Übermittlung eines fristwahrenden Schriftsatzes durch Kurierdienst

Gericht

BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats)


Art der Entscheidung

Beschluss über Verfassungsbeschwerde


Datum

23. 08. 1999


Aktenzeichen

1 BvR 1138/97


Leitsatz des Gerichts

Braucht ein Kurierdienst für die Beförderung eines Schriftsatzes zu lange und kommt das Dokument deshalb nicht fristgerecht an, so trifft den Absender unter Umständen keine Schuld. Vorausgesetzt, der Schriftsatz wird so zeitig aufgegeben, dass der Kurierdienst bei regelmäßigem Betriebsverlauf den Empfänger fristgerecht erreichen kann.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Berufungsschriftsatz der Prozeßbevollmächtigten des Bf. traf beim LAG Köln erst am 6. 3. 1997, drei Tage nach Ablauf der Berufungsfrist ein. Hierüber wurde diese vom LAG unterrichtet, wobei darauf hingewiesen wurde, daß der Schriftsatz nicht per Post, sondern durch den Kurierdienst des Aachener Anwaltsvereins transportiert worden sei. Der Bf. beantragte daraufhin fristgerecht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung führte er aus, in der Kanzlei seiner Prozeßbevollmächtigten bestehe die allgemeine Anweisung, alle Schriftsätze, auf denen nicht der Vermerk „per Kurierdienst„ angebracht sei, mit normaler Post zu versenden. Entgegen dieser Anweisung sei die Berufungsschrift am Donnerstag, den 20. 2. 1997, durch eine Auszubildende der Prozeßbevollmächtigten in das Fach des Anwaltskurierdienstes beim AG Düren gegeben worden. Nach dem Fahrplan des Kurierdienstes werde das LAG jede Woche dienstags und donnerstags angefahren. Danach hätte die Berufungsschrift, selbst wenn sie nicht mehr am Donnerstag, dem 20. 2. 1998, mitgenommen worden sein sollte, spätestens am Dienstag, den 25. 2. 1997 beim LAG eingehen müssen. Der verspätete Eingang sei offensichtlich darauf zurückzuführen, daß von irgendeiner dritten Person nach Abgabe des Schriftsatzes beim Kurierdienst der handschriftliche Vermerk „OLG„ auf den Schriftsatz gesetzt worden sei. Der Schriftsatz sei infolgedessen zunächst irrtümlich an das OLG Köln übermittelt worden und von dort später an das LAG Köln. Neben einer eidesstattlichen Versicherung der Auszubildenden und einer Kopie des Kurier- und Botenausgangsbuchs war dem Wiedereinsetzungsantrag der Fahrplan des Kurierdienstes beigefügt.

Das LAG verwarf - nach Einholung einer dienstlichen Äußerung des beim LAG im Posteingang beschäftigten Angestellten - die Berufung des Bf. als unzulässig. Der Wiedereinsetzungsantrag des Bf. sei nicht begründet, da er nicht dargetan habe, daß er ohne Verschulden seiner Prozeßbevollmächtigten an der Fristeinhaltung gehindert gewesen sei. Das LAG vertrat die Auffassung, zur Sicherung der Fristwahrung gehöre nicht nur die Führung eines Fristenkalenders, sondern auch eine wirksame Ausgangskontrolle, durch die sichergestellt werde, daß der Fristenkalender am Abend eines jeden Arbeitstages von einer damit beauftragten qualifizierten Kraft kontrolliert und Fristen erst mit Erledigung der fristwahrenden Handlung gemäß Anweisung (Einreichung bei Gericht, Aufgabe zur Post) gelöscht würden. Aus dem Vortrag des Bf. ergebe sich nicht, daß eine entsprechende Ausgangskontrolle bestanden habe. Die Einreichung fristgebundener Schriftsätze bei dem vom Anwaltsverein Aachen eingerichteten Kurierdienst stehe der Aufgabe zur Post nicht gleich, da dieser Kurierdienst das LAG Köln nur zweimal wöchentlich anfahre und deshalb nicht ohne weiteres erwartet werden könne, daß fristgebundene Schriftsätze rechtzeitig eingingen. Es sei auch nicht dargelegt worden, daß die Organisationsstruktur des Kurierdienstes eine zeitgerechte Beförderung erwarten ließe.

