Kollision mit Polizei-Einsatzwagen nach Kreuzungseinfahrt bei Grünlicht

Gericht

OLG Hamm


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

13. 12. 1996


Aktenzeichen

9 U 143/96


Leitsatz des Gerichts

  1. Ein Verkehrsteilnehmer muss nach Vernehmen des Sondersignals eines Einsatzfahrzeuges seine Fahrweise so anpassen, dass er auf kürzeste Entfernung anhalten könnte. Nur wenn sicher ist, dass der Einsatzwagen nicht ebenso in die Kreuzung einfahren wird, darf der Verkehrsteilnehmer bei eigenem Grünlicht die Kreuzung überqueren.

  2. Wenn sich der Fahrer des Einsatzfahrzeuges hingegen nicht ausreichend vergewissert hat, ob die anderen Verkehrsteilnehmer sein Sonderrecht respektieren, so trifft ihn ein Mitverschulden, das in diesem Fall auf zwei Drittel festgesetzt wurde.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Kl. macht Schadensersatzansprüche aus einem Unfall geltend, der sich am 2. 4. 1993 gegen 21.46 Uhr in D. im Kreuzungsbereich B-Weg/R-Straße/F-Straße ereignet hat. Am Vorfallstag befuhr die Tochter des Kl. - die Zeugin L - mit dem Golf des Kl. die rechte Spur der R-Straße. Auf dem Beifahrersitz befand sich ihre Schwester, die Zeugin N. Die Zeugin L beabsichtigte, den B-Weg zu überqueren, um weiter geradeaus über die F-Straße in Richtung S. zu fahren. Die Kreuzung ist mit einer Ampelanlage versehen. Als die Ampel auf "grün" umsprang, fuhr die Zeugin in den Kreuzungsbereich. Aus ihrer Richtung gesehen linksseitig näherte sich auf dem B-Weg ein Polizeifahrzeug, das von dem Zeugen S gesteuert wurde und sich auf einer Einsatzfahrt befand. Auf dem Beifahrersitz saß die Zeugin W. Der Zeuge S fuhr, obwohl die für ihn geltende Ampel "rot" zeigte, in den Kreuzungsbereich. Dort kam es zur Kollision beider Fahrzeuge. Der Kl. beziffert den ihm durch das Unfallereignis entstandenen Schaden auf 10426,58 DM. Das bekl. Land hat den Schaden auf einer Haftungsquote von 67 % reguliert und dem Kl. einen Betrag von 6985,80 DM gezahlt. Mit der vorliegenden Klage macht der Kl. den restlichen Schaden geltend.

Das LG hat der Klage stattgegeben. Die Berufung des bekl. Landes führte zur Klageabweisung.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

... 2. Trotz der Inanspruchnahme von Sonderrechten trifft den Zeugen S an dem Unfall ein Verschulden. Sein Verschulden beruht darauf, daß ihm als Fahrer des Einsatzwagens auch aufgrund der ihm in § 35 StVO gewährten besonderen Stellung kein Vorfahrtsrecht zustand. § 35 StVO gewährt nur eine Befreiung von Pflichten, die den Verkehrsteilnehmern auferlegt sind. Der dadurch begünstigte Fahrer eines Sonderrechtsfahrzeugs darf von diesen Befreiungen nur unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Gebrauch machen (BGHZ 63, 327 = NJW 1975, 648). Er ist bei der Wahrnehmung seines Sonderrechts zu besonderer Sorgfalt und Vorsicht verpflichtet. Dementsprechend hat er sich beim Einfahren in eine durch Rotlicht gesperrte Kreuzung davon zu überzeugen, daß alle anderen Verkehrsteilnehmer ihn wahrgenommen und sich auf seine Absicht, die Kreuzung zu überqueren, eingestellt haben. Erst wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, darf der Fahrer eines Einsatzfahrzeugs darauf vertrauen, daß ihm nunmehr freie Fahrt gewährt wird, und sein Vorrecht in Anspruch nehmen (BGHZ 63, 327 = NJW 1975, 648; OLG Düsseldorf, NZV 1992, 489; KG, NZV 1992, 456). So lange der Fahrer nicht auf die Gewährung freier Fahrt durch alle anderen an sich bevorrechtigten Verkehrsteilnehmer vertrauen kann, muß er sich notfalls im Schrittempo über die Kreuzung tasten (BGH, NJW 1971, 616). Der Zeuge S hat sich diesen Anforderungen nicht entsprechend verhalten. Dies hat die ergänzende Beweisaufnahme zur Überzeugung des Senats ergeben. Der Sachverständige Dipl.-Ing. H hat in seinem mündlich erstatteten Gutachten aufgrund der Beschädigungen an den Unfallfahrzeugen sowie deren Endstellung nach dem Unfall eine Kollisionsgeschwindigkeit des Polizeifahrzeugs von mindestens 45 bis maximal 61 km/h errechnet. Die Toleranzgröße ergibt sich nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen daraus, daß die Richtungen, in die sich die Fahrzeuge nach der Kollision zu ihrer jeweiligen Endstellung bewegt haben, variabel sind und z.B. durch Drehbewegungen beeinflußt sein können. Der Sachverständige hat darüber hinaus überzeugend ausgeführt, daß selbst dann, wenn der Zeuge S den Funkstreifenwagen vor der Einfahrt in die Kreuzung abgebremst hat, sich die Geschwindigkeit in dieser Größenordnung bewegt haben kann; denn eine Geschwindigkeit von 45 km/h kann, wenn der Zeuge S den Funkstreifenwagen schnell beschleunigt hat, auch bei einem Abbremsen vor der Einfahrt in die Kreuzung erreicht werden.

