Testiermöglichkeiten Schreib- und Sprechunfähiger

Gericht

BVerfG


Art der Entscheidung

Beschluss über Verfassungsbeschwerde


Datum

19. 01. 1999


Aktenzeichen

1 BvR 2161/94


Leitsatz des Gerichts

Der generelle Ausschluß schreib- und sprechunfähiger Personen von der Testiermöglichkeit in den §§ 2232 , 2233 BGB, § 31 BeurkG verstößt gegen die Erbrechtsgarantie desArt. 14 I GG sowie gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 I GG und das Benachteiligungsverbot für Behinderte in Art. 3 III 2 GG.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Parteien des Ausgangsverfahrens streiten um die Erbschaft des 1905 geborenen und 1989 verstorbenen S. Sieben Jahre vor seinem Tode erlitt dieser einen Schlaganfall und war seitdem gelähmt. Er konnte weder sprechen noch schreiben, wohl aberhören und sich durch Zeichen verständigen. In dieser Zeit wurde er von der Bekl. des Ausgangsverfahrens gepflegt. Sie übernahm auch die Gebrechlichkeitspflegschaft. Am 17. 7. 1982 gab S eine notarielle Erklärung über seinen letzten Willen ab. Neben dem beurkundendenNotar waren ein zweiter Notar als Zeuge und ein Arzt als Vertrauensperson anwesend. Beide Notare und der behandelnde Arzt kamen zu der Überzeugung, daß S testierfähig sei und die Bekl. zur Alleinerbin einsetzen wolle. Im Ausgangsverfahren begehrte eine Tochter des Erblassers die Feststellung, daß die Bekl. nicht testamentarische Alleinerbin geworden sei. Sie berief sich darauf, daß das Testament vom 17. 7.1982 formunwirksam und daß sie als nahe Verwandte gesetzliche Miterbin geworden sei. Das LG gab der Klage statt (NJW-RR 1993, 969). Die dagegen eingelegte Berufung wies das OLG Hamm zurück(ZEV 1995, 261). Im Berufungsurteil wurde die Revision nicht zugelassen. Das Berufungsurteil wurde der Bekl. des Ausgangsverfahrens am 19. 10. 1994 zugestellt. Sie verstarb am 28. 10. 1994 und wurde von ihren Familienangehörigen, den Bf., als gesetzlichen Erben beerbt.

Auf ihre Verfassungsbeschwerde hin entschied das BVerfG:

1. Die §§ 2232 , 2233 BGB i.d.F. des Beurkundungsgesetzes vom28. 8. 1969 (BGBl I, 1513) und § 31 dieses Gesetzes sind mit Art. 3 I und III 2 sowie mit Art. 14 I 1 GG unvereinbar, soweit sie testierfähigen Personen, die weder schreiben noch sprechen können, die Möglichkeit der Testamentserrichtung verwehren . . .

4. Bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Neuregelung können Personen, die weder schreiben noch sprechen können, aber testierfähig sind, ein notarielles Testament i.S. des § 2231 Nr. 1 BGB nachMaßgabe der Entscheidungsgründe errichten.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

B. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Auf die Erbrechtsgarantie kann sich neben dem Erblasser auch der begünstigte Erbe, jedenfalls vom Eintritt des Erbfalls an, berufen. Andernfalls würde der grundrechtliche Schutz desErbrechts mit dem Tode des Erblassers erlöschen und damit weitgehend entwertet werden (vgl. BVerfGE 91, 346 [360]). In gleicher Weise sind auch die Erbeserben von Art. 14 I GG jedenfalls dann geschützt, wenn sie ein Verfahren des Erben um dessen Erbenstellung fortsetzen. Sonst wäre die Durchsetzung derverfassungsrechtlichen Erbrechtsgarantie in einer großen Zahl von Fällen vom Zufall abhängig. Stirbt der mögliche Erbe - wie hier - nach Zugang der letztinstanzlichen Entscheidung, sinddie Erbeserben somit zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde berechtigt (vgl. BVerfGE 17, 86 [91]).

C. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.

I. Bei der verfassungsgerichtlichen Prüfung bilden die von den Bf. als verletzt gerügten Grundrechte aus Art. 3 I undArt. 14 I GG den Prüfungsmaßstab. Das Verbot der Benachteiligung Behinderter scheidet als Kontrollmaßstab aus, soweit es um die Entscheidung des OLG geht. Denn Art. 3 III 2 GG ist erst nach Zustellung dieser Entscheidung in Kraft getreten. Hingegen kann Art. 3 III 2 GG bei der Überprüfung der dem Urteil zugrunde liegenden und mittelbar angegriffenen gesetzlichen Regelung nicht unberücksichtigt bleiben.Wenn sich die als verletzt gerügte Grundrechtsnorm nach der fachgerichtlichen Rechtsanwendung ändert, besteht regelmäßig ein Allgemeininteresse an der Klärung der Frage, ob das Gesetz aufgrund der Grundgesetzänderung verfassungswidrigund damit rechtsunwirksam geworden ist.

II. Die Erbrechtsgarantie des Art. 14 I 1 GG gewährleistet das Erbrecht als Rechtsinstitut und als Individualrecht (vgl. BVerfGE 67, 329 [340] = NJW 1985, 1455; BVerfGE 91, 346[358] = NJW 1995, 2977).

1. Bestimmendes Element der Erbrechtsgarantie ist die Testierfreiheit, ein auf natürliche Personen zugeschnittenes Freiheitsrecht. Sie dient ebenso wie das Eigentumsgrundrecht und der in Art. 2 I GG verankerte Grundsatz der Privatautonomie der Selbstbestimmung des einzelnen im Rechtsleben (vgl.BVerfGE 89, 214 [231] = NJW 1994, 36; BVerfGE 91, 346 [358] = NJW 1995, 2977). Die Testierfreiheit als Bestandteil der Erbrechtsgarantie umfaßt die Befugnis des Erblassers, zuLebzeiten einen von der gesetzlichen Erbfolge abweichenden Übergang seines Vermögens nach seinem Tode an einen oder mehrere Rechtsnachfolger anzuordnen, insbesondere einengesetzlichen Erben von der Nachlaßbeteiligung auszuschließen und wertmäßig auf den gesetzlichen Pflichtteil zu beschränken (vgl. BVerfGE 58, 377 [398] = NJW 1982, 565).

Aus dem Charakter der Testierfreiheit als individuelles Selbstbestimmungsrecht im wirtschaftlichen Bereich lassen sich Folgerungen für den verfassungsrechtlichen Gehalt derErbrechtsgarantie ziehen. Es werden nur selbstbestimmte und selbstverantwortete letztwillige Erklärungen von der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Testierfreiheit geschützt. Selbstbestimmung setzt Selbstbestimmungsfähigkeit voraus.Nur wenn der einzelne in der Lage ist, selbstbestimmt zu handeln und im wirtschaftlichen Bereich eigenverantwortliche Entscheidungen zu treffen, können seine letztwilligen Verfügungen grundrechtlichen Schutz beanspruchen. Der einzelne muß demzufolge die für die Testamentserrichtung erforderliche Einsichts- und Handlungsfähigkeit besitzen. An dieserSelbstbestimmungsfähigkeit kann es etwa bei Kindern und Jugendlichen fehlen (vgl. BVerfGE 59, 360 [382] = NJW 1982, 1375; BVerfGE 72, 122 [137] = NJW 1986, 3129 für das Eltern-Kind-Verhältnis). An der für die Grundrechtsausübung im Rahmen des Art. 14 I 1 GG notwendigen Selbstbestimmungsfähigkeit kann es aber auch bei Erwachsenen mangeln,wenn der Erblasser aufgrund geistiger oder körperlicher Gebrechen zu eigenverantwortlicher Testamentserrichtung nicht in der Lage ist.