Die Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

I. Die Kammer nimmt gem. § 93b BVerfGG die zulässige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Anspruchs des Bf. auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 I GG i.V. mit dem Rechtsstaatsprinzip) angezeigt ist (§ 93a II lit. b BVerfGG). Der Verfassungsbeschwerde ist stattzugeben. Die Voraussetzungen des § 93c I 1 BVerfGG liegen vor. Die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das BVerfG bereits entschieden.

1. Allerdings ergibt sich aus dem Fehlen eines rechtlichen Hinweises hinsichtlich der möglichen Relevanz der Ausgangskontrolle in der Kanzlei der Prozeßbevollmächtigten des Bf. kein Verstoß gegen Art. 103 I GG. Diese Vorschrift gebietet lediglich dann einen Hinweis, wenn das Gericht auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellen will, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozeßbevollmächtigter nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfGE 84, 188 [190] = NJW 1991, 2823). Dies ist hier nicht der Fall. Da die Prozeßbevollmächtigte des Bf. den Wiedereinsetzungsantrag auch damit begründet hatte, daß entgegen der in ihrer Kanzlei bestehenden Anweisung der Berufungsschriftsatz nicht bei der Post, sondern bei dem Kurierdienst aufgegeben worden sei, hätte sich ein Vortrag zur Frage des Bestehens einer ordnungsgemäßen Ausgangskontrolle, bei der dieser Fehler hätte auffallen müssen, aufdrängen müssen.

2. Allerdings ist der Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 I GG i.V. mit dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt.

a) Dieser Anspruch verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise zu erschweren (vgl. BVerfGE 41, 23 [25f.] = NJW 1976, 513; BVerfGE 69, 381 [385]; BVerfG, NJW 1996, 309; NJW 1996, 2857 = AP Nr. 47 zu § 233 ZPO1977). Die Gerichte dürfen daher bei der Auslegung der die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand regelnden Vorschriften die Anforderungen an das, was der Betroffene veranlaßt haben muß, um Wiedereinsetzung zu erlangen, nicht überspannen. Dabei hat es das BVerfG insbesondere als nicht zulässig angesehen, dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung oder Zustellung durch die Deutsche Bundespost als Verschulden anzurechnen (vgl. BVerfGE 41, 23 [25f.] = NJW 1976, 513; BVerfGE 53, 25 [28] = NJW 1980, 769; BVerfGE 62, 334 [336] = NJW 1983, 1479; BVerfG, NJW 1995, 2546). In der Verantwortung des Absenders liegt es daher nur, das zu befördernde Schriftstück den postalischen Bestimmungen entsprechend und so rechtzeitig zur Post zu geben, daß es nach den organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen der Deutschen Bundespost bei regelmäßigem Betriebsablauf den Empfänger fristgerecht erreicht (vgl. BVerfGE 41, 23 [27] = NJW 1976, 513).

b) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen wird die angegriffene Entscheidung nicht gerecht. Sie überspannt die vom Bf. zu erfüllende Darlegungslast hinsichtlich der Inanspruchnahme des Kurierdienstes und wälzt allgemein bestehende Beförderungsrisiken einseitig auf den rechtsuchenden Bürger ab.

c) Es kann vorliegend dahinstehen, ob und in welchem Umfang die Grundsätze zur Postbeförderung nach der Einschränkung des Beförderungsmonopols der Deutschen Post AG und der Ausweitung des Angebots anderer professioneller Beförderungsdienstleister auf diese übertragen werden können.