Dementsprechend ist widerlegt, daß der Zeuge S - wie die Zeugin W bekundet hat - sich tastend in die Kreuzung hineinbewegt hat. Zu einer solchen Fahrweise war der Zeuge S jedoch verpflichtet, zumal es sich bei der Unfallstelle um eine dicht bebaute Kreuzung handelt, die nicht weithin einsehbar ist. Der Zeuge S mußte daher durch eine besonders vorsichtige Fahrweise sicherstellen, daß alle übrigen Fahrzeuge seine Inanspruchnahme von Sonderrechten bemerkt und ihrerseits ihre Fahrweise darauf eingestellt hatten, bevor er die Kreuzung bei "rot" passierte. Daß der Zeuge S sich nicht diesen Anforderungen entsprechend verhalten hat, wird letztlich auch von dem bekl. Land nicht in Abrede gestellt, weil es den Schaden mit einem Betrag i.H. von 6985,80 DM, also mit einer Quote von 67 %, reguliert hat.

3. Entgegen der Auffassung des LG trifft indes die Zeugin L an dem Unfall ein Mitverschulden. Sie hat gegen § 38 I StVO verstoßen, indem sie dem Einsatzfahrzeug nicht sofort freie Bahn verschafft hat. Sobald ein Verkehrsteilnehmer ein Einsatzhorn - wenn auch nur schwach - hört, weiß er, daß in seinem Umfeld ein Wegerechtsfahrzeug im Einsatz ist. Er hat dann seine Fahrweise darauf einzurichten. Dementsprechend muß er sich durch Hinabsetzen der Geschwindigkeit darauf einstellen, notfalls auf kürzeste Entfernung anhalten zu müssen. Er muß mit gespannter Aufmerksamkeit bemüht sein, das Wegerechtsfahrzeug zu orten. Insbesondere darf er in Kreuzungen nur einfahren, wenn er zuvor abgeklärt hat, daß das Wegerechtsfahrzeug von dort nicht kommt (OLG Düsseldorf, NZV 1992, 489). Die Zeugin L ist diesen Anforderungen nicht gerecht geworden. Auch dies steht zur Überzeugung des Senats aufgrund der Beweisaufnahme fest. Am Funkstreifenwagen waren Blaulicht und Martinshorn eingeschaltet. Die Zeugen S und W haben insoweit glaubhaft bekundet, die Signale bereits vor der Einmündung, die sich vor der Kreuzung, auf der die Kollision stattfand, befindet, eingeschaltet zu haben. Dies wird bestätigt durch die nicht angegriffenen Aussagen der Zeugen Bi, E, G und Br, die die Warnsignale wahrgenommen und ihre Fahrweise darauf eingestellt haben. Das Martinshorn war auch für die Zeugin L wahrnehmbar. Dies ergibt sich aus den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. H, der den Unfall an der Unfallstelle mit gleichen Fahrzeugen nachgestellt hat. Der Sachverständige hat wiederum aufgrund der Unfallschäden sowie der Endstellung der Fahrzeuge nach der Kollision eine Kollisionsgeschwindigkeit des kl. Fahrzeugs von 21 bis 32 km/h ermittelt. Darüber hinaus hat der Sachverständige durch die Unfallrekonstruktion festgestellt, daß der Signalton 49 m vor dem späteren Kollisionsort selbst ohne Erwartungshaltung eines sich nähernden Sonderrechtsfahrzeugs hörbar war. Unter Zugrundelegung dieser Distanz und einer maximalen Annäherungsgeschwindigkeit des Polizeifahrzeugs, also der günstigsten Variante für den Kl., ergibt sich, daß für die Zeugin L das Martinshorn mindestens eine Zeitspanne von 3,3 Sek. vor dem späteren Kollisionsort hörbar war. Der Sachverständige hat auf dem Zeit-Weg-Diagramm errechnet, daß