Sorgfaltsanforderungen gegenüber radfahrendem Kind

Gericht

BGH


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

01. 07. 1997


Aktenzeichen

VI ZR 205/96


Leitsatz des Gerichts

Ein Kraftfahrer darf grundsätzlich nicht darauf vertrauen, daß ein Kind anhalten wird, wenn es mit einem Fahrrad auf die Fahrbahn zufährt und nicht eindeutig erkennen läßt, daß es rechtzeitig abbremsen werde.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die damals 10jährige Kl. erlitt schwere Verletzungen, als sie am 28. 8. 1992 gegen 13.30 Uhr außerhalb geschlossener Ortschaft in P. von dem Bekl. zu 1) mit einem Lkw, dessen Halter die Bekl. zu 2) und dessen Haftpflichtversicherer die Bekl. zu 3) ist, angefahren wurde. Die Kl. befand sich mit 21 Mitschülerinnen und Mitschülern auf einer Klassenfahrt mit Fahrrädern. Auf der Rückfahrt hatten sich kurz vor dem Ziel - dem Schulgebäude - zwei Gruppen gebildet, eine vordere in Begleitung des Lehrers M und eine hintere, die die Studentin S beaufsichtigte. Zwischen diesen beiden Gruppen fuhr die Kl. mit zwei Mitschülerinnen auf dem Radweg neben der Ru.-Straße auf die Kreuzung Ru.-Straße/Rh.-Straße zu. Im Unterschied zu ihren beiden Mitschülerinnen hielt die Kl. vor der Rh.-Straße, auf der der Verkehr vorfahrtberechtigt ist, nicht an, sondern fuhr in die durch Fahrbahnmarkierungen mit unterbrochenen Linien auf der Rh.-Straße gekennzeichnete Furt ein, in die der Radweg der Ru.-Straße einmündet. Dort wurde sie von dem - aus ihrer Blickrichtung von links kommenden - LKW erfaßt, obwohl der Bekl. zu 1) noch ein Bremsmanöver eingeleitet und das Fahrzeug etwas nach links gezogen hatte.

Der Kreuzungsbereich ist übersichtlich ausgebaut und gewährte sowohl der Kl. als auch dem Bekl. zu 1) uneingeschränkt freie Sicht. Für den Bekl. zu 1) waren, als er an die Kreuzung heranfuhr, sowohl die vordere Gruppe der Fahrtteilnehmer, die die Kreuzung bereits überquert hatte, als auch die hintere Gruppe außer Sichtweite; nur die Kl. und ihre beiden Mitschülerinnen waren für ihn erkennbar. Die Geschwindigkeit des Lkw betrug im Zeitpunkt der Reaktion des Bekl. zu 1) etwa 63 km/h; die zulässige Höchstgeschwindigkeit beträgt an der Unfallstelle 70 km/h.

Die Kl. hat wegen der erlittenen Verletzungen materiellen und immateriellen Schadensersatz unter Berücksichtigung eines Mithaftungsanteils von 30 % begehrt. Das LG hat dem Klageantrag auf der Basis eines Mithaftungsanteils von 75 % entsprochen. Das OLG hat die Mithaftungsquote bestätigt, der Kl. aber nur materiellen Schadensersatz zugesprochen. Die von einer Mithaftung zu 50 % ausgehende Revision der Kl. führte in diesem Umfang zur Aufhebung und Zurückverweisung.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Nach Auffassung des BerGer. haften die Bekl. der Kl. nur nach §§ 7 , 18 StVG.

Den Bekl. zu 2) und 3) sei es nicht gelungen, den Unabwendbarkeitsbeweis nach § 7 II StVG zu erbringen, und der Bekl. zu 1) habe die gesetzliche Verschuldensvermutung aus § 18 I 2 StVG nicht zu widerlegen vermocht. Nach den Aussagen der Zeugen H und K sei die Kl. ohne Verminderung ihrer Geschwindigkeit an die Kreuzung herangefahren, so daß der Bekl. zu 1) nicht habe sicher sein können, daß sich die Kl. an die Vorfahrtregelung im Kreuzungsbereich halten werde. Auf der anderen Seite habe die Kl. aber nicht ein unfallursächliches Verschulden des Bekl. zu 1) bewiesen, so daß eine Verschuldenshaftung der Bekl. zu 1) und 3) aus §§ 823 ff. BGB zu verneinen sei. Nach den Aussagen der Zeugen V und B habe der Bekl. zu 1) davon ausgehen können, daß die Kl. seinen Lkw gesehen habe und ihm die Vorfahrt gewähren werde; auch die Zeugin K habe geglaubt, daß die Kl. ihren Kopf in Richtung des herannahenden Lkw gewandt habe. Danach sei für den Bekl. zu 1) eine Unfallsituation erst in dem Augenblick entstanden, als die Kl. erneut und kräftig in die Pedale getreten habe; in diesem Augenblick habe er aber auch situationsgerecht reagiert. Daß es sich bei der Kl. um ein Kind gehandelt habe, habe ihn nicht von vornherein zu einer Verringerung der Geschwindigkeit veranlassen müssen. Auch gegenüber Kindern gelte der Vertrauensgrundsatz, der von dem Kraftfahrer nur dann besondere Vorkehrungen zur Abwendung der Gefahr verlange, wenn das Verhalten der Kinder Auffälligkeiten zeige, die zu einer Gefährdung führen könnten. Eine solche Situation habe im Streitfall aber erst bestanden, als die Kl. nicht vor der Kreuzung angehalten habe, sondern weitergefahren sei; in diesem Augenblick sei der Unfall trotz situationsgerechter Reaktion nicht mehr zu vermeiden gewesen. Aus der Sicht des Bekl. zu 1) habe sich eine Gefährdungssituation nicht schon daraus ergeben, daß auf der Rh.-Straße eine Furt eingezeichnet sei, in die der Fahrradweg der Ru.-Straße münde; diese Furt stelle keinen Fußgängerüberweg dar, und Kinder im Alter der Kl. wüßten genau, daß ihnen allenfalls ein "Zebrastreifen" den Vorrang einräumen könne.

