Existenzgefährdende Haftung Minderjähriger

Gericht

BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats)


Art der Entscheidung

Beschluss über Vorlage


Datum

13. 08. 1998


Aktenzeichen

1 BvL 25/96


Leitsatz des Gerichts

Ein Jugendlicher, der das siebente, aber nicht das zehnte Lebensjahr vollendet hat, ist für den Schaden, den er verursacht hat, nicht verantwortlich, es sei denn die Verletzung wurde vorsätzlich herbeigeführt. Diese in § 828 Abs. 2 BGB enthaltene Regel kann nicht erfolgreich als verfassungswidrig angegriffen werden.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Bekl. des Ausgangsverfahrens war im Alter von 16 Jahren an einem Verkehrsunfall beteiligt. Er fuhr ohne Fahrerlaubnis auf einem Moped und nahm seine 13jährige Freundin auf dem Soziussitz mit. Eine Haftpflichtversicherung bestand nicht. Die Freundin trug keinen Sturzhelm. Der Bekl. bog an einer Kreuzung in die Vorfahrtsstraße ein und stieß dabei mit einem vorfahrtberechtigten Lkw zusammen. Bei diesem Unfall wurde die Freundin des Bekl. schwer verletzt. Sie erlitt eine komplizierte Fraktur der Schädeldecke mit schweren Gehirnfunktionsstörungen. Das Mädchen war bis Ende 1995 ein Schwerpflegefall und benötigte umfangreiche Rehabilitationsmaßnahmen. Die Kosten des Unfalleinsatzes und der Behandlung wurden von der Krankenversicherung des Mädchens übernommen.

Im Ausgangsverfahren nahm der Krankenversicherungsträger den Bekl. in Regreß und trug vor, daß ihm insgesamt Kosten in Höhe von rund 241000 DM entstanden seien. Die Haftpflichtversicherung des Lkw-Fahrers habe davon einen Kostenanteil von 30000 DM übernommen, so daß ein offener Betrag von 211000 DM verbleibe. Das Mitverschulden des Mädchens bewerte er mit 30%. Demnach müsse der Bekl. Schadensersatz in Höhe von rund 153000 DM leisten. Ferner beantragte der Krankenversicherungsträger die Feststellung, daß die Bekl. der Versicherung auch den weitergehenden materiellen Schaden im Rahmen der Überleitungsfähigkeit nach § 116 SGB X zu ersetzen habe. Dem Mädchen müßten voraussichtlich auch künftig Schwerpflegegelder, Kosten für Sprachtherapie und eventuell Rentenleistungen gezahlt werden.

Das LG führte eine mündliche Verhandlung ohne Beweisaufnahme durch, setzte anschließend das Verfahren aus und legte die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 828 II BGB zur verfassungsrechtlichen Prüfung vor. § 828 II BGB sei in den Fällen mit Art. 1 , 2 und 6 II 2 GG unvereinbar, in denen Minderjährige im Alter zwischen sieben und 17 Jahren in langfristiger und unerträglich belastender Weise auf Schadensersatz in Anspruch genommen würden, obwohl ihr fahrlässiges Verhalten eine typische Jugendverfehlung darstelle und obwohl die finanzielle Entschädigung des Opfers von dritter Seite (z.B. durch eine Versicherung) gewährleistet sei.

Der Antrag wurde als unzulässig zurückgewiesen.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

II. 1. Der Zulässigkeit der Vorlage steht entgegen, daß es sich bei § 828 II BGB um vorkonstitutionelles Recht handelt. Der Normenkontrolle des BVerfG im Verfahren des Art. 100 I GG unterliegen Gesetze dann nicht, wenn sie vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes, als „vorkonstitutionelles„ Recht, verkündet worden sind. . . .

Das vorlegende Gericht hat selbst ausgeführt, daß der Titel über unerlaubte Handlungen im BGB seit 96Jahren nahezu unverändert geblieben ist. Der nachkonstitutionelle Gesetzgeber hat sich nur ganz allgemein mit einigen Folgefragen der deliktischen Haftung beschäftigt (Verjährung: § 852 II BGB; Vollstreckung: § 850f II ZPO, § 302 Nr. 1 InsO; Aufrechnung: § 84 II BBG; Zeitpunkt des Inkrafttretens in den neuen Bundesländern: Art. 232 § 10 EGBGB). Darin kann allenfalls eine Bestätigung des allgemeinen Prinzips der verschuldensabhängigen Deliktshaftung, nicht aber eine spezielle Befassung mit der Minderjährigenhaftung gesehen werden.

