Elterliche Aufsichtspflicht bei gefährlichem Spielzeug (Spielzeugpistole)

Gericht

OLG Düsseldorf


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

18. 07. 1997


Aktenzeichen

22 U 5/97


Leitsatz des Gerichts

  1. Eltern verletzen ihre Aufsichtspflicht, wenn sie ihr sechs Jahre altes Kind nicht eindringlich auf die Gefahren hinweisen, die beim Umgang mit Spielzeugpistolen insbesondere dann drohen, wenn anstelle der zugehörigen Pfeile mit Saugnäpfen Stöcke oder andere Gegenstände verwendet werden; angesichts der Verbreitung und Beliebtheit solcher Spielzeugwaffen unter Kindern gilt dies auch, sofern das Kind selbst solche nicht besitzt.

  2. 40 000 DM Schmerzensgeld für den Totalverlust des rechten Auges eines dreijährigen Kindes, das beim Spiel durch einen Pfeil verletzt wird, unter Berücksichtigung erheblicher Belastungen durch Komplikationen und wiederholte Krankenhausaufenthalte mit operativen Eingriffen über einen Zeitraum von fast drei Jahren.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Parteien wohnen auf benachbarten Grundstücken. Der seinerzeit 3 Jahre und 5 Monate alte Kl. spielte am 10. 8. 1993 auf dem elterlichen Grundstück mit dem damals 6 Jahre und 8 Monate alten Bekl. zu 1. Der Kl. führte eine Spielzeug-Pistole mit sich, mit der Pfeile mittels Federkraft abgeschossen werden konnten. Der Bekl. zu 1 steckte einen Holzstab in den Lauf der Pistole und schoß ihn ab. Der Stab traf das rechte Auge des Kl. Dieser erlitt eine perforierende Hornhautverletzung mit Iris-Einklemmung. Da sich die Linse des Auges in der Folgezeit eintrübte, wurde diese Ende Mai 1995 vollständig herausgenommen. Wegen einer bösartigen Entzündung der Hornhaut mußte im Juli 1995 das rechte Auge entfernt werden. Aus einer Invaliditätsversicherung erhielt der Kl. wegen des Unfalles vom 10. 8. 1993 eine Zahlung von 56 500 DM. Mit der Klage verlangt der Kl. von dem Bekl. zu 1 und dessen Eltern ein angemessenes Schmerzensgeld. Die Bekl. haben behauptet: Die spielenden Kinder seien im wesentlichen von der Mutter des Kl. beaufsichtigt worden. Die Bekl. zu 2 habe die spielenden Kinder in unregelmäßigen Abständen von der Wohnung aus beobachtet. Bei dem Bekl. zu 1 handele es sich um einen altersgemäß entwickelten Jungen, der nicht durch „üble Streiche“ aufgefallen sei. Vor dem 10. 8. 1993 - dies ist im übrigen unstreitig - hätten die Kinder nicht mit der Spielzeugpistole geschossen.

Das LG hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Der Bekl. zu 1 hafte gem. § 838 I BGB nicht, weil er zur Unfallzeit das siebente Lebensjahr noch nicht vollendet hatte. Die Voraussetzungen, unter denen eine Ersatzpflicht des Bekl. zu 1 aus Billigkeitsgründen gem. § 829 BGB bestünde, lägen im Hinblick darauf, daß der Kl. aus einer Invaliditätsversicherung 56 500 DM erhalten habe und Umstände, die eine Billigkeitshaftung begründen könnten, nicht substantiiert dargetan seien, nicht vor. Eine Haftung der Bekl. zu 2 und 3 scheide aus, da eine Verletzung der Aufsichtspflicht nicht ersichtlich sei. Der Bekl. zu 1 habe sich beim Spiel auf dem Nachbargrundstück in der über beide Kinder ausgeübten Obhut der Mutter des Kl. befunden. Das OLG hat die Abweisung der Klage gegen den Bekl. zu 1 bestätigt, die Haftung der Bekl. zu 2 und 3 jedoch bejaht.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

I. Schmerzensgeldanspruch gegen die Bekl. zu 2 und 3. Der am 10. 12. 1986 geborene Bekl. zu 1 unterstand gem. den §§ 1626 , 1631 BGB der elterlichen Aufsichtspflicht der Bekl. zu 2 und 3. Diese haften deshalb gem. § 832 I BGB für den Schaden, den er dem Kl. widerrechtlich zugefügt hat. Daß sie ihrer Aufsichtspflicht genügt haben oder der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden wäre (§ 832 I 2 BGB), kann nicht festgestellt werden.

