Fahrerprivileg gegenüber Kaskoversicherer - Sich-Umdrehen der Fahrerin nach Kleinkind während Autobahnfahrt

Gericht

OLG Brandenburg


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

28. 01. 1997


Aktenzeichen

2 U 94/96


Leitsatz des Gerichts

Wenn sich die autofahrende Mutter während einer ca. 100 km/h schnellen Autobahnfahrt nach ihrem Kind umdreht, weil sie unbekannte Würgegeräusche des Kindes gehört hat, handelt die Autofahrerin nicht grob fahrlässig und verliert ihren Vollkasko-Versicherungsschutz nicht.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Senat hatte die Frage zu entscheiden, ob eine Pkw-Fahrerin einem Rückgriff des Fahrzeugversicherers nach § 15 II AKB ausgesetzt ist, nachdem es zu einer Beschädigung des Autos dadurch gekommen war, daß die Fahrerin sich auf der Autobahn nach ihrem im Fond des Wagens sitzenden Kleinkind umgedreht hat, um - nach ihrer Darstellung des Sachverhalts - den Grund für ein Würgen des Kinds festzustellen. Der Senat hat die Frage verneint und die Berufung des Versicherers gegen das - ausschließlich auf § 67 II VVG gestützte - Urteil des LG Potsdam (NJWE-VHR 1997, 273 (in diesem Heft)) zurückgewiesen.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Dem Rückgriffsanspruch des Kl. gegenüber der Bekl. aus § 67 I VVG steht bereits die Fahrerprivilegierung nach § 15 II AKB entgegen. Die Frage, ob das in § 67 II VVG vorgesehene Familienprivileg auch im Fall einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft Anwendung findet, bedurfte daher vorliegend keiner Entscheidung.

§ 15 II AKB findet Anwendung. Die Regelungen der AKB haben gem. § 4 I 1 PflVG Allgemeingültigkeit und sind Vertragsbestandteil eines jeden Kraftfahrtversicherungsvertrags, und zwar auch ohne besondere Vereinbarung gem. §§ 2 , 23 Nr. 3 AGBG (vgl. Prölss/Martin, VVG, 25. Aufl., Einf. AKB Rdnr. 1). Die Rückgriffsmöglichkeit des Kl. als Vollkaskoversicherer des Unfallwagens bestimmt sich nach den Regelungen über die Kraftfahrzeugversicherung, §§ 12 ff. AKB, und beschränkt sich im Falle einer Inanspruchnahme des berechtigten Fahrers, wie hier der Bekl., auf die Fälle grober Fahrlässigkeit, § 15 II AKB. Für das Vorliegen von Tatsachen, die den Vorwurf grob fahrlässigen Verhaltens rechtfertigen, trifft den Kl. die Darlegungs- und Beweislast (vgl. Prölss/Martin, § 61 VVG Anm. 6). Hierzu hat der Kl., nachdem er ursprünglich drei in Frage stehende Unfallvarianten offengelassen hatte, seinen Vortrag in der mündlichen Verhandlung dahingehend konkretisiert, er gehe davon aus, nur die im Rahmen der polizeilichen Vernehmung unmittelbar nach dem Unfall abgegebene Erklärung der Bekl. entspreche dem tatsächlichen Unfallhergang: Danach habe sich die Bekl. wegen ihres auf dem Rücksitz weinenden Kleinkinds umgedreht, um ihm einen Schnuller zu geben. War dem so, so würde dies den Vorwurf grob fahrlässigen Verhaltens rechtfertigen. Es läge dann ein Fehlverhalten vor, bei dem aus objektiver Sicht die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt und schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt worden wären: Die Bekl. hätte das nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten mußte (vgl. BGHZ 89, 161 = NJW 1984, 789). Dreht sich ein Autofahrer um, stellt dies wegen der damit notwendig verbundenen weitergehenden Bewegung als bei einem bloßen Schulterblick angesichts einer Geschwindigkeit von ca. 100 km/h und offensichtlich schlechten Straßenverhältnissen einen Fahrfehler dar, der einem Kraftfahrer schlechterdings nicht unterlaufen darf (vgl. z.B. OLG München, NJW 1994, 3237 L = VersR 1995, 165; OLG Köln, VersR 1983, 575; in vergleichbaren Fällen). Es läge auch in subjektiver Hinsicht ein unentschuldbares Fehlverhalten vor. Weinte das Kind nur, wäre es der Bekl. auch subjektiv ohne weiteres zumutbar gewesen, erst die nächste Ausfahrt oder Haltemöglichkeit anzusteuern, um ihrem Kind dann - für sich und andere - gefahrlos den Schnuller geben zu können. Diesen Vortrag hat die Bekl. allerdings dahingehend bestritten, daß ihr Umdrehen nicht nur durch ein Weinen des Kinds veranlaßt gewesen sei. Umgedreht habe sie sich erst als Folge auf ein ihr bis dahin unbekanntes Würggeräusches des Kinds und in der Sorge, es könnte sich übergeben, ersticken oder irgend etwas im Mund haben. Wenn dies dem tatsächlichen Unfallhergang entsprechen würde, könnte der Bekl. allerdings nach Auffassung des Senats in subjektiver Hinsicht kein Vorwurf eines schweren Fehlverhaltens gemacht werden. Denn dann hätte sich die Bekl. in einer Konfliktsituation befunden - Sorgfaltspflichten eines Kraftfahrers bei Fahren in hoher Geschwindigkeit einerseits und Sorgfaltspflichten einer Mutter bei eventueller Lebensbedrohung ihres Kinds andererseits -, bei der ein kurzes Umdrehen zur Orientierung jedenfalls nicht als ein auch in subjektiver Hinsicht grob fahrlässiges Fehlverhalten gewertet werden kann. Ob die Bekl. dabei vor dem Umdrehen in den Rückspiegel geschaut hatte, stellt demgegenüber nur eine unwesentliche Abweichung von ihrem jetzigen Vorbringen dar und ändert nichts an der Erheblichkeit ihres Bestreitens.