Die Beurteilung, welche Anforderungen an die Darlegung im Rahmen eines Wiedereinsetzungsantrags gestellt werden, ist grundsätzlich Sache der Fachgerichte. Dies gilt auch im Hinblick auf die Nutzung privater Kurierdienste.

Die Fachgerichte müssen aber berücksichtigen, daß der Bürger auf die Wahrnehmung professioneller Beförderungsdienstleistungen - sei es der Deutschen Post AG, sei es anderer Anbieter - angewiesen ist. Für den Bürger muß vorhersehbar bleiben, welche Anforderungen an seine Darlegungslast bei einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt werden, und es muß ihm zumutbar und möglich sein, diese Anforderungen zu erfüllen. Dies verbietet im Regelfall, die Darlegung von Vorgängen innerhalb der Organisationsstruktur der Dienstleistungsanbieter zu verlangen, da diese sich regelmäßig der Kenntnis des Nutzers entziehen. Hier besteht kein Unterschied zwischen der Beförderung durch die Deutsche Post AG und der durch andere Anbieter.

d) Der Begründung des angegriffenen Beschlusses des LAG Köln kann schon nicht entnommen werden, weshalb sich aus dem Vorbringen des Bf. nicht ergeben soll, daß die Organisationsstruktur des Kurierdienstes bei normalem Lauf der Dinge eine fristwahrende Beförderung des konkreten Schriftsatzes hätte erwarten lassen. Vielmehr enthalten der Vortrag des Bf. und der vorgelegte Fahrplan die Fahrtrouten des Kurierdienstes und dessen regelmäßige Fahrtage. Daraus ist ohne weiteres ersichtlich, daß der Kurierdienst jeweils dienstags und donnerstags vom AG Düren aus das LAG Köln anfährt.

Die Erwägung des LAG, es könne nicht ohne weiteres erwartet werden, daß fristgebundene Schriftsätze mit dem Kurierdienst rechtzeitig eingingen, da dieser das LAG Köln nur zweimal wöchentlich anfahre, ist jedenfalls dann nicht überzeugend, wenn, wie hier, der Bf. glaubhaft gemacht hat, daß der Schriftsatz elf Tage vor Fristablauf aufgegeben worden ist. Maßgeblich kann nur sein, ob die sich aus einer zweimaligen wöchentlichen Beförderung ergebende mögliche Verzögerung bei Aufgabe des Schriftsatzes hinreichend berücksichtigt wurde. Dies war hier offensichtlich der Fall. Daher spielt auch keine Rolle, daß auch die Prozeßbevollmächtigte des Bf. zur Vermeidung von Verzögerungen normalerweise für fristwahrende Schriftsätze ausschließlich die Post in Anspruch nahm.

Zu Unrecht schließt das LAG aus der konkreten Verspätung auf eine mögliche unzuverlässige Organisation des Kurierdienstes. Die vom LAG eingeholte Stellungnahme des auf der Posteingangsstelle des LAG beschäftigten Angestellten weist im Gegenteil darauf hin, daß der verspätete Eingang auf eine irrtümliche Ablieferung der korrekt adressierten Berufungsschrift beim OLG statt beim LAG zurückzuführen ist. Eine solche einmalige Fehlleistung läßt keine Rückschlüsse auf allgemeine Organisationsmängel zu.

Darüber hinaus sagt die angegriffene Entscheidung nichts dazu, was der Bf. noch zur Organisationsstruktur des in Anspruch genommenen Kurierdienstes hätte vortragen können. Er hat dargelegt, auf welchem Weg und in welchen Zeitabständen die Beförderung erfolgt. Verlangt man weiteren Vortrag, so wird die Benutzung eines solchen Dienstes faktisch ausgeschlossen, denn dem Bürger ist es regelmäßig nicht möglich, bei Inanspruchnahme eines Kurierdienstes derart weitreichende Erkundigungen einzuholen.

Rechtsgebiete

Verfahrens- und Zwangsvollstreckungsrecht

Normen

GG Art. 2 I, 20 III, 103 I; ZPO § 233