2. Nach Art. 14 I 2 GG ist es dem Gesetzgeber überlassen, Inhalt und Schranken des Erbrechts zu bestimmen (vgl. BVerfGE 91, 346 [360] = NJW 1995, 2977). Erst durch die gesetzliche Ausgestaltung wird das Erbrecht des einzelnen klar umrissen und zu einem praktisch durchsetzbaren Recht. Die einfachrechtliche Ausgestaltung verschafft den notwendig abstrakten Grundprinzipien des Erbrechts konkrete Gestalt.Demzufolge ist es Sache des Gesetzgebers, das im Grundsatz der Testierfreiheit angelegte Selbstbestimmungsprinzip zu konkretisieren. Er muß festlegen, welche Anforderungen imeinzelnen an die für eine eigenverantwortliche Testamentserrichtung erforderliche Einsichtsfähigkeit zu stellen sind und welches Maß an Handlungsfähigkeit für die Testamentserrichtung nötig ist.

Zur Konkretisierung des Prinzips der Testierfreiheit muß der Gesetzgeber Vorschriften über die zulässigen Testamentsformen und über die Anforderungen an die Testierfähigkeit erlassen. Dabei kommt ihm ein Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Frage zu, welche Personengruppen die erforderlicheSelbstbestimmungsfähigkeit besitzen. Er kann Personen, denen die erbrechtliche Selbstbestimmungsfähigkeit typischerweise fehlt, von der Testamentserrichtung ausschließen. Beispielsweise kann er bestimmen, ab welchem Alter Jugendliche testierfähig sind (vgl. § 2229 I BGB) und in welchen Fällen die geistige Testierfähigkeit fehlt (vgl. § 2229 IV BGB). Bei derKonkretisierung der verfassungsrechtlich gewährleisteten Testierfreiheit kann der Gesetzgeber auch die Einhaltung bestimmter Formen letztwilliger Verfügungen zwingend vorschreiben. Dabei kann er für unterschiedliche Situationen und Personengruppen jeweils eigene Testamentsformen schaffen. Es bleibt auch seiner Wahl überlassen, ob er die Fälle mangelnder Selbstbestimmungsfähigkeit unmittelbar durch Vorschriften über die Testierfähigkeit oder mittelbar durch die Einführung zwingender Formvorschriften regelt.

3. Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers ist allerdingsnicht unbeschränkt. Der Gesetzgeber muß bei der näheren Ausgestaltung des Erbrechts den grundlegenden Gehalt der verfassungsrechtlichen Gewährleistung wahren und sich im Einklang mit allen anderen Verfassungsnormen halten (vgl. BVerfGE 67, 329 [340] = NJW 1985, 1455). Dazu gehören auch der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 I GG und der spezielle Gleichheitssatz des Art. 3 III 2 GG. Er muß bei der Gestaltung derFormvorschriften für Gleichbehandlung sorgen und darf insbesondere Behinderte nicht benachteiligen. Ferner darf er von Elementen des Erbrechts, die Bestandteile der verfassungsrechtlichen Gewährleistung sind, nur in Verfolgung eines verfassungsrechtlich legitimen Zwecks und nur unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit abweichen (vgl. BVerfGE 91, 346 [360] = NJW 1995, 2977). Der Gesetzgeber darf das in der Testierfreiheit enthaltene Selbstbestimmungsprinzip zwar konkretisieren, nicht aber unverhältnismäßig beschränken. Allerdings steht ihm auch bei der Regelung von Beschränkungen einEinschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Das BVerfG hat diesen Spielraum bei der Prüfung an Hand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu achten. Es kann erst einschreiten, wenn eine vom Gesetzgeber gewählte Maßnahme „schlechthin ungeeignet„ (BVerfGE 47, 109 [117] = NJW1978, 933), „eindeutig„ nicht erforderlich (BVerfGE 53, 135 [145] = NJW 1980, 1565) oder auch bei Anerkennung eines Bewertungsspielraums unzumutbar ist (vgl. BVerfGE 77, 84 [111f.] = NJW 1988, 1195).