Der Kl. hat gegenüber diesem Vortrag der Bekl. nicht den ihm obliegenden Beweis erbracht, daß die Bekl. sich auf ein bloßes Weinen des Kinds umgedreht und damit den Unfall grob fahrlässig herbeigeführt hat. Der Kl. hat sich insoweit auf das dem Senat vorliegende Protokoll der polizeilichen Vernehmung der Bekl. unmittelbar nach dem Unfall bezogen. Danach will die Bekl. nicht auf ein Würgegeräusch, sondern auf ein bloßes Weinen sich umgedreht haben. Unter den Parteien ist unstreitig, daß die Bekl. gegenüber der Polizei eine solche Erklärung abgegeben hat. In Anbetracht dessen, daß ein Unfallbeteiligter nach allgemeiner Lebenserfahrung unmittelbar nach dem Unfall noch über die frischeste Erinnerung verfügt und diese meist spontan - auch zur eigenen Verarbeitung des gerade Erlebten - wiedergibt, stellt das polizeiliche Protokoll zunächst ein erhebliches Indiz für die Unfalldarstellung des Kl. dar. Die Bekl. hat den Beweiswert dieses Indizes jedoch nachhaltig durch die Behauptung erschüttert, sie sei zum Zeitpunkt der polizeilichen Vernehmung nicht vernehmungsfähig gewesen. Die Bekl. hatte hierzu bereits in erster Instanz darauf hingewiesen, daß sie bei der im Krankenhaus erfolgten Vernehmung unmittelbar nach dem Unfall schockbedingt nicht in der Lage gewesen sei, konkrete und zutreffende Angaben zum Unfallgeschehen zu machen. Der Umstand, daß ihr Kind durch den Unfall verletzt worden sei und entsprechend habe behandelt werden müssen, habe bei ihr so erhebliche Schuldgefühle ausgelöst, daß ihr eine Wahrnehmung der Realität nicht mehr möglich gewesen sei. So habe etwa ihr damaliger Lebensgefährte sie am Handwaschbecken im Krankenzimmer imaginäre Wäsche waschen sehen. Dies ergänzte die Bekl. im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung dahin, letztlich sei der Inhalt ihrer protokollierten Aussage - so die Bekl. im Senatstermin - wohl darauf zurückzuführen, daß sie Umstände, die sich unmittelbar nach dem Unfall ereignet hätten - Frage eines Helfenden nach dem Unfall, was noch aus dem Unfallwagen benötigt werde, und ihre Antwort darauf: der Schnuller für das nunmehr weinende Kind - mit Umständen kurz vor dem Unfallgeschehen - Würggeräusche des Kinds - verwechselt habe.

Wenn sich der Kl. zum Beweis für seine Unfalldarstellung weiterhin auf die Angaben der Bekl. gegenüber der Polizei berufen will, wäre es unter diesen Umständen seine Sache, Beweis für die Vernehmungsfähigkeit der Bekl. anzutreten. Ein entsprechender Beweisantritt ist nicht erfolgt. Der Kl. hat auch nicht auf andere Weise Beweis dafür angetreten, daß sich der Unfall so, wie jetzt von ihm behauptet, abgespielt hat. Nach allem ist der Kl. für ein grob fahrlässiges Verhalten der Bekl. beweisfällig geblieben. Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Rechtsgebiete

Versicherungsrecht

Normen

VVG § 67; AKB § 15 II