Entgeltfortzahlung während einer Maßnahme der medizinischen Vorsorge und Rehabilitation

Gericht

BAG


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

19. 01. 2000


Aktenzeichen

5 AZR 685/98


Leitsatz des Gerichts

  1. Ein Entgeltfortzahlungsanspruch des Arbeitnehmers besteht während einer Maßnahme der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation, wenn diese von einem sozialen Leistungsträger bewilligt worden ist und in einer Einrichtung der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation stationär durchgeführt wird.

  2. Die stationäre Durchführung setzt voraus, dass in der Einrichtung der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation Unterbringung, Verpflegung und medizinische Anwendung erbracht werden. Die tatsächliche Durchführung der Maßnahme muss zu einer maßgeblichen Gestaltung der Lebensführung des Arbeitnehmers während seines Aufenthalts in der Einrichtung geführt haben.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Parteien streiten über die Verpflichtung der Bekl., dem Kl. für die Dauer einer in Frankreich durchgeführten Kur Entgeltfortzahlung zu leisten. Der im Jahre 1956 geborene Kl. ist französischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Frankreich. Im Jahre 1975 erlitt er während seines Wehrdienstes in der französischen Armee einen Unfall, bei dem er sich das Handgelenk brach und Rückenverletzungen zuzog. Er ist bei der AOK Saarland versichert und seit 1979 als Offsetdrucker bei der Bekl. beschäftigt. Mit Schreiben vom 20. 2. 1996 teilte die Außenstelle Nancy des Ministeriums für Kriegsteilnehmer und Kriegsopfer der Französischen Republik dem Kl. mit, es gebe ab 1. 1. 1996 nur noch ein einheitliches Verfahren für die Bewilligung von Thermalkuren für Militärdienstgeschädigte und Kriegsopfer. Hiernach sei die früher erforderliche Vorlage der Kosten für Kuren in zivilen Einrichtungen weggefallen. Die Außenstelle übersandte dem Kl. Kurunterlagen bestehend aus Bestätigungen der Übernahme der Kosten für Unterkunft, Heilbehandlung und medizinische Versorgung sowie zwei Formulare zur Bestätigung der ordnungsgemäßen Durchführung und Beendigung der Kur. Der Kl. nahm in der Zeit vom 24. 6. bis zum 15. 7. 1996 an einer Kur in dem Thermalbad Gréoux les Bains in der Provence teil. Die Bekl. gewährte dem Kl. zunächst Entgeltfortzahlung. Der medizinische Dienst der AOK Saarland teilte der Bekl. mit Schreiben vom 26. 8. 1996 mit, er habe nach Einsicht in die Kurunterlagen des Kl. eine Arbeitsunfähigkeit für die Dauer der Kur nicht feststellen können. Daraufhin verrechnete die Bekl. den für die Entgeltfortzahlung aufgewendeten Betrag von 3049,36 DM netto mit dem Netto-Lohnanspruch des Kl. für November 1996 in Höhe von 8313,01 DM und zahlte lediglich den Restbetrag aus. Der Kl. hat unter Bezugnahme auf Art. 19 I der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 geltend gemacht, dass der in einem anderen EU-Mitgliedstaat wohnende Arbeitnehmer Anspruch auf Geldleistung von den zuständigen Trägern nach den für diesen geltenden Rechtsvorschriften habe. Deshalb schulde ihm die Bekl. als zuständige Trägerin Entgeltfortzahlung als ob ihm im Geltungsbereich des Entgeltfortzahlungsgesetzes ein Sozialleistungsträger eine Maßnahme der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation bewilligt habe und diese stationär in einer Einrichtung der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation durchgeführt worden sei. Der Kl. hat behauptet, die in Deutschland bekannte Form der Kur mit Unterbringung der Teilnehmer in speziellen Kurheimen sei in Frankreich so gut wie unbekannt. Der für seinen Kuraufenthalt aufgestellte Behandlungsplan habe nicht weniger intensive Anwendungen als bei einer stationären Kur in Deutschland umfasst. Ihm seien halbharte penetrante Duschen mit besonderer Berücksichtigung der Wirbelsäule, Schlammumschläge, Bewegungsbäder, Unterwasserhochdruckduschen, Behandlungen der Hand durch Duschen und Mobilisierung im Schlammbad und Schwitzbäder in Einzelkabine verschrieben worden. Er sei zwar außerhalb des Kurmittelhauses untergebracht worden, habe aber gewisse Verhaltensvorschriften beachten müssen. So habe er außer der täglichen Behandlung von 8 bis 11 Uhr eine Ruhezeit von 20 Min. vor Verlassen des Kurmittelhauses und eine zweistündige Ruhezeit im Hotelzimmer einhalten müssen. Der Kl. begehrt von der Bekl. Zahlung von 3049,36 DM. Die Bekl. hat geltend gemacht, dass es in Frankreich stationäre Kurmöglichkeiten gebe, die die Voraussetzungen des § 9 EFZG erfüllten. Ein Widerspruch der nationalen Rechtsvorschriften zu denen der Europäischen Union liege nicht vor.

