Arbeitsunfall bei Betreuung des Enkelkindes

Gericht

BSG


Art der Entscheidung

Urteil


Datum

05. 07. 1994


Aktenzeichen

2 RU 24/93


Leitsatz des Gerichts

Zum Unfallversicherungsschutz bei täglicher Betreuung eines Enkelkindes während der Berufstätigkeit der Mutter.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Kl. bei der Betreuung ihres Enkels unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stand. Die unverheiratete Tochter der 1923 geborenen Kl. ist die Mutter eines 1982 geborenen nichtehelichen Sohnes. Zum Zeitpunkt der Geburt ihres Kindes war sie noch minderjährig. Um ihrer Tochter im Anschluß an die Schule eine Berufsausbildung zu ermöglichen, übernahm die Kl. im wesentlichen Umfang die Betreuung ihres Enkelkindes. Nach ihren Angaben verzichtete sie deshalb auf eine ihr angebotene Tätigkeit als Arzthelferin. Die Tochter der Kl. schloß die Berufsausbildung ab und ist seitdem berufstätig. Die Kl. setzte aus diesem Grunde die Betreuung des Kindes fort. Die Tochter wohnt mit dem Kind in einer gesonderten Einliegerwohnung in dem der Kl. gehörenden und auch von dieser bewohnten Haus. Die morgendliche Betreuung des Enkels durch die Kl. besteht darin, daß sie das Kind weckt, für den Kindergarten - mittlerweile die Schule - zurechtmacht, dort hinbringt und wieder abholt. Anschließend betreut sie das Kind, bis die Tochter von der Arbeit nach Hause kommt. Die Kl. erhält seit Aufnahme der Betreuungstätigkeit von ihrer Tochter 400 DM monatlich zuzüglich Verpflegungskosten als Gegenleistung für die Betreuung des Kindes. Am 17. 5. 1989 verletzte sich die Kl., als sie sich auf dem Weg befand, ihren Enkel vom Kindergarten abzuholen. Die bekl. Gemeindeunfallversicherungsverband lehnte eine Entschädigung des Unfalls als Arbeitsunfall ab.

Die Klage hatte in allen Instanzen Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

II... Arbeitsunfall ist nach § 548 I 1 RVO ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539 , 540 und 543 bis 545 RVO genannten und danach versicherten Tätigkeiten erleidet. Die Kl. war bei der Betreuung ihres Enkels gem. § 539 RVO unfallversichert. Dabei kann es für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits dahinstehen, ob zwischen der Kl. und ihrer Tochter ein echtes Beschäftigungsverhältnis i.S. von § 539 I Nr. 1 RVO und § 7 I SGB I bestanden hat. Aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des LSG ergibt sich der Versicherungsschutz jedenfalls aus § 539 II i.V. mit Abs. 1 Nr. 1 RVO. Zwar setzt die Anwendung des § 539 II RVO grundsätzlich voraus, daß keiner der Tatbestände des § 539 I RVO eingreift. § 539 II RVO hat insoweit ergänzende (subsidiäre) Bedeutung (BSGE 5, 168 (171) zu den inhaltsgleichen Vorschriften des § 537 Nrn. 1 und 10 RVO a.F.; Brackmann, Hdb. der Sozialversicherung, 11. Aufl., S. 470c I und 477; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 539 Anm. 99). Das schließt allerdings nicht aus, bei Zweifeln hinsichtlich des Vorliegens seiner Tatbestandsmerkmale die Anwendung des § 539 I Nr. 1 RVO offenzulassen, wenn jedenfalls die Voraussetzungen des § 539 II i.V. mit Abs. 1 Nr. 1 RVO vorliegen. Dies gilt zumindest für die Fälle, in denen eine mögliche Konkurrenz für die Zuständigkeit des Unfallversicherungsträgers nicht gegeben ist.