1. Spielzeugpistolen der hier in Rede stehenden Art, mit denen bei bestimmungsgemäßer Benutzung Pfeile abgeschossen werden, die an der Spitze Saugnäpfe tragen, sind ein bei Kindern ebenso beliebtes wie gefährliches Spielzeug. Vor allem dann, wenn anstelle der beschriebenen Pfeile schmale Stäbe oder ähnliche Gegenstände, deren Spitze nicht durch einen Saugnapf oder in anderer geeigneter Weise entschärft ist, in den Lauf der Spielzeugwaffe geschoben werden und bei auf das Gesicht des Benutzers oder eines anderen gerichtetem Lauf absichtlich oder unabsichtlich ein Schuß ausgelöst wird, besteht die Gefahr schwerer Verletzungen insbesondere der Augen. Über die Gefahr eines besonders schweren Schadens (Verlust eines Auges oder der Sehkraft eines Auges), die bei der beschriebenen Benutzung eines solchen gefährlichen Spielzeuges droht, mußten die Bekl. zu 2 und 3 den Bekl. zu 1 im Rahmen der ihnen obliegenden Aufsichtspflicht hinweisen. Zwar verfügte der Bekl. zu 1 unstreitig weder allein noch zusammen mit seinem Bruder über ein derartiges „Spielzeug“. Gleichwohl mußten die Bekl. angesichts der weiten Verbreitung und Beliebtheit sogenannter Spielzeugwaffen unter Kindern damit rechnen, daß der damals 6 Jahre und 8 Monate alte Bekl. zu 1 beim Spielen mit anderen Kindern Zugang zu solchen Spielzeugwaffen erhielt und mit diesen spielte. Sie verletzten deshalb die ihnen gem. den §§ 1626 , 1631 BGB obliegende Aufsichtspflicht, wenn sie den Bekl. zu 1 nicht eindringlich und für ihn nachvollziehbar auf die Gefahren hinwiesen, die beim Umgang mit sogenannten Spielzeugwaffen insbesondere dann drohen, wenn anstelle der zugehörigen Pfeile mit Saugnäpfen Stöcke und andere Gegenstände in deren Lauf geschoben werden.

Dieser Verpflichtung sind die Bekl. zu 2 und 3 nach ihrer eigenen Darstellung nicht, jedenfalls nicht in ausreichendem Maße nachgekommen. Sie behaupten zwar, sie hätten den Bekl. zu 1 ebenso wie seinen Bruder über die von Schußwaffen ausgehenden Gefahren allgemein belehrt. Die behauptete Belehrung betraf aber so allgemein, wie sie in der Berufungserwiderung dargestellt ist, echte Schußwaffen und deren Gefährlichkeit. Eine Warnfunktion im Hinblick auf die Gefahren beim Umgang mit sogenannten Spielzeugwaffen, die für ein sechsjähriges Kind nicht ohne weiteres erkennbar sind, kann ihr jedoch nicht beigemessen werden. Tatsächlich haben die Bekl. zu 2 und 3 eine Warnung und Belehrung des Bekl. zu 1 über diese Gefahren nicht für erforderlich gehalten, weil sie - und darin liegt der gegen sie zu erhebende Schuldvorwurf begründet - in fehlerhafter Einschätzung der erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen davon ausgegangen sind, eine Aufklärung des Bekl. zu 1 sei insoweit nicht erforderlich, weil er nicht über derartiges „Spielzeug“ verfügte und es auch nicht in die Hand bekommen könnte.

2. Daß die Verletzung des Kl. auch bei gehöriger Belehrung des Bekl. zu 1 eingetreten wäre (§ 832 I 2 BGB), läßt sich nicht feststellen. Tatsächliche Umstände, die diesen Schluß rechtfertigen könnten, sind von den hierfür darlegungs- und beweispflichtigen Bekl. zu 2 und 3 nicht dargetan und auch sonst nicht ersichtlich.

