Bezahlung von Reisezeit

Gericht

BAG


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

03. 09. 1997


Aktenzeichen

5 AZR 428/96


Leitsatz des Gerichts

  1. Reisezeiten, die ein Arbeitnehmer über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus im Interesse des Arbeitgebers aufwendet, hat der Arbeitgeber als Arbeitszeit zu vergüten, wenn das vereinbart oder eine Vergütung „den Umständen nach“ zu erwarten ist (§ 612 I BGB).

  2. Ist eine Regelung nicht getroffen, sind die Umstände des Einzelfalls maßgeblich. Einen Rechtssatz, daß solche Reisezeiten stets oder regelmäßig zu vergüten seien, gibt es nicht.

  3. Bei der Prüfung der Umstände steht dem Tatsachengericht ein Beurteilungsspielraum zu. Es kommt auch eine Vergütung eines Teils der Reisezeiten in Betracht.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Kl. verlangt die Bezahlung von Reisezeiten außerhalb seiner vertraglichen Arbeitszeit. Der Bekl. ist ein Revisionsverband für ärztliche Organisationen. Er hat seinen Sitz in M. Die Revisionen werden im gesamten Bundesgebiet durchgeführt. Der 1940 geborene Kl. ist Diplom-Ökonom. Beim Bekl. war er seit 1982 als Prüfer gegen ein Monatsgehalt nach Vergütungsgruppe II a BAT angestellt. Zuletzt bezog er 14 Gehälter in Höhe von 7061,95 DM brutto sowie einen Zuschuß zu einer betrieblichen Altersversorgung in Form einer Direktversicherung in Höhe von 5000 DM pro Jahr. Der Kl. wohnt in D. Zu den Außenprüfungen ist er jeweils zum Sitz der zu prüfenden Organisation angereist. Die Prüferarbeit vor Ort erstreckte sich in der Regel auf mehrere Tage, zuweilen auch auf mehrere Wochen. Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit des Kl. betrug 42 Stunden. Der Arbeitsvertrag enthält keine Regelungen über die Bezahlung von Mehrarbeit oder Überstunden, sondern nur eine Regelung über Reisekosten. Tarifliche Vorschriften über die Bezahlung von Mehrarbeit oder Überstunden galten für das Arbeitsverhältnis nicht. Der Kl. begehrt nach Maßgabe seiner Aufstellungen vom 17. 4. 1994 und seiner Berechnungen vom 16. 5. 1994 für die Zeit vom 4. 11. 1991 bis zum 1. 10. 1993 die Bezahlung von insgesamt 231,75 Überstunden einschließlich Mehrarbeitszuschlägen in Höhe eines Gesamtbetrags von 11 018,71 DM. Die Überstunden setzen sich zusammen aus solchen für Reisezeiten und solchen für Prüfungstätigkeiten. Der Kl. hat behauptet, sämtliche Überstunden seien vom Bekl. angeordnet und erforderlich gewesen, um die von ihm geforderten Arbeiten termingerecht fertigstellen zu können. Nach Auffassung des Bekl. sind die Reisezeiten nicht vergütungspflichtig, zumal der Kl. vielfach weisungswidrig statt mit der Bahn mit dem Auto gereist sei. Die Überstunden seien weder erbracht noch von ihr, der Bekl., angeordnet worden.

Das ArbG hat der Klage in Höhe von 9266,60 DM brutto nebst Zinsen stattgegeben und sie im übrigen abgewiesen. Hiergegen hat lediglich der Bekl. Berufung eingelegt. Das LAG hat das erstinstanzliche Urteil teilweise abgeändert und die Klage abgewiesen, soweit der Bekl. zur Zahlung von mehr als 5425 DM brutto nebst Zinsen verurteilt worden war. Es hat angenommen, daß die Bekl. Mehrarbeitsvergütung nur schulde, soweit der Kl. Reisezeiten von mehr als zwei Stunden pro Reisetag aufgewendet hat, und daß auf die zuerkannte Mehrarbeitsvergütung keine Überstundenzuschläge zu zahlen seien. Die zugelassene Revision des Kl. hatte keinen Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

1. Als Rechtsgrundlage kommt im vorliegenden Fall nur § 612 I BGB in Betracht. Hiervon ist auch das LAG zu Recht ausgegangen.

