Weiterbeschäftigung eines Auszubildenden zumutbar

Gericht

BAG 7. Senat


Art der Entscheidung

Beschluss über Beschwerde


Datum

12. 11. 1997


Aktenzeichen

7 ABR 63/96


Leitsatz des Gerichts

Die Weiterbeschäftigung eines nach den Bestimmungen des § 78a BetrVG geschützten Auszubildenden kann dem Arbeitgeber im Sinne des § 78a Abs. 4 BetrVG zuzumuten sein, wenn er einen innerhalb von drei Monaten vor der vertraglich vereinbarten Beendigung des Ausbildungsverhältnisses frei werdenden Arbeitsplatz besetzt und die sofortige Neubesetzung nicht durch dringende betriebliche Erfordernisse geboten ist (vergl. auch Senatsbeschluß vom 12. 11. 1997 - 7 ABR 73/96).

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

A. Die Beteiligten streiten über die Auflösung des Arbeitsverhältnisses eines Mitglieds der Jugend- und Auszubildendenvertretung.

Die beteiligte Arbeitgeberin betreibt eine Fleischwarenfabrik mit etwa 1300 Arbeitnehmern. Der Beteiligte zu 2) ist Vorsitzender der dort gebildeten Jugend- und Auszubildendenvertretung. Er wurde von der Arbeitgeberin vom 1. 8. 1992 bis zum 18. 1. 1996 (letzter Tag der durchweg befriedigend bestandenen Abschlußprüfung) zum Energieelektroniker Fachrichtung Betriebstechnik ausgebildet. Mit Schreiben vom 24. 11. 1995 verlangte er die Übernahme in ein unbefristetes Vollzeitarbeitsverhältnis nach Abschluß seiner Ausbildung.

Die Arbeitgeberin beschäftigt 43 Elektriker, davon 37 auf eingerichteten Planstellen und sechs als Springer zur Überbrückung von Ausfällen. Zum 31. 10. 1995 schied ein Stelleninhaber aus dem Arbeitsverhältnis aus. Mit Arbeitsvertrag vom 12. 12. 1995 stellte die Arbeitgeberin für ihn einen Elektriker ab 14. 12. 1995 mit Zustimmung des Betriebsrats befristet bis zum 13. 6. 1997 ein.

Die Arbeitgeberin hat die Auflösung des zwischen ihr und dem Beteiligten zu 2) gemäß § 78a Abs. 2 BetrVG ab 19. 1. 1996 entstandenen Arbeitsverhältnisses mit der Begründung verlangt, die Fortsetzung dieses Arbeitsverhältnisses sei ihr unzumutbar, weil sie am 19. 1. 1996 über keinen freien Arbeitsplatz verfügt habe. Bereits Ende November 1995 habe sie dem im Dezember eingestellten Elektriker die Einstellung zugesagt; zu diesem Zeitpunkt habe sie das Übernahmeverlangen des Beteiligten zu 2) noch nicht gekannt. Der Arbeitsplatz des ausgeschiedenen Arbeitnehmers habe so schnell wie möglich wieder besetzt werden müssen, weil eine dringende Personalanforderung aus dem Elektrobereich vorgelegen habe. Zwar sei richtig, daß sie ihre Mitteilungspflicht nach § 78a Abs. 1 BetrVG nicht erfüllt habe; sie habe jedoch diese gesetzliche Vorschrift nicht gekannt.

Die Arbeitgeberin hat beantragt, das nach § 78a Abs. 2 BetrVG begründete Arbeitsverhältnis aufzulösen.

Der Beteiligte zu 2) hat beantragt, den Antrag zurückzuweisen. Er hat gemeint, die Arbeitgeberin habe den durch das Ausscheiden eines Elektrikers frei gewordenen Arbeitsplatz für ihn freihalten müssen. Da die Arbeitgeberin ihre Mitteilungspflicht nach § 78a Abs. 1 BetrVG verletzt habe, könne sie sich nicht darauf berufen, zur Zeit der Einstellungszusage gegenüber einem Betriebsfremden das Übernahmeverlangen des Beteiligten zu 2) noch nicht gekannt zu haben.

Das ArbG hat den Antrag abgewiesen. Das LAG hat die Beschwerde der Arbeitgeberin zurückgewiesen. Die vom LAG zugelassene Rechtsbeschwerde der Arbeitgeberin hat keinen Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

B.

Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet. Das LAG hat es im Ergebnis zu Recht abgelehnt, das nach § 78a Abs. 2 BetrVG entstandene Arbeitsverhältnis gemäß § 78a Abs. 4 BetrVG aufzulösen, weil der Arbeitgeberin die Weiterbeschäftigung des Beteiligten zu 2) nicht unzumutbar war.


I.

1. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG ist für die Feststellung der Unzumutbarkeit einer Weiterbeschäftigung i.S. des § 78a Abs. 4 BetrVG auf den Zeitpunkt der Beendigung des Berufsausbildungsverhältnisses abzustellen (vgl. insbesondere BAG Beschluß vom 16. 8. 1995 - 7 ABR 52/94 - AP Nr. 25 zu § 78a BetrVG1972, m.w.N.). Die Weiterbeschäftigung ist dem Arbeitgeber grundsätzlich dann unzumutbar, wenn zu diesem Zeitpunkt im Ausbildungsbetrieb kein freier Arbeitsplatz vorhanden ist, auf dem der Auszubildende mit seiner durch die Ausbildung erworbenen Qualifikation beschäftigt werden kann (BAG Beschlüsse vom 24. 7. 1991 - 7 ABR 68/90 - BAG 68, 187 = AP Nr. 23 zu § 78a BetrVG1972; vom 16. 8. 1995, AP Nr. 25 zu § 78a BetrVG1972; und vom 6. 11. 1996 - 7 ABR 54/95 - AP Nr. 26 zu § 78a BetrVG1972 [Für die Amtl. Samml. bestimmt], jeweils m.w.N.).

2. Der Begriff der Unzumutbarkeit i.S. des § 78a Abs. 4 BetrVG ist unabhängig von den zu § 626 Abs. 1 BGB entwickelten Grundsätzen zu bestimmen. Denn während diese Vorschrift darauf abstellt, ob dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses lediglich bis zum Ablauf der Kündigungsfrist bzw. bis zur vereinbarten Beendigung zugemutet werden kann, ist bei § 78a Abs. 4 BetrVG zu entscheiden, ob ihm die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis zumutbar ist. Dies ist grundsätzlich zu verneinen, wenn der Arbeitgeber keinen andauernden Bedarf für die Beschäftigung eines Arbeitnehmers hat (BAG Beschluß vom 6. 11. 1996, AP Nr. 26 zu § 78a BetrVG1972).

3. Ob der Arbeitgeber einen andauernden Beschäftigungsbedarf hat und mithin ein freier Arbeitsplatz für den durch § 78a BetrVG geschützten Auszubildenden zur Verfügung steht, bestimmt sich nicht danach, ob Arbeitsaufgaben vorhanden sind, mit deren Verrichtung ein Arbeitnehmer betraut werden könnte. Jedenfalls in der Privatwirtschaft richtet sich das Bestehen eines freien Arbeitsplatzes nicht danach, ob eine freie „Planstelle“ vorhanden ist oder eine nach objektiven Kriterien meßbare Arbeitsmenge zu erledigen ist. Welche Arbeiten im Betrieb verrichtet werden sollen und wieviele Arbeitnehmer damit beschäftigt werden, bestimmt vielmehr der Arbeitgeber durch seine arbeitstechnischen Vorgaben und seine Personalplanung. Entscheidet er sich dafür, die vorhandenen Arbeiten nicht durch zusätzliche Arbeitnehmer verrichten zu lassen, und hat er mithin keinen Einstellungsbedarf, so ist ein freier Arbeitsplatz nicht vorhanden. Von Mißbrauchsfällen abgesehen ist deshalb der Arbeitgeber grundsätzlich auch nicht gehindert, durch eine Veränderung der Arbeitsorganisation Arbeitsplätze wegfallen zu lassen (BAG Beschluß vom 6. 11. 1996, AP Nr. 26 zu § 78a BetrVG1972).


II.

Der Senat hält an dem Grundsatz fest, daß der Zeitpunkt der Beendigung des Ausbildungsverhältnisses für die Beurteilung der Unzumutbarkeit maßgebend ist. Dieser Grundsatz bedeutet indessen nicht, daß das Vorhandensein eines freien Arbeitsplatzes kurz vor diesem Zeitpunkt bei der Beurteilung der Unzumutbarkeit stets außer Betracht zu bleiben hätte.