Mit dem Problem der deliktischen Minderjährigenhaftung und der dafür maßgeblichen Vorschrift des § 828 BGB hat sich der Gesetzgeber seit Inkrafttreten des Grundgesetzes inhaltlich nicht befaßt. Der Deutsche Bundestag hat weder Änderungen am Text der Vorschrift vorgenommen noch Gesetzesinitiativen zur Änderung der Norm abgelehnt. Eine inhaltliche Befassung mit der Minderjährigenhaftung kam auch nicht zustande, als die zum Bereich der Kindeshaftung gehörende Billigkeitsklausel des § 829 BGB im Zuge des Familienrechtsänderungsgesetz vom 11. 8. 1961 (BGBl I, 1221 [1226]) neu gefaßt wurde. Durch diese Novelle wurde lediglich die unzeitgemäße Formulierung „standesgemäß„ durch den modernen Ausdruck „angemessen„ ersetzt. Mit dieser rein sprachlichen Änderung war keine inhaltliche Entscheidung bezweckt (BT-Dr III/530, S. 25). Tauscht der Gesetzgeber lediglich ein veraltetes durch ein neues Wort aus, liegt darin grundsätzlich keine Aufnahme der vorkonstitutionellen Regelung in den Willen des Gesetzgebers (BVerfGE 25, 25 [27]).

Auch das Schweigen des Gesetzgebers zur bisherigen Rechtsprechung der Zivilgerichte kann nicht als ausreichender objektiver Anhaltspunkt für einen Bestätigungswillen angesehen werden (BVerfGE 78, 20 [25] = NJW 1988, 1902). Ebenso wenig kann sein Schweigen zu privaten oder ministeriellen Reformüberlegungen in eine Bestätigung der bisherigen Gesetzeslage umgedeutet werden. Die strenge Haftung nach § 828 II BGB ist zwar außerhalb des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens immer wieder kritisiert worden. Es mangelt auch nicht an Reformvorschlägen, die von einer Änderung der Altersgrenzen und einer stärkeren Haftung der Erziehungsberechtigten über eine Reduktion der Kindeshaftung nach Billigkeitsgesichtspunkten bis hin zur Einführung einer Pflichtversicherung für Kinder reichen (vgl. Scheffen, DAR 1991, 121ff.; Goecke, Die unbegrenzte Haftung Minderjähriger im DeliktsR, 1997, S. 194-259). Diese Überlegungen sind aber bislang nicht in den parlamentarischen Prozeß vorgedrungen. Der parlamentarische Gesetzgeber war - soweit ersichtlich - seit Inkrafttreten des Grundgesetzes mit der Frage der Minderjährigenhaftung nicht befaßt, so daß § 828 BGB als vorkonstitutionelles Recht anzusehen ist (vgl. Canaris, JZ 1990,679, [6781]).

2. Die Richtervorlage erfüllt im übrigen nicht die Begründungsanforderungen des § 80 II BVerfGG.

a) Nach dieser Vorschrift muß die Begründung angeben, inwiefern von der Gültigkeit der Rechtsvorschrift die Entscheidung des vorlegenden Gerichts abhängt und mit welchen übergeordneten Rechtsvorschriften sie unvereinbar ist. Dem genügt eine Richtervorlage nur, wenn das Gericht die für seine Entscheidung maßgebenden Erwägungen nachvollziehbar darlegt und sich dabei mit sämtlichen naheliegenden Gesichtspunkten auseinandersetzt (BVerfG 86, 52 [57] = NJW 1992, 2411; st. Rspr.). In diesem Zusammenhang kann es erforderlich sein, vor der Anrufung des BVerfG zu prüfen, ob ein verfassungswidriges Ergebnis auf andere Weise - etwa durch Heranziehung anderer Vorschriften - vermieden werden kann (BVerfGE 88, 187 [194f.] = NJW 1993, 2733).

b) Im vorliegenden Fall hat das LG zwar die Entscheidungserheblichkeit des § 828 II 1 BGB hinreichend begründet und auch plausibel ausgeführt, daß die unbegrenzte Haftung Minderjähriger im Hinblick auf Art. 1 I i.V. mit Art. 2 I GG verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet. Es hat sich aber nicht ausreichend mit der Frage beschäftigt, welche einfachrechtlichen Möglichkeiten zur Korrektur der Minderjährigenhaftung zur Verfügung stehen.