III. Gemessen an diesen Grundsätzen verstößt der generelleAusschluß schreibunfähiger Stummer von jeder Testiermöglichkeit gegen Art. 14 I sowie gegen Art. 3 I und III 2 GG. Menschen, die in geistiger Hinsicht zu einer eigenverantwortlichen letztwilligen Verfügung in der Lage sind, dürfen nicht allein deswegen an der Testierung von Rechts wegen gehindertwerden, weil sie aus körperlichen Gründen nur über eingeschränkte Verständigungsmöglichkeiten verfügen.

1. Der Ausschluß schreibunfähiger Stummer von jeder Testiermöglichkeit stellt eine unverhältnismäßige Beschränkung der von Art. 14 I GG gewährleisteten Erbrechtsgarantie dar. Die Anwendung des Formzwangs dient hier dazu, schreibunfähige Stumme schlechthin von der Testamentserrichtung auszuschließen. Die schreibunfähigen Stummen sollen nach demWillen des Gesetzgebers kein Testament errichten können, weil eine zuverlässige Verständigung mit ihnen nicht möglich sei und weil ihnen das erforderliche Verständnis für die Testamentserrichtung fehle (Motive zu dem ersten Entwurf einesBGB für das Dt. Reich, Amtl. Ausgabe, 1896, Bd. 5, S. 251, 276; ähnl. Mugdan, Die gesamten Materialien zum BGB für das Dt. Reich, 1899, Bd. 5, S. 146f.). Die Anwendung derFormvorschriften auf schreibunfähige Stumme soll somit einerseits der Rechtssicherheit und andererseits dem Schutz nicht selbstbestimmungsfähiger Menschen dienen. Der Gesetzgeber verfolgt damit legitime Gemeinwohlziele.

Der Gesetzgeber konnte den Formzwang auch als ein geeignetes Mittel zur Erreichung dieser Gemeinwohlziele ansehen. Hingegen konnte er nicht davon ausgehen, daß das Formerfordernis bei schreibunfähigen Stummen in jedem Fall zur Erreichung der Gemeinwohlziele erforderlich ist. Der mit demFormzwang bewirkte Testierausschluß stellt sich vielmehr nur in den Fällen als erforderlich dar, in denen sich die vom Gesetzgeber zugrunde gelegte Sachverhaltsannahme als vertretbar erweist, daß eine hinreichend gesicherte Verständigung mitschreibunfähigen Stummen nicht möglich ist oder daß ihnen das für die Testamentserrichtung benötigte geistige Verständnis fehlt.

