Keine Schmerzensgeldkürzung wegen Freundschaft und Gefälligkeitsfahrt

Gericht

OLG Hamm


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

03. 03. 1998


Aktenzeichen

27 U 185/97


Leitsatz des Gerichts

  1. Wer nach einer Feier in angetrunkenem Zustand Freunde mit dem Auto nach Hause fährt und einen Unfall verursacht, ist selbst bei langjähriger Freundschaft und beim Vorliegen einer Gefälligkeitsfahrt zu unvermindertem Schmerzensgeld verpflichtet.

  2. Hat der Beifahrer auf der Feier einen geringfügigen Alkoholkonsum des Fahrers beobachtet, so muss der Beifahrer daraus nicht zwangsläufig eine Fahruntüchtigkeit des Fahrers schließen.

  3. Verliert der Betroffene weitgehend die Möglichkeit, Laufsport zu betreiben, so sind die Verletzungen - zumindest bei einem jüngeren Menschen - nicht als geringfügig zu bewerten.

  4. Wegen Arthrosegefahr, Knochenverletzungen und gelenksnahen Schädigungen sind Folgeschäden nicht auszuschließen und damit ein Feststellungsantrag begründet.

  5. Tatbestand


    Auszüge aus dem Sachverhalt:

    Der Kl. verlangt Schmerzensgeld und Feststellung der Ersatzpflicht aus einem Verkehrsunfall am 1. 1. 1997 gegen 5.44 Uhr. Er war Insasse des bei der Bekl. zu 1 haftpflichtversicherten Pkw, mit dem der Bekl. zu 2 als dessen Führer und Halter an einer Kreuzung nach links abbiegen wollte, wobei er mit dem Teilnehmer des bevorrechtigten Gegenverkehrs A als Führer seines Pkw zusammenstieß. In der vorangegangenen Silvesternacht 1996-97 hatte der Kl. als Gast des Bekl. zu 2 an einer größeren privaten Silvesterfeier teilgenommen, die beide gegen 4.30 Uhr gemeinsam verließen, als ein weiterer Gast auf dessen Wunsch nach Hause gefahren werden sollte. Der Kl. und der Bekl. zu 2 hatten beide zuvor Alkohol konsumiert, wobei sie sich im Laufe des Abends weitgehend aus den Augen verloren hatten. Der Bekl. zu 2 erklärte sich bereit, das Fahrzeug zu führen und weitere Gäste mitzunehmen. Auf die Frage nach seiner alkoholischen Beeinflussung erklärte er, noch fahren zu können. Nachdem zwei Mitfahrer zunächst abgesetzt worden waren, fuhren der Bekl. zu 2 und der Kl. zunächst zu einer Diskothek, wobei es auf der Rückfahrt zu dem Unfall kam. Eine dem Bekl. zu 2 um 6.30 Uhr entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 0,86 Promille. Der Kl. erlitt einen Beckenringbruch sowie eine Gehirnerschütterung und wurde in der Zeit vom 1. 1. bis zum 15. 1. 1997 stationär behandelt, wobei er in der Zeit bis zum 8. 1. 1998 bettlägerig war. Zur Entlastung des rechten Beines benötigte der Kl. bis zu einer abschließenden Untersuchung am 3. 2. 1997 Unterarmgehstützen. Trotz einer bis zum 3. 2. 1997 attestierten Arbeitsunfähigkeit besuchte er ab dem 20. 1. 1997 wieder die 13. Klasse eines Gymnasiums. Angesichts seiner weitgehenden Beschwerdefreiheit wurde ihm ärztlicherseits am 3. 2. 1997 die Vollbelastung seines rechten Beines erlaubt. Die Haftung der Bekl. dem Grunde nach ist außer Streit. Vorgerichtlich hat die Bekl. zu 1 an den Kl. ein Schmerzensgeld von 2000 DM gezahlt sowie ihm vor Klagezustellung einen Scheck über 1000 DM übersandt. Der Kl., der nach dem 3. 2. 1997 zunächst keine weitere ärztliche Behandlung aufsuchte, hat geltend gemacht, daß er beim Hobby-Fußball nach etwa 15 Minuten Beschwerden verspüre. Er hat ein Schmerzensgeld von 25 000 DM für angemessen gehalten und die Auffassung vertreten, daß ihm ein Mitverschulden nicht angelastet werden könne, da er die Alkoholisierung des Bekl. zu 2 weder erkannt habe noch hätte erkennen müssen. Da er - wie er behauptet hat - angesichts fortdauernder Schmerzen noch nicht wieder vollständig beschwerdefrei und eine weitere Behandlung erforderlich sei, sei auch die Ersatzpflicht der Bekl. festzustellen.

