Unzulängliche Zustellung

Gericht

BGH


Art der Entscheidung

Beschluss über Beschwerde


Datum

10. 03. 1998


Aktenzeichen

X ZB 31/97


Leitsatz des Gerichts

Ein zur Unwirksamkeit der Zustellung führender wesentlicher Mangel liegt dann vor, wenn in der zugestellten Urteilsausfertigung ganze Seiten fehlen. Das gilt grundsätzlich auch schon dann, wenn nur eine einzige Seite fehlt. Es gilt insbesondere dann, wenn der Zustellungsempfänger die Unvollständigkeit innerhalb der Rechtsmittelfrist gegenüber dem zustellenden Gericht rügt.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

I. Die Kl. machen aus eigenem und abgetretenem Recht Ansprüche auf Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen eines nach ihrer Auffassung nicht ordnungsgemäß durchgeführten Highschool-Aufenthaltes ihres Sohnes in den Vereinigten Staaten von Amerika gegen den Programmveranstalter geltend. Das LG hat die Klage durch Urteil vom 11. 10. 1996 abgewiesen. Eine Ausfertigung des Urteils mit Tatbestand und Entscheidungsgründen wurde den Kl. Vertretern am 16. 11. 1996 zugestellt. Seite 4 des Urteils fehlte in der zugestellten Ausfertigung, die im übrigen vollständig war und mit der Urschrift übereinstimmte. Der letzte Absatz von Seite 3 des Urteils lautete wie folgt : "Die Kl. sind der Auffassung, daß die Bekl. die vorzeitige Heimreise ihres Sohnes verschuldet habe. Darüber hinaus habe der". Der erste Satz des ersten Absatzes der Seite 5 beginnt mit den Worten : "Die Kl. tragen weiter vor, ...".

Nachdem die Klägervertreter dem Gericht mit Schriftsatz vom 22. 11. 1995 mitgeteilt hatten, daß Seite 4 des Urteils nicht zugestellt worden sei, veranlaßte der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle eine Zustellung einer nunmehr vollständigen Urteilsausfertigung, die am 30. 11. 1995 erfolgte. Die Berufungsschrift der Klägervertreter ging am 2. 1. 1996 beim BerG ein, die Berufungsbegründung am 1. 2. 1996. Das BerG hat das Rechsmittel wegen Verfristung verworfen. Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Kl., die geltend machen, daß die am 16. 11. 1995 erfolgte Zustellung nicht wirksam gewesen sei.

II. Die gemäß §§ 519b Abs. 2 , 547 , 569 Abs. 1 , 577 ZPO statthafte, form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

Die am 16. 11. 1995 gegenüber den Prozeßbevollmächtigten der Kl. erfolgte Zustellung einer Urteilsausfertigung hat die Berufungsfrist für den Kl. wegen Fehlens der vierten Seite des landgerichtlichen Urteils vom 11. 10. 1995 nicht in Lauf gesetzt. Dies ist erst durch die rechtswirksame Zustellung einer vollständigen Urteilsausfertigung am 30. 11. 1995 geschehen. Demnach ist die am 2. 1. 1996 beim BerG eingegangene Berufung fristgerecht eingelegt worden.

Nach § 516 ZPO beginnt die Berufungsfrist mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefaßten Urteils. Um die Frist in Lauf zu setzen, ist es deshalb - wie schon vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Vereinfachung und Beschleunigung gerichtlicher Verfahren (Vereinfachungsnovelle) vom 3. 12. 1976 (BGBl. I, 3281) - nicht hinreichend, wenn lediglich eine abgekürzte Urteilsausfertigung (§ 317 Abs. 2 Satz 2 ZPO) zugestellt worden ist (vgl. BT-Drucks. 7/2729, S. 88, 79). Die geltende Regelung soll es dem Zustellungsempfänger ermöglichen, auf gesicherter Grundlage innerhalb der gesetzlichen Frist darüber zu entscheiden, ob er ein Rechtsmittel nach §§ 511 ff. ZPO einlegt oder einen Antrag auf Tatbestandsberichtigung nach § 320 ZPO oder auf Urteilsergänzung nach § 321 ZPO stellt (vgl. BGH VersR 1982, 70 (71) ; ZIP 1993, 74 (75)). Mit dieser Zielsetzung wäre es nicht vereinbar, wenn jede Urteilszustellung die genannten Fristen unabhängig von der Vollständigkeit der zugestellten Ausfertigung im Vergleich mit der Urschrift in Lauf setzen würde. Das gilt insbesondere für den Fall, daß bei der zugestellten Ausfertigung mehrere Seiten des Urteils fehlen, es sich dabei also nur noch um eine "leere Hülle" handelt.