Das BVerfG kann zwar bei der Beurteilung von Tatsachen und Prognosen nicht seine Sachverhaltsannahme an die Stelleder Tatsachensicht des Gesetzgebers setzen. Vielmehr muß es beachten, daß dem Gesetzgeber bei der Beurteilung komplexer Sachverhalte ein Beurteilungsspielraum zusteht (vgl. BVerfGE50, 290 [332f.] = NJW 1979, 699; BVerfGE 88, 203 [262] = NJW 1993, 1751). Anders verhält es sich jedoch, wenn die Annahmen oder Prognosen des Gesetzgebers sich als unzutreffend herausgestellt haben. Im vorliegenden Fall ist die Annahme des Gesetzgebers, daß es allen schreibunfähigen Stummenan der für die Testamentserrichtung erforderlichen Handlungs- und Einsichtsfähigkeit mangelt, unzutreffend. Wie das vorliegende Verfahren zeigt, gibt es durchaus schreib- und sprechunfähige Personen, die über die für eine Testamentserrichtung erforderliche intellektuelle und physische Selbstbestimmungsfähigkeit verfügen. Der Ausschluß der Testiermöglichkeit ist demzufolge hier nicht zum Schutz vor fremdbestimmten oder unverantwortlichen Rechtsgeschäften erforderlich. Bei selbstbestimmungsfähigen Personen sind als milderes Mittel - wie sich aus § 24 BeurkG ergibt - Beurkundungsverfahren denkbar, die zu einer zuverlässigen Feststellung des letzten Willens führen. Durch die Heranziehung weiterer neutraler Personen kann in ausreichendem Maße kontrolliert werden, ob der beurkundende Notar die Testierfähigkeit des schreib- und sprechunfähigen Erblassers richtig einschätzt und seine Willenserklärungen zutreffend deutet. Eineschreib- und sprechunfähige Person kann selbst der notariellen Beurkundung bedürfende Rechtsgeschäfte unter Lebenden nach Maßgabe des § 24 BeurkG uneingeschränkt vornehmen, dagegen keinerlei Verfügungen von Todes wegen treffen. Zwischen Rechtsgeschäften unter Lebenden und Verfügungen vonTodes wegen bestehen aber keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht, daß schreibunfähige Stumme im einen Fall am Rechtsleben im wesentlichen beteiligt und im anderenFall nahezu ausnahmslos ausgeschlossen werden können.

Dagegen kann auch nicht eingewendet werden, daß die bei einer Protokollierung nach Maßgabe des § 24 BeurkG gewonnene Rechtssicherheit für testamentarische Verfügungen nicht ausreiche. Es ist zwar zutreffend, daß im Erbrecht ein höheresBedürfnis nach Rechtssicherheit in bezug auf die Echtheit und Authentizität einer Willenserklärung besteht als bei Rechtsgeschäften unter Lebenden. Denn nach Eintritt des Erbfalls kann der rechtsgeschäftliche Wille des Erblassers mit seiner Hilfenicht mehr ermittelt werden. Dem bei erbrechtlichen Verfügungen im besonderen Maße bestehenden Bedürfnis nach Rechtssicherheit kann der Gesetzgeber aber dadurch Rechnung tragen, daß er - über die in §§ 22 , 24 BeurkG vorgesehene Mitwirkung einer Vertrauensperson und eines Zeugen oderzweiten Notars hinaus - beispielsweise an die Auswahl der heranzuziehenden neutralen Personen besondere Anforderungen stellt. Er hat etwa die Möglichkeit, als Zeugen ausnahmslos nur einen zweiten Notar zuzulassen. Ebenso kann er zur Beurteilung der Testierfähigkeit eines schreib- und sprechunfähigen Erblassers die Beiziehung eines Arztes zwingend vorschreiben. Aufgrund dieser Möglichkeiten läßt sich das Irrtums- und Kommunikationsrisiko so weit reduzieren, daß dasArgument der Rechtssicherheit den völligen Ausschluß schreib- und sprechunfähiger Personen von der Testierung nicht zu rechtfertigen vermag.

2. Die geltenden Formvorschriften für letztwillige Verfügungen verletzen auch den allgemeinen Gleichheitssatz desArt. 3 I GG. Aus dem Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. Wirken sich Regelungen, wie die testamentarischen Formvorschriften, auf die Wahrnehmung von Grundrechten nachteilig aus, prüft das BVerfG im einzelnen nach, ob für die vorgenommene Differenzierung Gründevon solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleichen Rechtsfolgen rechtfertigen können (vgl. BVerfGE 91, 346 [362f.] = NJW 1995, 2977; BVerfGE 88, 87 [96f.] = NJW 1993, 1517).

