändert, wird mit Wirkung ab 1. 1. 1997 die Höhe des Krankengeldes von bisher 80 auf 70 % des Regelentgelts herabgesetzt und der Höchstbetrag des Krankengeldes von bisher 100 auf 90 % des Nettoarbeitsgeldes festgesetzt. Die Bf., die nach einer Operation mit einem längeren Krankengeldbezug rechnet, hält die für sie zu erwartende Kürzung des Zahlbetrags für familienfeindlich. Sie sei Mutter von vier minderjährigen Kindern; Unterhaltspflichten berücksichtige der Gesetzgeber aber nicht.

Die Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

2. Die hier mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Fragen sind in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung geklärt (vgl. zu Art. 6 I GG: BVerfGE 87, 1 = NJW 1992, 2213; zu Art. 3 I GG: BVerfGE 88, 87 (97) = NJW 1993, 1517 jew. m.w.Nachw.). Es ist nicht ersichtlich, daß der vorliegende Fall weitere grundsätzliche Klärung erfordert.

3. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der als zuletzt bezeichneten Verfassungsrechte angezeigt (§ 93a II lit. b BVerfGG).

a) Aus Art. 6 I GG läßt sich keine Verpflichtung des Gesetzgebers herleiten, im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung die Höhe des Krankengeldes nach Familienstand, dem Vorhandensein oder der Zahl der unterhaltsberechtigten Kinder des Krankengeldbeziehers zu staffeln.

Aus der Wertentscheidung des Art. 6 I GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip läßt sich zwar die allgemeine Pflicht des Staates zu einem Familienlastenausgleich entnehmen, nicht aber die Entscheidung darüber, in welchem Umfang und in welcher Weise ein solcher sozialer Ausgleich vorzunehmen ist. Aus dem Verfassungsauftrag, einen wirksamen Familienlastenausgleich zu schaffen, lassen sich konkrete Folgerungen für die einzelnen Rechtsgebiete und Teilsysteme, in denen der Familienlastenausgleich zu verwirklichen ist, nicht ableiten. Insoweit besteht vielmehr grundsätzlich Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers (vgl. BVerfGE 87, 1 (35f.) = NJW 1992, 2213 m.w.Nachw.).

b) Eine Staffelung der Höhe des Krankengeldes nach Kinderzahl und damit eine Differenzierung innerhalb der Personengruppe der Krankengeldbezieher ist auch bei Anwendung des Prüfungsmaßstabes des Art. 3 I i.V. mit Art. 6 I GG verfassungsrechtlich nicht geboten. Art. 3 I GG verlangt nicht, unter allen Umständen Ungleiches ungleich zu behandeln. Der allgemeine Gleichheitssatz ist nicht schon dann verletzt, wenn der Gesetzgeber Differenzierungen, die er vornehmen darf, nicht vornimmt (vgl. BVerfGE 4, 31 (42) = NJW 1954, 1601; BVerfGE 86, 81 (87) = LKV 1992, 269 = NVwZ 1992, 972 L; BVerfGE 90, 226 (239) = NZS 1994, 417 = NJW 1994, 2346 L). Es bleibt grundsätzlich ihm überlassen, diejenigen Sachverhalte auszuwählen, an die er dieselbe Rechtsfolge knüpft, die er also im Rechtssinn als gleich ansehen will (BVerfGE 21, 12 (26) = NJW 1967, 147; BVerfGE 23, 242 (252) = NJW 1968, 1715; BVerfGE 90, 226 (239) = NZS 1994, 417 = NJW 1994, 2346 L). Allerdings muß er die Auswahl sachgerecht treffen (vgl. BVerfGE 17, 319 (330); BVerfGE 53, 313 (329) = NJW 1980, 1738; BVerfGE 67, 70 (85f.) = NJW 1984, 2514; BVerfGE 90, 226 (239) = NZS 1994, 417 = NJW 1994, 2346 L; st. Rspr.). Der normative Gehalt der Gleichheitsbindung erfährt auch insoweit seine Präzisierung jeweils im Hinblick auf die Eigenart des zu regelnden Sachbereichs (vgl. BVerfGE 75, 108 (157) = NJW 1987, 3115; BVerfGE 90, 226 (239) = NZS 1994, 417 = NJW 1994, 2346 L). Art. 3 I GG ist danach dann verletzt, wenn für die gleiche Behandlung verschiedener Sachverhalte - bezogen auf den in Rede stehenden Sachbereich und seine Eigenart - ein vernünftiger, einleuchtender Grund fehlt (vgl. BVerfGE 76, 256 (329) = NVwZ 1988, 329; BVerfGE 90, 226 (239) = NZS 1994, 417 = NJW 1994, 2346 L).