1. Der Begriff der Unzumutbarkeit ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, bei dessen Ausfüllung alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen und zu bewerten sind, wie § 78a Abs. 4 Satz 1 BetrVG ausdrücklich bestimmt. Das LAG ist daher im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, daß es dem Arbeitgeber im Einzelfall zumutbar sein kann, den Jugend- und Auszubildendenvertreter auf Dauer in einem Arbeitsverhältnis zu beschäftigen, weil er einen kurz vor der Beendigung der Berufsausbildung frei gewordenen Arbeitsplatz wieder besetzt hat, statt ihn für einen nach § 78a BetrVG geschützten Auszubildenden freizuhalten. Das gilt regelmäßig bei einer Besetzung, die innerhalb von drei Monaten vor dem vereinbarten Ende des Ausbildungsverhältnisses vorgenommen wird. Das folgt aus dem Zweck der Schutzbestimmungen des § 78a Abs. 2 und Abs. 4 BetrVG. Der Arbeitgeber muß innerhalb des Drei-Monatszeitraumes des § 78a Abs. 2 mit einem Übernahmeverlangen rechnen. Er muß dem Verlangen entsprechen, wenn nicht die Ausnahmetatbestände des § 78a Abs. 4 BetrVG vorliegen. Daraus folgt seine ergänzende Pflicht, bei Einstellungsvorhaben in diesem Zeitraum die Möglichkeit eines Übernahmeverlangens gemäß § 78a Abs. 2 BetrVG und damit das Entstehen eines Arbeitsverhältnisses kraft Gesetzes zu berücksichtigen.

2. Bei der abschließenden Entscheidung, ob der Arbeitsplatz für den Auszubildenden freigehalten wird oder nicht, hat der Arbeitgeber alle Umstände des Falles zu würdigen. Dazu kann die Reaktion des geschützten Auszubildenden auf eine eventuell abgegebene Erklärung nach § 78a Abs. 1 BetrVG gehören, insbesondere seine Antwort auf eine ausdrückliche Anfrage des Arbeitgebers über seine Vorstellungen hinsichtlich seiner beruflichen Zukunft. Allerdings ist dabei zu beachten, daß der Auszubildende das Übernah meverlangen noch bis zum letzten Tag des Berufsausbildungsverhältnisses stellen kann. Da der Arbeitgeber mithin während des Drei-Monatszeitraums stets mit dem späteren Entstehen eines Arbeitsverhältnisses auch gegen seinen Willen rechnen muß, liegt es in seinem eigenen Interesse, sich vor der Neubesetzung eines für den Auszubildenden geeigneten Arbeitsplatzes beim Auszubildenden nach dessen etwaigem Übernahmewunsch zu erkundigen. Wenn allerdings der Auszubildende einen solchen Wunsch zunächst verneint bzw. trotz Anfrage des Arbeitgebers keine Stellungnahme abgibt, kann dies bei der Würdigung der Unzumutbarkeit zu seinen Lasten berücksichtigt werden.

3. Regelmäßig hat der Arbeitgeber vor der Entscheidung über die Neubesetzung eines freien Arbeitsplatzes die Dauer der Vakanz einerseits und die Dringlichkeit des betrieblichen Interesses an der sofortigen anderweitigen Besetzung des Arbeitsplatzes zu berücksichtigen. Je kürzer die Dauer der Vakanz, desto dringlicher muß das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Neubesetzung sein. Die tatsächlichen Grundlagen für die Entscheidung und die vom Arbeitgeber hierzu angestellten Überlegungen hat dieser im Auflösungsverfahren darzulegen.

4. Nach diesen Maßstäben erweist sich die Würdigung des LAG als rechtsfehlerfrei, der beteiligten Arbeitgeberin sei es zuzumuten gewesen, den Arbeitsplatz des am 31. 10. 1995 ausgeschiedenen Mitarbeiters bis zum Ausbildungsende für den Beteiligten zu 2) freizuhalten. Insbesondere hat das LAG das Vorbringen einer „dringenden Personalanforderung“ aus dem Elektrobereich zu Recht nicht als ausreichenden betrieblichen Grund für eine sofortige Neubesetzung jenes Arbeitsplatzes angesehen. Das ist schon deswegen zutreffend, weil für Dringlichkeitsfälle im Elektrobereich sechs Springer zur Verfügung standen und die Arbeitgeberin nicht vorgetragen hat, welche sachlichen Gründe es geboten erscheinen ließen, der Personalanforderung dennoch sofort Rechnung zu tragen.

Rechtsgebiete

Arbeitsrecht

Normen

BetrVG 1972 § 78a