Die Kl. müsse ihrem Anspruch auf Ersatz ihres materiellen Schadens nach § 254 BGB ihr eigenes Fehlverhalten haftungsmindernd entgegenhalten lassen; außerdem wirke sich nach den zum gestörten Gesamtschuldnerausgleich entwickelten Rechtsgrundsätzen der Verursachungsbeitrag des Lehrers M, der seine Aufsichtspflicht verletzt habe, für die Bekl. haftungsmindernd aus. Unter Berücksichtigung der Betriebsgefahr des Lkw, die erheblich sei und das Unfallgeschehen und dessen Folgen nachhaltig geprägt habe, erscheine ein Haftungsanteil der Bekl. in Höhe von 25 % des zukünftigen materiellen Schadens gerechtfertigt.

II. Diese Erwägungen halten einer Überprüfung nicht stand.

1. Nach Auffassung des Senats haften die Bekl. zu 1) und 3) der Kl. auch aus dem Gesichtspunkt des Verschuldens nach §§ 823 ff. BGB .

Die Sorgfaltsanforderungen, denen der Bekl. zu 1) in seinem Fahrverhalten genügen mußte, bestimmen sich nach § 3 IIa StVO. Als Zehnjährige war die Kl. noch ein Kind im Sinne dieser Vorschrift (vgl. OLG Bamberg, NZV 1993, 268 u. OLG Hamburg, VersR 1990, 985 = NZV 1990, 71, jeweils mit NA-Beschl. des Senats). Nach § 3 IIa StVO muß sich ein Fahrzeugführer (u.a.) gegenüber Kindern insbesondere durch Verminderung seiner Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft so verhalten, daß eine Gefährdung dieser Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Das verlangt von dem Fahrzeugführer das Äußerste an Sorgfalt (vgl. Senat, VersR 1994, 739 = NZV 1994, 273 m.w. Nachw.). Allerdings gilt auch gegenüber Kindern der Vertrauensgrundsatz. Danach muß der Fahrer besondere Vorkehrungen für seine Fahrweise nur dann treffen, wenn das Verhalten der Kinder oder die Situation, in der sie sich befinden, Auffälligkeiten zeigt, die zu einer Gefährdung führen können (vgl. Senat, VersR 1994, 326 = NZV 1994, 149 m.w. Nachw.).

Nach Auffassung des Senats ergibt die Würdigung des Fahrverhaltens des Bekl. zu 1), daß er auch unter Berücksichtigung des Vertrauensgrundsatzes den Sorgfaltsanforderungen des § 3 IIa StVO nicht gerecht geworden ist. Dies gilt auch dann, wenn der Senat seiner Beurteilung die Verkehrssituation zugrunde legt, die sich aus den Aussagen der Zeugen V, B und K ergibt. Danach hat die Kl. bei Annäherung an den Kreuzungsbereich zwar ihre Fahrt verlangsamt und auf den bevorrechtigten Verkehr geschaut. Dennoch konnte sich der Bekl. zu 1) nicht sicher sein, daß sie rechtzeitig anhalten werde, zumal sie auf einem Radweg fuhr, der in eine auf der Fahrbahn der Rh.-Straße gezeichnete Furt einmündete. Eine solche Furt kann, wie das LG zutreffend ausführt, bei verkehrsungewandten Personen und insbesondere bei Kindern die Vorstellung erzeugen, sie hätten Vorfahrt. Für den Bekl. zu 1) bestand damit eine unklare Verkehrssituation, in der er verpflichtet war, seine Geschwindigkeit zu reduzieren, bis er sicher sein konnte, daß die Kl. rechtzeitig anhalten werde. Solange das Verhalten der Kl. noch unklar war, durfte er nach § 3 IIa StVO nur mit einer Geschwindigkeit fahren, die es ihm ermöglichte, sein Fahrzeug vor der Kl. noch anzuhalten oder ihr auszuweichen. In dieser Situation der Unklarheit bestand für ihn kein Vertrauensschutz.