a) Entgegen der Ansicht der Revision kann der Anspruch auf Vergütung für Reisezeiten, die außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit liegen, nicht auf § 611 BGB i. V. mit dem Arbeitsvertrag gestützt werden. Nach dem Arbeitsvertrag schuldet der Arbeitgeber lediglich die vereinbarte Vergütung für die versprochenen Dienste. Enthält der Arbeitsvertrag - wie hier - keine Regelung über die Leistung oder über die Bezahlung von Mehrarbeit und sind - wie hier ebenfalls - keine entsprechenden tarifvertraglichen Regelungen über Mehrarbeitsvergütung einschlägig, so umfaßt die Vergütungsvereinbarung lediglich die regelmäßige Arbeitszeit. Hingegen bildet § 612 I BGB die Rechtsgrundlage in den Fällen, in denen entweder überhaupt keine Vergütungsvereinbarung vorliegt oder aber über die vereinbarte Tätigkeit hinaus höhere Dienste oder Überstunden oder Mehrarbeit geleistet werden (st. Rspr. des BAG, vgl. statt vieler: NZA 1994, 708 = AP Nr. 22 zu § 611 BGB Musiker [zu II 2]; BAGE 38, 194 [197] = NJW 1982, 2139 = AP Nr. 33 zu § 612 BGB [zu II 1 a] m. w. Nachw.).

b) Ebensowenig ist der Ansicht der Revision zu folgen, der Anspruch des Kl. ergebe sich aus § 324 BGB i. V. mit § 242 BGB und Art. 3 I GG. Der Kl. hat nicht konkret vorgetragen, inwieweit es zu Ungleichbehandlungen zu seinen Lasten gekommen sein soll und weshalb ihm deshalb auch für bis zu zwei Reisestunden pro Reisetag Arbeitsvergütung zustehen solle.

c) Zu Unrecht meint andererseits die Bekl., § 612 I BGB sei deswegen nicht anzuwenden, weil die Reisetätigkeit des Kl. nur eine Nebenpflicht und keine Hauptleistungspflicht darstelle. Zu den Aufgaben des Kl. gehört, Prüfungen vor Ort vorzunehmen, d. h., die zu prüfenden Einrichtungen aufzusuchen und in deren Geschäftsräumen zu prüfen. Deshalb stellt im vorliegenden Fall das Reisen für den Kl. nicht etwa die Erledigung einer Nebenpflicht dar, sondern ist Bestandteil der vom Kl. übernommenen Arbeitspflicht. Dementsprechend hat das BAG angenommen, daß Zeiten, die ein im Außendienst tätiger Mitarbeiter eines Rationalisierungsunternehmens für Reisen zu dessen Kunden aufwende, Bestandteil seiner arbeitsvertraglichen Hauptleistungspflicht seien (BAG, AP Nr. 3 zu § 611 BGB Wegezeit [zu II 1 b]).

2. Die Voraussetzungen des § 612 I BGB liegen jedoch nicht vor. Hiernach gilt „eine Vergütung als stillschweigend vereinbart, wenn die Dienstleistung den Umständen nach nur gegen eine Vergütung zu erwarten ist“. Angesichts der vom LAG festgestellten Umstände war vorliegend nicht zu erwarten, daß auch die ersten beiden Reisestunden außerhalb der Arbeitszeit an jedem Reisetag nur gegen Zahlung einer Vergütung zu leisten seien.

a) Das LAG hat unter Hinweis auf die Urteile des Senats vom 8. 12. 1960 und 28. 3. 1963 (AP Nrn. 1, 3 zu § 611 BGB Wegezeit) ausgeführt, es schließe sich im Grundsatz der Rechtsprechung des BAG an, wonach die im Interesse des Arbeitgebers aufgewendete Reisezeit, auch soweit sie außerhalb der regulären Arbeitszeit anfalle, in der Regel vergütungspflichtig sei.

b) Diese Schlußfolgerung des LAG aus den von ihm herangezogenen Urteilen des BAG wird insbesondere durch das angeführte Urteil vom 28. 3. 1963 (AP Nr. 3 zu § 611 BGB Wegezeit) nahegelegt. Indessen ist nicht zu übersehen, daß in dem vorbezeichneten Urteil wie auch im Urteil des Senats vom 8. 12. 1960 (AP Nr. 1 zu § 611 BGB Wegezeit) und im Urteil des BAG vom 17. 4. 1957 (BAGE 5, 86 [90] = AP Nr. 1 zu § 2 TOA) unter Heranziehung aller Umstände, insbesondere der tarifvertraglichen und arbeitsvertraglichen Regelungen, geprüft worden ist, ob und inwieweit jeweils im Einzelfall ein Anspruch auf Vergütung für Reisezeiten bestand. Sollte dieser Rechtsprechung, vor allem dem Urteil des Senats vom 28. 3. 1963 (AP Nr. 3 zu § 611 BGB Wegezeit) ein Rechtssatz des Inhaltes zu entnehmen sein, daß die im Interesse des Arbeitgebers aufgewendete Reisezeit, auch soweit sie außerhalb der regulären Arbeitszeit anfalle, „in der Regel“ vergütungspflichtig sei, wird hieran nicht festgehalten. § 612 I BGB läßt eine solche grundsätzliche Aussage mit einem so weitreichenden Inhalt nicht zu. Vielmehr ist im Einzelfall zu prüfen, ob die durch die Reise erbrachte Dienstleistung den Umständen nach nur gegen eine Vergütung zu erwarten ist.