Das ArbG hat die Klage abgewiesen. Das LAG hat die Berufung des Kl. zurückgewiesen. Seine Revision ist ebenso erfolglos geblieben.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

I. … Dem Kl. steht kein weiterer Vergütungsanspruch für November 1996 in Höhe von 3049,36 DM netto zu, denn die Bekl. hat wirksam mit ihrem Rückforderungsanspruch wegen überzahlter Entgeltfortzahlung in Höhe 3049,36 DM netto aufgerechnet. Der Kl. kann für die Zeit vom 24. 6. bis zum 15. 7. 1996 Entgeltfortzahlung weder nach § 3 EFZG noch nach § 9 EFZG beanspruchen.

1. Ein Anspruch des Kl.gem. § 3 EFZG scheidet aus, weil der Kl. im Zeitraum vom 24. 6. bis zum 15. 7. 1996 nicht arbeitsunfähig erkrankt war.

2. Die Voraussetzungen eines Entgeltfortzahlungsanspruchs nach § 9 EFZG haben gleichfalls nicht vorgelegen.

a) Nach § 9 I 1 EFZG gelten die Vorschriften der §§ 3 bis 4b und 6 bis 8 EFZG

„entsprechend für die Arbeitsverhinderung infolge einer Maßnahme der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation, die ein Träger der gesetzlichen Renten-, Kranken- oder Unfallversicherung, eine Verwaltungsbehörde der Kriegsopferversorgung oder ein sonstiger Sozialleistungsträger bewilligt hat und die in einer Einrichtung der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation stationär durchgeführt wird“.

Für die Auslegung dieser nationalen Bestimmungen des Entgeltfortzahlungsrechts sind die Regelungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 14. 6. 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, zu beachten (vgl. ABlEG Nr. L 149, S. 2 [7]). In Art. 3 dieser Verordnung heißt es:

Art. 3. Die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die diese Verordnung gilt, haben die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates, soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts anderes vorsehen.

Art. 19. Wohnort in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat - Allgemeine Regelung. (1) Arbeitnehmer, die im Gebiet eines anderen als des zuständigen Mitgliedstaats wohnen und die die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für den Leistungsanspruch erforderlichen Voraussetzungen, gegebenenfalls unter Berücksichtigung des Art. 18 erfüllen, erhalten in dem Staat, in dem sie wohnen:

a) Sachleistungen, die sie für Rechnung des zuständigen Trägers vom Träger des Wohnorts nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften erhalten, als ob sie bei diesem versichert wären;

b) Geldleistungen vom zuständigen Träger, nach den für diesen geltenden Rechtsvorschriften. Im Einvernehmen zwischen dem zuständigen Träger und dem Träger des Wohnorts können diese Leistungen jedoch auch vom Träger des Wohnorts nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für Rechnung des zuständigen Trägers gewährt werden.

b) Wird zu Gunsten des Kl. davon ausgegangen, dass auf Grund von Art. 3 und 19 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 als „Verwaltungsbehörde der Kriegsopferversorgung“ i.S. von § 9 I 1 EFZG auch die Außenstelle Nancy des Ministeriums für Kriegsteilnehmer und Kriegsopfer anzusehen ist, sind gleichwohl die gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllt. Das LAG hat zutreffend erkannt, dass die vom Kl. wahrgenommene Kur in Gréoux les Bains nicht das gesetzliche Merkmal einer „in einer Einrichtung der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation stationär“ durchgeführten Maßnahme erfüllt hat.