die Zeugin L bei der von ihr gefahrenen Geschwindigkeit 15 m benötigte, um das Fahrzeug anzuhalten. Daraus errechnet der Sachverständige, daß die Zeugin L spätestens 1,8 Sek. vor der späteren Kollision hätte reagieren müssen, um den Unfall noch vermeiden zu können. Dementsprechend hatte sie unter Zugrundelegung der für sie günstigsten Umstände vom Zeitpunkt der ersten Wahrnehmbarkeit des Martinshorns bis zum letzten möglichen Reaktionszeitpunkt 1,5 Sek. Zeit, um auf das Sonderrechtsfahrzeug zu reagieren, so daß sie den Unfall hätte vermeiden können. Der Zeitpunkt der ersten möglichen Reaktion kann nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen H auch nicht nach hinten verlegt werden. Insbesondere hat das Martinshorn kein Intervallsignal. Es handelt sich um einen Dauerton, der sich nur hinsichtlich seiner Frequenz verändert, so daß der Kl. sich nicht darauf berufen kann, daß wegen eines tonlosen Intervalls das Martinshorn für die Zeugin L später als vom Sachverständigen zugrundegelegt hörbar war. Die Vermeidbarkeit des Unfalls für die Zeugin L folgt auch aus der optischen Wahrnehmbarkeit der Gefahrenquelle. Auch diesbezüglich hat der Sachverständige H überzeugend ausgeführt, daß das Polizeifahrzeug trotz der an der Kreuzung befindlichen Bebauung 18 m vor dem späteren Kollisionsort in den Sichtbereich der Zeugin L kam. Da sie lediglich einen Anhalteweg von 15 m bei der von ihr gefahrenen Geschwindigkeit benötigte, hätte sie auch dann noch unfallvermeidend reagieren können.

4. Aus der Abwägung der beiderseitigen Verschuldensanteile folgt, daß dem Kl. kein Schadensersatzanspruch mehr zusteht, der über den vom bekl. Land gezahlten Betrag hinausgeht. Das Mitverschulden der Zeugin L siedelt der Senat jedenfalls in der Größenordnung der noch verbleibenden Haftungsquote von 33 % an. Zwar trifft den Zeugen S das überwiegende Unfallverschulden, weil derjenige, der Sonderrechte in Anspruch nimmt, im besonderen Maße Obacht geben muß, daß alle Verkehrsteilnehmer das Martinshorn und das Blaulicht auch wahrgenommen haben, weil von einem Fahrzeug auf einer Einsatzfahrt ein besonderes Gefahrenpotential ausgeht. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Fahrer des Sonderrechtsfahrzeugs in eine Kreuzung mit einer Ampelanlage, die für ihn "rot" zeigt, einfährt. Andererseits kann auch das Mitverschulden der Zeugin L aus § 38 I StVO nicht als gering veranschlagt werden. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, daß Sonderrechtsfahrten zur Gefahrenabwehr notwendig sind. Dementsprechend ist jeder Verkehrsteilnehmer verpflichtet, seine besondere Aufmerksamkeit auf Fahrzeuge, die berechtigterweise Sonderrechte in Anspruch nehmen, zu richten, um den gefahrlosen Einsatz von Polizei- und Rettungsfahrzeugen zu ermöglichen.

Dementsprechend ist das Verschulden der Zeugin L, die es an der besonderen Aufmerksamkeit hat fehlen lassen und die auf das Einsatzfahrzeug nicht oder nicht rechtzeitig reagiert hat, jedenfalls mit 33 % zu veranschlagen.

Rechtsgebiete

Straßenverkehrs- und Straßenrecht

Normen

GG Art. 34; BGB §§ 839, 254; StVG §§ 7, 17; StVO §§ 35 I, 38 I