Nach diesen Maßstäben ist es nicht gerechtfertigt, daß einverheirateter oder verlobter schreibunfähiger Stummer gem. § 2276 II BGB im Rahmen eines Ehe- und Erbvertrags letztwillige Verfügungen treffen kann, ein alleinstehender schreibunfähiger Stummer hingegen nicht. Für eine derart unterschiedliche Behandlung verheirateter und unverheirateter schreibunfähiger Stummer bestehen keine Gründe von solcherArt und solchem Gewicht, daß den einen im Rahmen von miteinander verbundenen Ehe- und Erbverträgen eine Testiermöglichkeit eröffnet wird, während die anderen davon ausgeschlossen werden. Zwar mag das inhaltliche Schwergewicht von Ehe- und Erbverträgen häufig im Bereich der eherechtlichen Regelungen liegen, so daß der größere Sachzusammenhang mit den Rechtsgeschäften unter Lebenden für die Übernahme der in diesem Bereich geltenden Formerleichterungen spricht. Dieser Grund ist aber nur geeignet, eine unterschiedliche Behandlung in bezug auf das „Wie„, nicht aber auch in bezug auf das „Ob„ der Testierung zu rechtfertigen. Denn es gibtkeinen einleuchtenden Grund dafür, daß ein verheirateter schreibunfähiger Stummer über den Weg des § 2276 II BGB testieren kann, ein Unverheirateter hingegen nicht.

3. Die erbrechtlichen Formvorschriften verletzen auch denbesonderen Gleichheitssatz des Art. 3 III 2 GG. Das Verbot der Benachteiligung Behinderter wirkt nach dem Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers auf das Zivilrecht ein undzwingt zur Überprüfung privatrechtlicher Gesetze (vgl. BT-Dr 12/6323, S. 12). Demnach dürfen auch die im Erbrecht geltenden Formerfordernisse für letztwillige Verfügungen nicht zu einer Benachteiligung Behinderter führen.

Von der Ausschlußwirkung der erbrechtlichen Formvorschriften sind zum großen Teil behinderte Menschen betroffen. Zwar können auch nichtbehinderte Menschen kurzfristiginfolge eines Unfalls oder einer schweren Erkrankung stumm und schreibunfähig sein. Die Sprech- und Schreibunfähigkeit ist aber häufig auch Folge einer Behinderung, also Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oderseelischen Zustand beruht (vgl. BVerfGE 96, 288 [301] = NJW 1998, 131). Wie der vorliegende Fall zeigt, werden insbesondere Menschen von der Testamentserrichtung ausgeschlossen, die aufgrund einer Lähmung dauerhaft körperbehindert sind.

Darin liegt eine unzulässige Benachteiligung Behinderter. Benachteiligung bedeutet nachteilige Ungleichbehandlung(vgl. BVerfGE 96, 288 [302] = NJW 1998, 131; BT-Dr 12/6323, S. 12). Behinderte werden zum Beispiel benachteiligt, wenn ihre Lebenssituation im Vergleich zu derjenigen nicht behinderter Menschen durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird, die ihnen Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten, welche anderen offenstehen (vgl.BVerfGE 96, 288 [302f.] = NJW 1998, 131). Da die gesetzlichen Formerfordernisse für letztwillige Verfügungen dazu führen, daß schreib- und sprechunfähige Behinderte in ihren Testiermöglichkeiten erheblich beeinträchtigt werden, liegt eine Verschlechterung der Lebenssituation Behinderter im Vergleich zur Lebenssituation Nichtbehinderter vor.