3. Der selbst nicht schuldfähige Kl. braucht sich ein mögliches Mitverschulden seiner Eltern bei der Entstehung des Schadens nicht gem. § 254 II 2 BGB anrechnen zu lassen. Zwar spricht manches dafür, den Eltern des Kl. deshalb eine Mitschuld an der Augenverletzung anzulasten, weil sie ihrem erst 3 Jahre alten Kl. die gefährliche Spielzeugpistole zum Spiel mit anderen Kindern überlassen haben. Sie mußten ebenso wie die Bekl. zu 2 und 3 damit rechnen, daß der Kl. selbst oder Spielkameraden, wie der deutlich ältere Bekl. zu 1, beim Spiel mit diesem Gerät bestimmungswidrig spitze Gegenstände (Stäbe, Stöckchen usw.) als Pfeile verwendeten und sich selbst sowie andere dadurch gefährdeten, und im Rahmen der Aufsicht über den Kl. die Benutzung der Spielzeugpistole unterbinden.

Die Frage, ob den Eltern des Kl. insoweit eine Verletzung ihrer Pflichten bei der Ausübung der elterlichen Sorge gegenüber dem Kl. zur Last fällt, kann aber letztlich ebenso unentschieden bleiben wie die weitere Frage, ob sie unter Berücksichtigung des milderen Sorgfaltsmaßstabes des § 1664 I BGB dem Kl. für diesen Schaden haften. Der Kl. brauchte sich ein etwaiges Mitverschulden seiner Eltern als gesetzliche Vertreter nur dann gem. den §§ 264 II 2, 278 BGB anrechnen zu lassen, wenn zwischen ihm und dem Bekl. zu 1 eine rechtliche Sonderverbindung bestanden hätte (vgl. BGHZ 103, 338 [342] = NJW 1988, 2667 [2668] = LM § 823 BGB [Dc] Nr. 165). Das war aber nicht der Fall. Ein Sonderrechtsverhältnis, aus dem sich der Kl. ein Mitverschulden seiner Eltern nach § 278 BGB zurechnen lassen mußte, ist nicht schon allein dadurch begründet worden, daß der Bekl. zu 1 unter den Augen der Mutter des Kl., also mit deren Zustimmung, auf dem Grundstück der Eltern des Kl. mit diesem gespielt hat.

4. Ein Schmerzensgeld in Höhe von 40 000 DM erscheint unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere auch der Belastungen des Kl. durch die eingetretenen Komplikationen und die wiederholten, mit operativen Eingriffen verbundenen Krankenhausaufenthalte, die sich über einen Zeitraum von fast 3 Jahren erstreckten, für den Totalverlust des rechten Auges angemessen. Der Kl. hat zwar die Größenordnung des Schmerzensgeldes, die er für angemessen hält, weder im Klageantrag noch in der Begründung ausdrücklich genannt und lediglich im Kopf der Klageschrift den Streitwert „vorläufig“ mit 20 000 DM angegeben. Soweit darin eine Angabe der Größenvorstellung des begehrten Schmerzensgeldes liegt, sind dem Senat bei der Festsetzung des angemessenen Schmerzensgeldes im Hinblick auf § 308 ZPO keinen Grenze gesetzt (vgl. BGH, NJW 1996, 2425 [2427]; der Senat hält insoweit an seiner abweichenden Ansicht - vgl. OLG Düsseldorf, OLG-Report 1994, 239 = NJW-RR 1995, 955 - nicht mehr fest).

II. Schmerzensgeldanspruch gegen den Bekl. zu 1. Die Voraussetzungen für eine Haftung des Bekl. zu 1 aus Billigkeitsgründen gem. § 829 BGB liegen nicht vor. Sie wären, da die Schmerzensgeldklage gegen die Bekl. zu 2 und 3 gem. § 832 I BGB begründet ist, nur dann gegeben, wenn der Kl. von den letztgenannten aus tatsächlichen Gründen Ersatz nicht verlangen könnte. Das ist jedoch nicht ersichtlich. Unstreitig besteht vielmehr auf Seiten der Bekl. eine private Haftpflichtversicherung, die für den mit der Klage verfolgten Schmerzensgeldanspruch des Kl. einzutreten hat. Die von den Bekl. zu 2 und 3 abgeschlossene Haftpflichtversicherung umfaßt auch die gegen sie gerichteten Schadensersatzansprüche wegen Verletzung der ihnen gegenüber dem Bekl. zu 1 obliegenden Aufsichtspflicht.

Rechtsgebiete

Schadensersatzrecht

Normen

BGB §§ 832, 847, 1626, 1631