Die Kl. unterlag einem Versicherungsschutz nach § 539 II i.V. mit Abs. 1 Nr. 1 RVO. Nach § 539 II RVO sind gegen Arbeitsunfall Personen versichert, die wie ein nach § 539 I RVO Versicherter tätig werden. Die Anwendung der Vorschrift erfordert eine ernsthafte, dem Unternehmen zu dienen bestimmte und seinem wirklichen oder mutmaßlichen Willen entsprechende Tätigkeit, die ihrer Art nach sonst von Personen verrichtet werden könnte, die in einem dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnenden Beschäftigungsverhältnis stehen, und die unter solchen Umständen geleistet wird, daß sie einer Tätigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses ähnlich ist. Eines persönlichen oder wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisses bedarf es beim Tätigwerden nach § 539 II i.V. mit Abs. 1 Nr. 1 RVO nicht (BSGE 5, 168 (171) = NJW 1958, 158; BSGE 17, 211 (216); BSG, SozR 2200§ 539 Nr. 123; BSG, USK 83194; HV-Info 1994, 413; Brackmann, S. 475m ff. m.w. Nachw.; Ricke, in: Kasseler Komm, § 539 RVO Rdnrn. 108ff.). Dabei sind die gesamten Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu beachten, insbesondere Art, Umfang und Zeitdauer der verrichteten Tätigkeiten sowie die Stärke der verwandtschaftlichen Beziehungen (BSG, SozR 3-2200§ 539 Nr. 25).

Bei der Betreuung des Enkels durch die Kl. handelte es sich angesichts der Dauer und des Umfangs um eine ernsthafte Tätigkeit, die dem in Betracht kommenden Unternehmen - dem Haushalt der Tochter - erheblich diente. Die Tätigkeit entsprach dem wirklichen Willen der Tochter und konnte ihrer Art nach auch von einer dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnenden Person verrichtet werden, nämlich einem Kindermädchen oder einer Tagesmutter. Dabei ist es unerheblich, ob die Tochter bei Ausfall der Kl. tatsächlich eine solche Person beschäftigt hätte. Es kommt nicht darauf an, ob solche Personen von dem Unternehmen üblicherweise beschäftigt werden; es genügt, daß sie nach Art der Tätigkeit beschäftigt werden könnten (s. BSG, SozR 2200§ 539 Nr. 55; Ricke, in: Kasseler Komm., § 539 RVO Rdnr. 111). Für den Versicherungsschutz nach § 539 II RVO ist auch unerheblich, ob die Kl. wegen der Betreuung ihres Enkels auf eine andere Beschäftigungsmöglichkeit tatsächlich verzichtet hat. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats kommt es für den Unfallversicherungsschutz nämlich auf das vom LSG im einzelnen gewürdigte Gesamtbild der ausgeübten Tätigkeit an (s. BSG, USK 83194). Die von der Revision insoweit erhobene Verfahrensrüge ist damit unbegründet.

Entgegen der Auffassung der Revision war die Betreuungstätigkeit der Kl. einer Tätigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses zumindest ähnlich. Die Kl. hat nicht, wie der Bekl. meint, die Erziehung des Enkels als eigene Aufgabe wahrgenommen und somit unternehmerähnlich gehandelt, sondern arbeitnehmerähnlich. Hierbei kann jedoch nicht - wie das LSG ausgeführt hat - maßgebend auf das fehlende Unternehmerrisiko der Kl. abgestellt werden. Entscheidend ist vielmehr die konkrete Ausgestaltung der Betreuung. In dem - auch von dem Bekl. angeführten - Urteil vom 8. 12. 1983 (USK 83194) hat der Senat den Versicherungsschutz für eine Frau verneint, die ihr Patenkind eigenverantwortlich und selbständig vier Wochen lang im eigenen Haushalt betreute und während dieser Betreuungstätigkeit einen Unfall erlitt. Im Unterschied dazu hat im vorliegenden Fall die Kl. ihren Enkel nicht in den eigenen Haushalt aufgenommen. Das Kind wohnt vielmehr nach den insoweit nicht angegriffenen und somit bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 LSG) nach wie vor bei seiner Mutter. Es kann auch durchaus unterstellt werden, daß im Unfallzeitpunkt ein besonders enges Großmutter-Enkel-Verhältnis bestand. Die von der Revision besonders betonte Handlungstendenz der Kl., die Betreuung ihres Enkelkindes zu übernehmen und durchzuführen, war nach der Feststellung des LSG nicht auf die eigenständige Erziehung des Enkels, sondern auf die Entlastung der Tochter gerichtet, um dieser eine Berufsausbildung und später eine Berufstätigkeit zu ermöglichen. Die Kl. handelte daher nicht für ihren eigenen Haushalt. Mit ihrer Tätigkeit wollte sie vielmehr in erster Linie dem Haushalt ihrer Tochter helfen.