Diese Ungleichbehandlung ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Zwar kann das Benachteiligungsverbot des Art. 3 III 2 GG nicht ohne jede Einschränkung gelten. Fehlen einerPerson gerade aufgrund ihrer Behinderung bestimmte geistige oder körperliche Fähigkeiten, die unerläßliche Voraussetzung für die Wahrnehmung eines Rechts sind, liegt in der Verweigerung dieses Rechts kein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot. Eine rechtliche Schlechterstellung Behinderter ist danach jedoch nur zulässig, wenn zwingende Gründe dafür vorliegen (vgl. BT-Dr 12/6323, S. 12, und zu Art. 3 III GG a.F.BVerfGE 85, 191 [206f.] = NJW 1992, 964). Die nachteiligen Auswirkungen müssen unerläßlich sein, um behinderungsbezogenen Besonderheiten Rechnung zu tragen (vgl. BT-Dr 12/8165, S. 29). Solche behinderungsbedingten Besonderheiten liegen bei der Testamentserrichtung aber nur in den Fällen vor,in denen schreib- und sprechunfähige Personen nicht die dafür erforderliche Einsichts- oder Handlungsfähigkeit besitzen. Besitzen schreib- und sprechunfähige Behinderte indes die nötige intellektuelle und physische Selbstbestimmungsfähigkeit, werden sie durch die gesetzlichen Formvorschriften über die Testamentserrichtung in unzulässiger Weise benachteiligt.

D. 1. Die §§ 2232 , 2233 BGB, 31 BeurkG lassen sich nichtverfassungskonform interpretieren. Die verfassungskonforme Auslegung findet ihre Grenzen dort, wo sie zu dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde (vgl. BVerfGE 90, 263 [274f.] = NJW1994, 2575; BVerfGE 95, 64 [93] = NJW 1997, 722; st. Rspr.). Die Vorschriften über die Testamentserrichtung sind in der hier relevanten Frage eindeutig. Sie verlangen entweder eine mündliche Äußerung des Testierenden oder seine eigenhändigeschriftliche Erklärung. Selbst wenn man das in § 31 BeurkG aufgestellte Erfordernis des eigenhändigen Schreibens entsprechend der Anregung in der Stellungnahme des BGH weiter auslegen wollte als im Rahmen des § 2247 BGB und nicht nur mit der Hand, sondern auch mit dem Mund, dem Fuß, mit Schablonen oder Maschinen geschriebene Erklärungen zulassen würde,könnte ein Testament jedenfalls nicht durch reine Gebärden oder Bewegungszeichen errichtet werden. Denn damit würde die vom Gesetzeswortlaut gezogene Grenze überschritten. Diezuletzt genannte Äußerungsform würde die in § 31 BeurkG enthaltenen Tatbestandsmerkmale „in die Niederschrift oder auf ein besonderes Blatt schreiben„ eindeutig nicht mehr erfüllen.

2. Der Verstoß gegen Art. 3 I und III 2 sowie gegen Art. 14 I GG führt nicht zur partiellen Nichtigkeit der angegriffenenRegelungen, denn damit würde schreib- und sprechunfähigen Personen eine Testiermöglichkeit nicht eröffnet. Außerdem kann der Gesetzgeber seiner aus Art. 14 I 2 GG folgendenPflicht, für derart behinderte Menschen Testamentsformen zur Verfügung zu stellen, auf verschiedene Weise nachkommen. Unter diesen Voraussetzungen stellt das BVerfG grundsätzlich nur fest, daß die gesetzliche Regelung verfassungswidrig und der Gesetzgeber verpflichtet ist, die Rechtslage mit der Verfassung in Einklang zu bringen (vgl. BVerfGE 22, 349[360ff.] = NJW 1968, 539; BVerfGE 87, 163 [177f.]).

3. Die Formvorschriften der §§ 2232 , 2233 BGB, § 31 BeurkG dürfen fortan nicht mehr auf letztwillige Verfügungen schreib- und sprechunfähiger Personen, die geistig und körperlich zu einer Testamentserrichtung in der Lage sind, angewendet werden, soweit sie diese Personen von jeder Testierung ausschließen. Bis zu einer gesetzlichen Neuregelungkönnen schreib- und sprechunfähige Personen künftig mit notarieller Hilfe letztwillige Verfügungen (Testamente, Erbverträge etc.) errichten. Ihr letzter Wille kann für eine Übergangszeit in der Weise notariell beurkundet werden, wie es bei rechtsgeschäftlichen Erklärungen unter Lebenden nachden Vorschriften des Zweiten Abschnitts des Beurkundungsgesetzes geregelt ist. Zu beachten sind insbesondere die §§ 22 bis 26 BeurkG. Darüber hinaus ist den Besonderheiten der Beurkundung letztwilliger Verfügungen durch Anwendungder §§ 27 bis 29 , 34 und 35 BeurkG Rechnung zu tragen. Diese Vorschriften stehen einer wirksamen Testamentserrichtung schreib- und sprechunfähiger Personen durch notarielle Niederschrift nicht im Wege.