Es ist jedoch auch zu berücksichtigen, daß es im Interesse der Rechtssicherheit offentsichtlicher, für jedermann leicht nachvollziehbarer Kriterien bedarf, anhand derer festgestellt werden kann, ob der fehlende Teil des Urteils so wesentlich ist, daß die Zustellung der unvollständigen Ausfertigung die genannten Fristen nicht in Lauf gesetzt hat. Von daher verbietet es sich, auf den Inhalt des fehlenden Teils abzustellen, auch wenn - wie hier - der zugestellte Teil insoweit Rückschlüsse zuläßt. Nicht gefolgt werden kann daher der Ansicht in der Kommentarliteratur, die die Zustellung des Urteils bei einer Unvollständigkeit der Gründe nur dann als unwirksam erachtet, wenn sich die Partei nicht mehr über die Einlegung eines Rechtsmittels schlüssig werden kann (Steins/Jonas/Roth, ZPO, 21. Aufl., § 170 Rdn. 34 ; MünchKommZPO/v. Feldmann, § 170 ZPO Rdn. 10). Zudem können auch die individuellen Fähigkeiten der betroffenen Partei - etwa unter dem Gesichtspunkt, ob diese anwaltlich vertreten sind - nicht maßgebend sein. Vielmehr handelt es sich auch insoweit um einen Vorgang, der nach einheitlichen Kriterien beurteilt werden muß (vgl., insbesondere zur notwendig einheitlichen Beurteilung für alle Prozeßparteien, BGH LM, § 170 ZPO Nr. 14).

Im Interesse einer klaren und praktikablen Handhabung ist daher bei der Beurteilung der Frage, ob die Unvollständigkeit der Urteilsausfertigung wesentlich und infolgedessen die Zustellung unwirksam ist, auf eine typisierende Betrachtungsweise abzustellen. Als typischerweise wesentlicher Mangel ist vor allem das Fehlen ganzer Seiten anzusehen. Eine Abgrenzung danach, wie hoch die Zahl der fehlenden Seiten absolut oder im Verhältnis zur Gesamtseitenzahl des Urteils ist, kommt nicht in Betracht, weil dies nicht im Einklang mit dem Ziel einer klaren, handhabbaren und für jedermann leicht nachvollziehbaren Regelung stünde. Grundsätzlich führt daher schon das Fehlen einer einzigen Seite zur Unwirksamkeit der Zustellung. Das gilt insbesondere dann, wenn der Zustellungsempfänger die Unvollständigkeit innerhalb der Rechtsmittelfrist gegenüber dem zustellenden Gericht rügt, wie das im vorliegenden Fall geschehen ist.

Diese Betrachtungsweise steht nicht in Widerspruch zu den tragenden Gründen des Beschlusses des VIII. Senats des BGH vom 23. 4. 1980 (VersR 1980, 771, 772), auf den sich auch das BerG gestützt hat. Während der hier zu entscheidende Fall dadurch gekennzeicht ist, daß der beim ersten Mal zustellten Urteilsausfertigung eine Seite fehlte, war die seinerzeit zugestellte Ausfertigung in äußerlich vollständiger Form gefolgt. Die Wirksamkeit der Zustellung war gleichwohl in Frage gestellt, weil vier Seiten der Urteilsgründe in der Ausfertigung für einen mit dem Streitstoff nicht Vertrauten zum Teil unleserlich und kaum verständlich waren. Allein für den - hier nicht zur Entscheidung stehenden - Fall einer alle Seiten der Urschrift aufweisenden Urteilsausfertigung ist also seinerseit auf deren Inhalt abgestellt und entschieden worden, daß eine wirksame Zustellung jedenfalls dann vorliegt, wenn der Ausfertigung nicht nur die Beschwer des Zustellungsempfängers, sondern auch für einen mit dem Streitstoff Vertrauten auch die tragenden Entscheidungsgründe zu entnehmen waren.

Vorinstanzen

OLG Karlsruhe

Rechtsgebiete

Verfahrens- und Zwangsvollstreckungsrecht

Normen

ZPO §§ 516, 552