Der Versicherungsschutz entfällt auch nicht - wie die Revision meint - wegen der engen Verwandtschaft zwischen der Kl. und ihrer Tochter. Nach der Rechtsprechung des BSG schließen auch Verwandtschaft bei Freundschafts- und Gefälligkeitsdiensten einen Versicherungsschutz nach § 539 II RVO nicht von vornherein aus (BSG, SozR 2200§ 539 Nrn. 55 und 134; SozR 3-2200 § 657 Nr. 1; Brackmann, S. 475u/v m.w. Nachw.). Ein Versicherungsschutz nach dieser Vorschrift ist aber nicht gegeben, wenn die unter Verwandten vorgenommene Gefälligkeitshandlung im wesentlichen durch die familiären Beziehungen zwischen den Verwandten geprägt ist (BSG, SozR 2200§ 539 Nr. 134; BSGInfo 1991, 2234). Das ist dann der Fall, wenn es sich lediglich um Gefälligkeitshandlungen handelt, die ihr gesamtes Gepräge von den familiären Bindungen zwischen Angehörigen erhalten. Je enger die verwandtschaftliche Beziehung ist, um so eher scheint die Annahme gerechtfertigt, daß es sich um Gefälligkeitsdienste handelt, die ihr Gepräge allein durch die familiären Beziehungen erhalten und deshalb nicht mehr als arbeitnehmerähnlich angesehen werden können (BSG, SozR 2200§ 539 Nr. 134). Dabei sind neben der Stärke der verwandtschaftlichen Beziehung die gesamten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere Art, Umfang und Zeitdauer der vorgesehenen Tätigkeit.

Hiervon ausgehend hat der Senat bisher einen Versicherungsschutz nach § 539 II RVO verneint, soweit es sich um die Betreuung von Kindern durch Verwandte handelte (BSG, SozR 2200§ 539 Nr. 43; USK 83194). Der vorliegende Fall unterscheidet sich aber von den bisher entschiedenen allein schon dadurch, daß es dort jeweils um eine vorübergehende Beaufsichtigung (kurzzeitige Beaufsichtigung während einer Besichtigung bzw. unentgeltliche Betreuung eines Patenkindes während einer vierwöchigen Urlaubsreise der Eltern) ging, während die Tätigkeit der Kl. auf nicht vergleichbar lange Zeit angelegt war. Das LSG hat aufgrund seiner tatsächlichen Feststellungen zutreffend entschieden, daß die Betreuungstätigkeit der Kl. nach ihrer Art - nämlich durch ihre Zweckbestimmung, hauptsächlich der Erwerbstätigkeit der Tochter zu dienen - und nach der sich über viele Jahre erstreckenden Dauer das auch unter Verwandten Übliche sprengt; sie kann nicht mehr als rein familiäre Hilfeleistung angesehen werden. Die hiergegen erhobenen Verfahrensrügen der Revision greifen nicht durch. (Wird ausgeführt.)