4. Die Übergangsregelung erfaßt allerdings nicht in der Vergangenheit von schreib- und sprechunfähigen Personen bereitserrichtete letztwillige Verfügungen. In diesen Fällen ist es Aufgabe der Rechtsprechung, die durch die Unvereinbarkeitserklärung entstandene Regelungslücke zu schließen und Maßstäbe für die Beurteilung der Wirksamkeit solcher Testamente zu entwickeln. Aufgrund der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Testierfreiheit (Art. 14 I 1 GG) können die von schreibunfähigen Stummen in der Vergangenheit errichtetenTestamente nicht allein wegen Verletzung des gesetzlichen Formzwangs als unwirksam angesehen werden. Vielmehr müssen jedenfalls solche letztwillige Verfügungen als rechtswirksam anerkannt werden, die von schreibunfähigen Stummen in Ermangelung anderer Regelungen entsprechend denAnforderungen der §§ 22 bis 26 BeurkG errichtet wurden.

Ist der Erbfall bereits in der Vergangenheit eingetreten, müssen die Gerichte allerdings berücksichtigen, daß die Belange der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes im Einzelfall der Berufung auf die verfassungsmäßige Rechtslage entgegenstehen können. Rechtskräftig abgeschlossene Verfahren bleiben grundsätzlich unberührt (vgl. § 79 BVerfGG). Ferner folgtaus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes, daß die Berufung auf die verfassungsmäßige Rechtslage ausgeschlossen sein kann, wenn sich der testamentarische Erbe in der Vergangenheit - anders als im Ausgangsverfahren - nicht auf die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Formvorschriften berufenund der durch die Formvorschriften Begünstigte in schutzwürdiger Weise auf die gesetzliche Rechtslage vertraut hat. Da die Verfassungsmäßigkeit des Testierausschlusses in der Literatur im wesentlichen erst seit 1991 in Zweifel gezogen wird (vgl.Rossak, MittBayNot 1991, 193; Ertl, MittBayNot 1991, 196; Schmidt, in: Erman, BGB, 9. Aufl. [1993], § 2229 Rdnr. 8; Baumann, FamRZ 1994, 994), wird unter den genannten Voraussetzungen eine von den bisherigen gesetzlichen Formvorschriften abweichende Beurteilung eines Testaments als wirksam für die vor dem Jahre 1991 liegenden Erbfälle regelmäßigaus Vertrauensschutzgründen ausscheiden.

5. Das Urteil des OLG ist aufzuheben, da die Verfassungsbeschwerde begründet ist. Das Urteil beruht i.S. des § 95 II BVerfGG auf der Anwendung verfassungswidriger Gesetze. Da der Erblasser infolge eines Schlaganfalls einerseits schreib-und sprechunfähig, andererseits aber voll testierfähig war, hätte ihm durch die gesetzliche Regelung der §§ 2232 , 2233 BGB, § 31 BeurkG nicht jede Testiermöglichkeit vorenthalten werden dürfen. Die Sache ist daher an das OLG zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen. Da es Aufgabe der Fachgerichte ist, die durch die Unvereinbarkeitserklärung entstandene Regelungslücke nach den vorerwähnten Maßgaben zu schließen, bedarf es keiner Aussetzung des Verfahrens bis zur gesetzlichen Neuregelung.

Rechtsgebiete

Erbrecht

Normen

GG Art. 3 I, III 2, 14 I; BGB §§ 2232, 2233; BeurkG § 31