Dies bedeutet, daß der Bekl. zu 1) und die Bekl. zu 3) neben ihrer Einstandspflicht aus der Gefährdungshaftung auch nach §§ 823 ff. BGB, § 3 PflVG - vorbehaltlich einer Anspruchsreduzierung wegen Mitverschuldens (vgl. hierzu nachfolgend unter 3.) - für die Unfallfolgen aufkommen müssen.

2. Die Kl. hat die Bekl. zu 2) nur auf Ersatz ihrer materiellen Unfallschäden und nicht auf Schmerzensgeld in Anspruch genommen. Muß die Bekl. zu 2) für solche Schäden auch bereits nach § 7 I StVG aufkommen, so ist dennoch wegen der Haftungsbegrenzung aus § 12 StVG einerseits und der Schwere der Unfallverletzungen der Kl. andererseits nicht auszuschließen, daß auch für den Ersatz der materiellen Schäden eine Haftung der Bekl. zu 2) aus § 831 BGB praktische Bedeutung gewinnen kann.

Das BerGer. hat sich im Unterschied zum LG mit diesem Haftungsgrund, der gem. § 3 PflVG auch gegenüber der Bekl. zu 3) zum Tragen kommen kann, nicht auseinandergesetzt. Dies wird unter Ausschöpfung des Prozeßstoffs nachzuholen sein. Dabei wird das BerGer. insbesondere die vom LG verneinte Frage zu erörtern haben, ob der Entlastungsbeweis gem. § 831 I 2 BGB erbracht ist. Hierzu weist der Senat darauf hin, daß an den Beweis einer ausreichenden Überwachung eines angestellten Kraftfahrers im Interesse der Verkehrssicherheit strenge Anforderungen zu stellen sind. Der Arbeitgeber hat den Fahrer grundsätzlich auch bei der Ausführung der Fahrten, d.h. in seiner Fahrweise, zu überwachen; hierzu kann es geboten sein, daß er Kontrollfahrten vornimmt, die Fahrweise des Verrichtungsgehilfen also aus einem anderen Fahrzeug beobachtet (vgl. Senat, VersR 1984, 67).

3. Das BerGer. ist davon ausgegangen, daß der Lehrer M seine Aufsichtspflicht verletzt hat und diese Pflichtverletzung für den Unfall mitursächlich ist. Es hat sich aber einer Entscheidung über die Gewichtung dieses Ursachenbeitrags enthalten. Dasselbe gilt für den Mitverursachungsbeitrag der Kl. Ohne eine Bestimmung der Haftungsquoten ist aber, wie die Revision zu Recht geltend macht, die Entscheidung des BerGer. nicht nachvollziehbar. Das BerGer. wird nunmehr unter Berücksichtigung der Verschuldenshaftung der Bekl. die Haftungsanteile der Beteiligten zu bestimmen haben. Hierzu bemerkt der Senat:

Die Bekl. zu 1) und 2) - und mit ihnen die Bekl. zu 3) nach § 3 PflVG - bilden gegenüber der Kl. eine Haftungseinheit (vgl. Senat, VersR 1983, 131 (132); 1995, 427 (428) = NZV 1995, 185). Ferner hat der Lehrer M gegenüber der Kl. den Haftungstatbestand des § 823 I BGB verwirklicht. Außerdem trifft die Kl. selbst an dem Unfall ein Mitverschulden. Dies bedeutet, daß zunächst diese drei Unfallbeiträge nach den in BGHZ 30, 203 (211) zur Einzel- und Gesamtabwägung entwickelten Grundsätzen zu bestimmen sind. Da der Lehrer M im Verhältnis zur Kl. nach dem hier noch anwendbaren § 637 IV RVO von der Haftung freigestellt ist, ist sodann - wie das BerGer. zutreffend ausführt - nach den zum gestörten Gesamtschuldverhältnis entwickelten Rechtsgrundsätzen (vgl. Senat, VersR 1990, 387 m.w. Nachw.) der auf M entfallende Haftungsanteil aus der Haftung der Bekl. auszugrenzen. Damit beschränken sich die Schadensersatzansprüche der Kl. gegen die Bekl. auf den Haftungsanteil, der bei einer Gesamtschau auf die eine Haftungseinheit bildenden Bekl. entfällt.

Rechtsgebiete

Straßenverkehrs- und Straßenrecht

Normen

BGB §§ 276, 823; StVO § 3 IIa