aa) Bereits nach dem Wortlaut des § 9 I 1 EFZG besteht kein Entgeltfortzahlungsanspruch, wenn der Arbeitnehmer nicht in der Einrichtung der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation wohnt, in der die medizinischen Anwendungen durchgeführt werden. Es fehlt an einer stationären Durchführung in der Einrichtung. Diese unterschiedet sich von einer ambulanten Behandlung dadurch, dass in derselben Einrichtung Unterbringung, Verpflegung und medizinische Anwendung erbracht werden (Gola, EFZG, 1994, S. 220; wohl auch ErfK/Dörner, 1998, § 9 EFZG, Rdnr. 17; Schmitt, EFZG, 4. Aufl. [1999], § 9 Rdnr. 22). Wohnt der Arbeitnehmer während des Kuraufenthaltes in einem Hotel und wird auch dort verpflegt, während die medizinischen Anwendungen in einer besonderen Einrichtung erbracht werden, handelt es sich nicht um eine „stationär“ durchgeführte Maßnahme.

bb) Diese Auslegung wird durch den Gesetzeszweck bestätigt. Das Merkmal „stationär“ ist als wesentliches Abgrenzungsmerkmal zur so genannten Badekur in den Gesetzeswortlaut aufgenommen worden. Nach der früheren Rechtslage (§ 7 LFZG) war ein Lohnfortzahlungsanspruch für die Dauer einer Kur nur gegeben, wenn der Sozialversicherungsträger für ein planvoll gestaltetes medizinisches Heilverfahren sorgte, mit dem ein bestimmter Kur- oder Heilzweck erreicht werden konnte. Dazu gehört eine ausreichende medizinische Betreuung des Versicherten und ein gewisser Einfluss auf die Lebensführung des Versicherten während der Kurzeit (vgl. BAG, AP LohnFG § 7 Nr. 4 m.w. Nachw. zur früheren Rspr.). Danach ist die notwendige Einflussnahme auf die Lebensführung des Versicherten dann gesichert, wenn der Versicherte die Kurzeit in einem Kurheim oder in einer entsprechenden Anstalt des Sozialversicherungsträgers zu verbringen hat. Dadurch hat es der Sozialversicherungsträger in der Hand, die für den Kurerfolg erforderlichen Kurvorschriften aufzustellen und deren Einhaltung zu überwachen. Die tatsächliche Durchführung der Kur muss zu einer maßgeblichen Gestaltung der Lebensführung des Arbeitnehmers während der Kur geführt haben. Insbesondere ist zu beurteilen, ob der Arbeitnehmer durch eine Kur- oder Hausordnung einem geregelten, streng festgelegten Kurablauf unterworfen war (vgl. BAG, Urt. v. 31. 1. 1991 - 8 AZR 462/89, EEK I/1058). Diese Rechtsprechung ist zur alten Rechtslage ergangen. Zu dieser Zeit bestimmte § 7 LFZG, dass eine „volle Kostenübernahme“ des Sozialversicherungsträgers vorliegen müsse. Mit der Neuregelung ist dieses angesichts der Kostendämpfungsmaßnahmen im Gesundheitswesen überholte Merkmal durch den Begriff „stationär“ ersetzt worden. Damit wollte der Gesetzgeber die einfachere Abgrenzbarkeit entgeltfortzahlungspflichtiger Maßnahmen von solchen erreichen, die keinen Entgeltfortzahlungsanspruch auslösen (vgl. Schliemann, AuR 1994, 317 [325]; Schmitt, § 9 Rdnr. 21). Die Änderung des Gesetzes kann als Bestätigung der früheren Rechtsprechung verstanden werden (vgl. Gola, S. 220).

cc) Die besondere Bedeutung der „stationären“ Unterbringung wird darüber hinaus dadurch betont, dass § 9 EFZG die Durchführung in einer „Einrichtung der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation“ voraussetzt. Damit verweist das Gesetz auf die Begriffsbestimmung in § 107 II SGB V. Nach dieser Vorschrift sind Einrichtungen der Vorsorge oder Rehabilitation solche, die „der stationären Behandlung der Patienten dienen“. Einrichtungen, die lediglich der ambulanten Versorgung dienen, gehören nicht zu den Einrichtungen der Vorsorge oder Rehabilitation i.S. von § 9 I 1 EFZG.