Dabei fällt es nicht entscheidend ins Gewicht, daß das LG die Mitschuld des Lkw-Fahrers und damit mögliche Erstattungsansprüche des Minderjährigen gegenüber dem Lkw-Fahrer nach den §§ 840 , 426 BGB nicht im erforderlichen Maße untersucht hat. Zwar müßten auch diese Ansprüche bei der Frage der existenzvernichtenden Wirkung der Minderjährigenhaftung näher geprüft werden. Es spricht aber im vorliegenden Fall vieles dafür, daß dadurch keine durchgreifende Entlastung des Minderjährigen eingetreten wäre.

Jedenfalls hätte das LG näher prüfen müssen, ob der Bekl. nach Abschluß des zivilgerichtlichen Verfahrens von dem Träger der Krankenversicherung einen Forderungserlaß erreichen kann. Auf Antrag hat ein Sozialversicherungsträger nach § 76 II Nr. 3 SGB IV zu prüfen, ob er eine Forderung zur Vermeidung unbilliger Härten erlassen kann. Diese Vorschrift gilt auch für nach § 116 SGB X übergeleitete Schadensersatzansprüche (Palandt/Heinrichs, BGB, 57. Aufl. [1998], Vorb. § 249 Rdnr. 158). Sie gibt dem Betroffenen einen öffentlichrechtlichen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über den Forderungserlaß, was grundsätzlich von den Sozialgerichten überprüft wird (BSG, NJW 1990, 342 = VersR 1990, 175f.; BGHZ 88, 296 = NJW 1984, 240 = LM § 1542 RVO Nr. 126). Bei dieser Entscheidung müssen die Sozialversicherungsträger die Grundrechte des Betroffenen berücksichtigen. Daher hätte es einer eingehenden Erörterung der Frage bedurft, ob der Grundrechtsschutz des Bekl. nicht in dem sozialgerichtlichen Folgeverfahren ausreichend gewahrt werden kann (vgl. Ahrens, VersR 1997, 1064). Dabei wäre auch zu fragen, ob sich dieses Verfahren wegen des Amtsermittlungsprinzip und der vorangegangenen Klärung der Haftungsfrage nicht besser für eine Billigkeitsentscheidung eignet als ein zivilprozessualer Haftungsstreit. Ebenso hätte das LG sich argumentativ mit der Frage beschäftigen müssen, inwieweit durch den Erlaß der neuen InsO die Gefahr der lebenslangen Überschuldung ausgeschaltet oder eingeschränkt worden ist (vgl. Mertens, in: MK-BGB, 3. Aufl. [1997], § 828 Rdnr. 14; krit.: Goecke, Die unbegrenzte Haftung Minderjähriger im DeliktsR, 1997, S. 69-74).

Schließlich lassen die vom LG gegen die Anwendbarkeit des § 242 BGB vorgetragenen Argumente eine hinreichende Auseinandersetzung mit der einschlägigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung vermissen. Das BVerfG hat gerade im Hinblick auf die deliktischen Haftungsbestimmungen des BGB ausgeführt, daß die Auslegung einer Gesetzesnorm nicht immer auf die Dauer bei dem ihr zu ihrer Entstehungszeit beigelegten Sinn stehenbleiben kann (BVerfGE 34, 269 [288f.] = NJW 1973, 1221). Angesichts des beschleunigten Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse und der begrenzten Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers sowie der offenen Formulierung zahlreicher Normen gehört die Anpassung des geltenden Rechts an veränderte Verhältnisse im Gegenteil zu den Aufgaben der Dritten Gewalt. Das gilt insbesondere bei zunehmendem zeitlichen Abstand zwischen Gesetzeserlaß und richterlicher Einzelfallentscheidung (BVerfGE 96, 375 [394] = NJW 1998, 519 = LM § 249 [A] BGB Nr. 114a). Demnach stehen aus verfassungsrechtlicher Sicht weder der Wille des vorkonstitutionellen Gesetzgebers noch der Wortlaut des § 828 II BGB einer Einschränkung der Minderjährigenhaftung aus Billigkeitsgründen zwingend entgegen. Ob eine solche Einschränkung nach § 242 BGB im konkreten Fall geboten ist, haben die für den Zivilrechtsstreit zuständigen Gerichte zu entscheiden.

Vorinstanzen

LG Dessau

Rechtsgebiete

Schadensersatzrecht

Normen

GG Art. 1 I, 2 I, 100 I; BGB §§ 242, 828 II; SGB IV § 76 II Nr. 3; SGB X § 116; BVerfGG § 80 II