Auch der Ansicht des Bekl., Fälle wie der vorliegende seien weitverbreitet und allgemein üblich, kann in dieser allgemeinen Form nicht gefolgt werden. Richtig ist zwar, daß die Zahl der alleinerziehenden Mütter, die auf eine Erwerbstätigkeit angewiesen sind, stetig zugenommen hat. Daraus mag auch ein wachsendes Bedürfnis nach Mithilfe von Verwandten resultieren. Dem läßt sich aber nicht schon entnehmen, daß „in der Praxis Großmütter tausendfach eine derartige Betreuung vornehmen“. Die Revision berücksichtigt nicht ausreichend, daß diese Arbeit häufig im Rahmen der familiär geprägten Beziehungen zu dem Enkelkind geleistet wird und nicht nach Art und einem Umfang wie hier gegen - wenn auch geringes - Entgelt deshalb erfolgt, um der Mutter des Kindes eine Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Die vom Bekl. erwähnte Diskussion um den Anspruch eines jeden Kindes auf einen Kindergartenplatz weist eher auf das Gegenteil hin. Das verstärkte Bedürfnis nach mehr Kindergartenplätzen entsteht auch, weil eine familiäre Betreuung häufig nicht möglich ist. Eine Betreuung durch die Großmutter scheidet zudem vielfach schon aus, soweit diese selbst berufstätig ist. Berufstätigkeit von Frauen ist heute in der „Großelterngeneration“ keine Ausnahme mehr. Häufig entfällt die Möglichkeit einer solchen Betreuung wegen der örtlichen Entfernungen. Schließlich ist bei weitem nicht jede Großmutter angesichts des Zerfalls der Großfamilie und des gesteigerten Freizeitbedürfnisses und -angebots bereit, sich der Betreuung von Enkelkindern zu widmen. So mag es zwar sein, daß „in Tausenden von Fällen“ Kinder gelegentlich von den Großeltern betreut werden, täglich bei der Großmutter zu Mittag essen usw. Eine allumfassende Betreuung aber wie im vorliegenden Fall sprengt nach Art und Dauer den Rahmen des Üblichen. Nach alledem ist die rechtliche Wertung des LSG nicht zu beanstanden ...

Diesem Ergebnis steht auch nicht der vom Bekl. dargelegte Grundgedanke in § 20 IV SGB IX (i.d.F. des Pflegeversicherungsgesetzes vom 26. 5. 1994 - BGBl I, 1013) entgegen. Danach besteht bei Personen, die mindestens zehn Jahre nicht in der sozialen Pflegeversicherung oder der gesetzlichen Krankenversicherung versicherungspflichtig waren, und eine dem äußeren Anschein nach versicherungspflichtige Beschäftigung von untergeordneter wirtschaftlicher Bedeutung aufnehmen, die widerlegbare Vermutung, daß eine die Versicherungspflicht begründende Beschäftigung nach Abs. 1 Nr. 1 dieser Vorschrift tatsächlich nicht ausgeübt wird. Wollte man diese Regelung über die allgemeine Pflegeversicherung hinaus als allgemeinen Grundsatz ansehen, so wäre andererseits gerade für den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung § 539 I Nr. 19 i.d.F. des Pflegeversicherungsgesetzes (Art. 7 Nr. 1) heranzuziehen, wonach Pflegepersonen zum unfallversicherten Personenkreis gehören; das sind nach § 19 SGB XI die Personen, die nicht erwerbsmäßig einen Pflegebedürftigen wenigstens 14 Stunden wöchentlich in seiner häuslichen Umgebung pflegen. Den Feststellungen des LSG ist zu entnehmen, daß die Betreuungstätigkeit der Kl. für ihr Enkelkind diesen Zeitraum bei weitem überschritt.

Vorinstanzen

LSG Rheinland-Pfalz

Rechtsgebiete

Sozialrecht

Normen

RVO §§ 539 I Nrn. 1, 19, II; SGB XI § 20 IV 4; SGG §§ 62, 103, 106, 128