dd) Unabhängig von der Frage, ob das vom Kl. in Gréoux les Bains besuchte Kurmittelhaus überhaupt eine Einrichtung der stationären Behandlung ist, hat das LAG in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass die Kur vom 24. 6. bis zum 15. 7. 1996 zu keiner maßgeblichen Gestaltung der Lebensführung des Kl. führte. Das LAG weist zutreffend darauf hin, dass sich die Bindung der Lebensführung des Kl. während seines Aufenthaltes in Gréoux les Bains auf eine täglich dreistündige Behandlungsdauer mit anschließender Ruhezeit von 20 bis 30 Min. im Kurmittelheim und eine verordnete Ruhezeit von zwei Std. nach dem im Hotel eingenommenen Mittagessen beschränkte. Weitere Maßregeln oder Einschränkungen der Lebensführung sind weder vom LAG festgestellt noch vom Kl. behauptet worden. Angesichts dieser wenig einschneidenden Vorgaben kommt der vollen Übernahme der Unterkunftskosten durch das französische Ministerium keine entscheidende Bedeutung zu.

II. Entgegen der Auffassung des Kl. bedarf es einer Vorlage an den EuGH nicht. Die Frage, ob für den Erlass einer Entscheidung eines innerstaatlichen Gerichts eine Entscheidung des Gerichtshofs über eine gemeinschaftsrechtliche Frage erforderlich ist, hat das nationale Gericht in eigener Zuständigkeit zu beurteilen (vgl. EuGH, NJW 1983, 1257 = EAS EG-Vertrag Art. 177 Nr. 6 Rdnr. 10). Die nationalen Gerichte sind nicht zur Vorlage einer von ihnen aufgeworfenen Frage nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts verpflichtet, wenn die Frage nicht entscheidungserheblich ist. Die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits ist nicht von der Entscheidung über gemeinschaftsrechtliche Fragen abhängig. Der EuGH hat bereits geklärt, dass Träger der sozialen Sicherheit im Sinne der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 der Arbeitgeber ist, wenn der Arbeitnehmer Entgeltfortzahlung nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz der Bundesrepublik Deutschland beansprucht (vgl. EuGH, NZA 1992, 735 = NJW 1992, 2687 = AP EWG-Verordnung Nr. 574/72 Art. 18 Nr. 1 - Paletta). Ebenso ist durch die Rechtsprechung des EuGH geklärt, dass sich die Zahlung von Geldleistungen i.S. von Art. 19 I lit.b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 allein und ausschließlich nach dem für den Träger des Beschäftigungsbetriebs maßgeblichen nationalen Recht bestimmt (vgl. EuGH, NZA 1998, 390 = EuZW 1998, 217 = NJW 1998, 1767 = EAS EG-Vertrag Art. 48 Nr. 94 Rdnr. 38 - Molenaar). Somit kommt es für den Entgeltfortzahlungsanspruch des Kl. weder auf das an seinem Wohnsitz geltende Recht der französischen Republik noch auf die generellen tatsächlichen Verhältnisse der Durchführung von Kuren in Frankreich an. Maßgebend ist allein das deutsche Entgeltfortzahlungsrecht. Dieses enthält hinsichtlich des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung bei Durchführung einer Maßnahme der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation keine Regelungen, die auf den Leistungsort oder den Wohnsitz des Arbeitnehmers innerhalb oder außerhalb des Geltungsbereichs des Entgeltfortzahlungsgesetzes abstellen. Vielmehr behandelt § 9 EFZG Deutsche und andere EU-Bürger hinsichtlich ihrer Entgeltfortzahlungsansprüche bei Teilnahme an einer Maßnahme der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation gleich. Nähme ein deutscher Arbeitnehmer im Geltungsbereich des Entgeltfortzahlungsgesetzes unter den gleichen Voraussetzungen wie der Kl. in Gréoux les Bains an einer Kur teil, stünde auch ihm kein Entgeltfortzahlungsanspruch zu.

Rechtsgebiete

Arbeitsrecht; Sozialrecht

Normen

EFZG §§ 9, 3; SGB V § 107 II; Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 Art. 3, 19