Dies ist nicht der Fall, da der Gesetzgeber für die Bemessung des Krankengeldes im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich an die Höhe des vor Eintritt des Versicherungsfalles erzielten Arbeitsentgelts anknüpft, das seinerseits Grundlage der Beitragsbemessung war. Durch die Anknüpfung an das Nettoentgelt gehen Familienstand und Unterhaltslasten insoweit in die Berechnung ein, als sie im Wege steuerrechtlicher Vorschriften das Verhältnis von Brutto- zu Nettoentgelt beeinflussen. Gerade die Abhängigkeit der Höhe des Krankengeldes vom zuvor erzielten beitragspflichtigen Arbeitsentgelt ist Ausdruck des auch in diesem Versicherungszweig - jedenfalls bei der Geldleistung des Krankengeldes - geltenden Äquivalenzprinzips (vgl. hierzu BVerfGE 92, 53 (71f.) = NZA 1995, 752). Im übrigen finden Gesichtspunkte des Familienlastenausgleichs oder eines allgemeinen Solidarausgleichs in der Krankenversicherung in umfangreichem Maße Berücksichtigung dadurch, daß Kinder (und zum Teil auch Ehegatten) im Grundsatz beitragsfrei mitversichert sind und das Hauptgewicht der Krankenversicherung nicht auf der Erbringung von Geldleistungen, sondern von Sachleistungen ruht, die unabhängig von Familienstand, Kinderzahl oder der Höhe der geleisteten Beiträge erbracht werden, sofern die Leistungen (medizinisch) erforderlich sind.

c) Ob der Anspruch auf Krankengeld vom Schutzbereich des Art. 14 I GG erfaßt wird oder ob die Absenkung des Krankengeldes auf 70 % des Regelentgelts sowie die Festsetzung des Höchstbetrages des Krankengeldes (von bisher 100) auf 90 % des Nettoarbeitsentgelts lediglich am Prüfungsmaßstab des Art. 2 I GG in Verbindung mit dem Rechts- und Sozialstaatsgebot zu messen ist, kann vorliegend dahingestellt bleiben. Die konkrete Reichweite des Eigentumsschutzes ergibt sich aus der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums durch den Gesetzgeber. Auch bei der Anwendung des Art. 14 GG auf sozialversicherungsrechtliche Positionen räumt das BVerfG dem Gesetzgeber grundsätzlich eine weite Gestaltungsfreiheit ein, und zwar im besonderen für die Regelungen, die dazu dienen, die Funktions- und Leistungsfähigkeit des Systems im Interesse aller zu erhalten, zu verbessern oder veränderten wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen. Sofern die gesetzliche Regelung dem Zweck des Gemeinwohls dient und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht, ist es dem Gesetzgeber grundsätzlich nicht verwehrt, Leistungen zu kürzen, den Umfang von Ansprüchen oder Anwartschaften zu vermindern oder diese umzugestalten (vgl. BVerfGE 53, 257 (293) = NJW 1980, 692). Bei der Prüfung am Maßstab des Art. 2 I GG gilt insoweit nichts anderes. Die angegriffene Regelung hält sich im Rahmen dieser Vorgaben. Dabei kann im Hinblick auf den Gesetzeszweck des Beitragsentlastungsgesetzes dahingestellt bleiben, ob die Absenkung der Lohnersatzquote und die Festsetzung des Höchstbetrages des Krankengeldes auf 90 % des Nettoarbeitsentgelts schon deshalb sachlich gerechtfertigt ist, weil mit krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit häufig eine Reduzierung des mit der Arbeit verbundenen Aufwands verbunden ist.

Das Beitragsentlastungsgesetz ist Teil des von der Bundesregierung zu Beginn des Jahres 1996 beschlossenen 50-Punkte-Aktions-Programms für Investitionen und Arbeitsplätze, das sich als Gesamtkonzept zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Betriebe versteht; dieses Gesamtkonzept wurde durch das von den Fraktionen von CDU/CSU und FDP am 25. 4. 1996 beschlossene „Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung“ konkretisiert und weiter entwickelt. Ziel dieses Programms ist es - so die Gesetzesbegründung - „mehr Wachstumsdynamik in der deutschen Volkswirtschaft zu ermöglichen, zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen und die wirtschaftlichen Fundamente" des Sozialstaates dauerhaft zu sichern. Um den Spielraum hierfür zu gewinnen, sollen bis zum Jahre 2000 die Staatsquote wieder auf rund 46 % des Bruttoinlandsprodukts (Stand vor der deutschen Einheit) und die Summe der Sozialversicherungsbeiträge auf unter 40 % zurückgeführt werden. Die im „Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung“ beschlossenen Maßnahmen im Bereich der Rentenversicherung, der Arbeitslosenversicherung und der Krankenversicherung dienten dem Zweck, die Rahmenbedingungen für eine Konsolidierung der Sozialversicherungshaushalte und die vorgesehene Reduzierung des Gesamtsozialversicherungsbeitrags zu setzen (vgl. Begr. des GesetzE der Fraktion der CDU/CSU und FDP zum BeitrEntlG, BT-Dr 13/4615, S. 6). Das Beitragsentlastungsgesetz sieht neben Änderungen im Leistungsrecht unter anderem eine Reduzierung der Beitragssätze sowie die Absenkung des Krankengeldes um 10 % vor. Zur Absenkung des Krankengeldes wurde in der Begründung des Gesetzentwurfs (vgl. BT-Dr 13/4615, S. 8 zu Nr. 6) ausgeführt:

„Mit der Absenkung des Krankengeldes von bisher 80 auf zukünftig 70 % des regelmäßigen Bruttoarbeitsentgeltes erfolgt eine sozialpolitisch vertretbare Absenkung, die als eine maßvolle Abstufung zwischen Arbeitslohn- und Lohnersatzleistung gerechtfertigt erscheint. Durch diese Reduzierung wird zudem eine Angleichung an das Niveau der Lohnersatzleistungen anderer Sozialversicherungszweige hergestellt. Das im Vergleich zu anderen Lohneratzleistungen bislang deutlich höhere Krankengeld hatte auch häufig einen Anreiz für Versicherte und Arbeitgeber, auf eine Verlängerung der Bezugszeit z.B. vor Eintritt der Rente oder im Vorruhestand hinzuwirken. Ein Indiz für solche Anreize ist auch die Ausgabenentwicklung beim Krankengeld ..."

Die angegriffene Regelung bezweckt somit als Teil einer Vielzahl sozialrechtlicher Neuregelungen die Stabilisierung der äußerst angespannten Finanzlage der Krankenkassen. Sie ist eingebettet in ein Maßnahmebündel, das insgesamt der Senkung der sog. Lohnnebenkosten und damit der Arbeitskosten dienst; dadurch soll einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit entgegengewirkt und langfristig eine Reduzierung der Arbeitslosigkeit erreicht werden. Das sind gemeinwohlorientierte und - bezogen auf die angestrebte Senkung der hohen Arbeitslosenquote - insbesondere sozialstaatsorientierte Zwecke. Das hierfür unter anderem eingesetzte Mittel der Absenkung des Krankengeldes ist geeignet, zur Erreichung dieser Ziele beizutragen, zumal allein diese Maßnahme im Jahr 1997 eine Entlastung der Krankenkassen um 1850 Mio. DM bewirken und somit - gemeinsam mit weiteren Maßnahmen des Beitragsentlastungsgesetzes - eine Reduzierung des Krankenversicherungsbeitrages um 0,4 Prozentpunkte ab 1. 1. 1997 sicherstellen soll (vgl. hierzu BT-Dr 13/4615, S. 11).

Das Ziel, die Sozialversicherungsbeiträge auf unter 40 % zurückzuführen (vgl. BT-Dr 13/4615, S. 6), ist außerdem geeignet, dem in das System der Sozialversicherung eingebundenen Versicherten wieder ein Stück der Dispositionsfreiheit über sein Einkommen zurückzugeben und damit das in Art. 2 I GG ebenfalls enthaltene Selbstbestimmungsrecht zu stärken. Ob bereits aus verfassungsrechtlichen Gründen Anlaß bestünde, die Lohnnebenkosten auf ein deutlich unter der derzeitigen Grenze liegendes Maß zurückzuführen, bedarf vorliegend keiner Entscheidung.

Die Bf. hat auch nichts dafür dargetan, daß sie bei einer Reduzierung des Krankengeldes oder im Hinblick auf die Höhe der Sozialversicherungsbeiträge nicht mehr in der Lage wäre, ihre Existenz und die Existenz ihrer Familie zu sichern. Ebensowenig bedarf es vorliegend einer Entscheidung darüber, ob es in besonderen Ausnahmefällen (z.B. Krankheit während der Schwangerschaft, Absinken unter das Sozialhilfeniveau bei Kürzung des Krankengeldes, erheblicher Mehraufwand wegen Krankheit; vgl. dazu beispielsweise den Antrag des Freistaates Bayern, auf die Kürzung des Krankengeldes während einer Schwangerschaft zu verzichten, BR-Dr 464/1/96) verfassungsrechtlich geboten sein könnte, auf eine Kürzung des Krankengeldes zu verzichten; auch insoweit wurde im Rahmen der Begründung der Verfassungsbeschwerde nichts dafür vorgetragen, daß vorliegend solche Ausnahmefälle gegeben sein könnten.

4. Ob die Bf. möglicherweise einfachrechtlich einen Anspruch auf Gewährung des Krankengeldes in der vor dem 1. 1. 1997 ausgezahlten Höhe hat, bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Jedenfalls übersieht die Bf. insoweit, daß nicht nur die erstmalige Gewährung des Krankengeldes durch Verwaltungsakt erfolgt, sondern auch zur Reduzierung des Krankengeldes nach Maßgabe des Beitragsentlastungsgesetzes nach dem derzeitigen Stand der fachgerichtlichen Rechtsprechung ein verwaltungsverfahrensrechtlicher Umsetzungsakt erforderlich ist (vgl. BSG, Urt. v. 30. 1. 1996 - 4 RA 16/95, S. 10 des Umdrucks) und dabei Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes nach Maßgabe der §§ 44ff. . SGB X zu beachten sind.

Rechtsgebiete

Sozialrecht

Normen

GG Art. 2 I, 3 I, 6 I, 14 I, 20 I, III; BeitrEntlG Art. 2 Nr. 14; SGB V § 47 I 1, 2