3. Hiervon ist letztlich auch das LAG ausgegangen. Denn es hat im einzelnen geprüft, ob alle Reisezeiten des Kl. durch sein reguläres Gehalt als abgegolten anzusehen sind und dies - zu Recht - verneint. Es hat sodann geprüft, inwieweit in einem bestimmten Umfang Reisestunden des Kl. außerhalb seiner regulären täglichen Arbeitszeit als nicht vergütungspflichtig anzusehen sind.

a) Das LAG hat angenommen, der Umfang der vergütungsfrei zu erbringenden Reisezeit stehe bei gehobener und entsprechend vergüteter Haupttätigkeit nicht starr fest, sondern richte sich nach den Umständen des Einzelfalles. Mit Blick auf diese Umstände, vor allem auf das besondere Arbeitsverhältnis des Kl., sei eine Reisezeit von gegebenenfalls bis zu zwei Stunden über die geschuldete Arbeitszeit hinaus pro Reisetag als nicht vergütungspflichtig und durch sein reguläres Gehalt abgegolten zu behandeln. Der Kl. gehe mit seinen Hauptaufgaben einer akademischen Tätigkeit nach. Sein Gehalt liege deutlich oberhalb der allgemeinen durchschnittlichen Bezahlung abhängig Beschäftigter. Nach den für seine Tätigkeit in Anbetracht der Höhe seiner Vergütung geltenden, das Arbeitsleben beherrschenden Vorstellungen bestehe objektiv keine uneingeschränkte Vergütungserwartung für Reisezeiten jenseits des Rahmens der regelmäßigen Arbeitszeit. Schon in gehobener und nicht erst in leitender Stellung habe der Arbeitnehmer nach der Verkehrsanschauung ein gewisses Kontingent an Reisezeiten unentgeltlich zu erbringen. Dies bestätige die von der Bekl. behauptete, vom Kl. nicht bestrittene Branchenüblichkeit bei Wirtschaftsprüfern.

b) Diese Auffassung ist nicht zu beanstanden.

aa) Gem. § 612 I BGB hängt der Anspruch auf Zahlung einer - nicht ausdrücklich vereinbarten - Vergütung davon ab, ob die Vergütung „den Umständen nach“ zu erwarten ist. Das Gesetz verwendet hier einen unbestimmten Rechtsbegriff. Die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs unterliegt in der Revision nur einer eingeschränkten Prüfung. Eine der Revision zugängliche Rechtsverletzung liegt nur vor, wenn der Rechtsbegriff selbst verkannt, Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt oder wesentliche Umstände bei der Bewertung übersehen worden sind (BAG in st. Rspr., statt vieler: BAGE 60, 270 = NJW 1989, 1627 = NZA 1989, 527 = AP Nr. 8 zu § 543 ZPO 1977; BAG, NZA 1992, 166 = AP Nr. 32 zu § 622 BGB).

bb) Diesem eingeschränkten Überprüfungsmaßstab hält das Urteil des LAG stand. Es hat angenommen, angesichts der Umstände im Streitfall sei nicht zu erwarten, daß die ersten zwei Reisestunden pro Reisetag vergütungspflichtig seien. Das LAG hat sich in dieser Annahme durch den vom Kl. nicht bestrittenen und daher als unstreitig angesehenen Vortrag der Bekl. zur Vergütung von Reisezeiten von Wirtschaftsprüfern bestätigt gesehen. Die hiergegen gerichteten Angriffe des Kl. vermögen nicht zu überzeugen, sie sind unbegründet. Insbesondere hat das LAG keinerlei Gesetze der Logik verletzt. Eine begründete Verfahrensrüge hat der Kl. insoweit nicht vorgebracht (§ 565 a ZPO).

Rechtsgebiete

Arbeitsrecht

Normen

BGB §§ 612 I, 611, 324, 242