    Das LG hat ein Schmerzensgeld von insgesamt 4500 DM für angemessen erachtet. Die geringfügigen Einschränkungen des Kl. beim Hobby-Fußball könnten zu keiner fühlbaren Erhöhung des Schmerzensgeldes führen, da anspruchsmindernd das Vorliegen einer Gefälligkeitsfahrt und die zwischen dem Kl. und dem Bekl. zu 2 bestehende Freundschaft zu berücksichtigen sei, so daß die Genugtuungsfunktion entfalle. Zudem sei eine Mitverschuldensquote von ¼ anzusetzen, da der Kl. konkreten Anlaß gehabt habe, an der Fahrtüchtigkeit des Bekl. zu 2 zu zweifeln. Im Hinblick auf die lange Dauer der Feier und den Umstand, daß der Bekl. zu 2 bereits zu Beginn Bier und zum Jahreswechsel Sekt getrunken habe und im übrigen auch hochprozentige Alkoholika zur Verfügung gestanden hätten, habe der Kl. angesichts der nur vagen Erklärung des Bekl. zu 2 zu seiner Fahrtüchtigkeit weitere Feststellungen treffen müssen. - Angesichts der weiteren Beschwerdefreiheit des Kl. seien zukünftige unfallbedingte Schäden nicht wahrscheinlich, so daß der Feststellungsantrag unbegründet sei. Auf die Berufung des Kl. wurde ihm ein weiteres Schmerzensgeld von 3500 DM zugesprochen; außerdem hat das OLG seinem Feststellungsantrag stattgegeben.

    Entscheidungsgründe


    Auszüge aus den Gründen:

    I. 1. Hinsichtlich der durch den Unfall erlittenen und der heute noch fortdauernden Gesundheitsbeschwerden des Kl. gelangt der Senat zu keinen anderen Feststellungen als das LG. (Wird ausgeführt.) Auch der Senat glaubt dem Kl. nach dessen persönlicher Anhörung, daß er nach sportlicher Belastung Hüftschmerzen verspürt, die ihn daran hindern, dem Hobbyfußballspiel weiter nachzugehen. Dieses Beschwerdebild rechtfertigt nach Auffassung des Senats ein Schmerzensgeld von insgesamt 8000 DM, so daß dem Kl. auf seine Berufung weitere 3500 DM zuzusprechen waren. Die Schmerzensgeldvorstellung des Kl. in einer Höhe von insgesamt 25 000 DM ist stark übersetzt. (Wird ausgeführt.) Dabei hat der Senat anders als das LG den weitgehenden Verlust der Möglichkeit, Laufsport zu betreiben, nicht als geringfügig bewertet, weil diese Einschränkung dem Kl. im Vergleich zu ungeschädigten Gleichaltrigen ein beachtliches Opfer in der Lebensführung abverlangt. Die Einbeziehung des Verlustes dieser Freizeitbeschäftigung bereits als junger Mensch auch ohne nähere Darlegung zum früheren Sporttreiben entspricht st. Rspr. des Senats (vgl. Senat, NJWE-VHR 1997, 107).

    2. Entgegen der angefochtenen Entscheidung kann dem Kl. nicht der Vorwurf eines Mitverschuldens nach § 254 BGB gemacht werden. Im Hinblick auf den von dem Bekl. zu 2 genossenen Alkohol wäre der Vorwurf des Mitverschuldens nur gerechtfertigt, wenn der Kl. die alkoholbedingte Beeinträchtigung und Fahrtüchtigkeit des Bekl. zu 2 bei gehöriger Sorgfalt hätte erkennen können (vgl. BGH, NJW 1988, 2364 [2366]; Geigel-Rixecker, Der Haftpflichtprozeß, 22. Aufl., Kap. 3 Rdnr. 75). Entscheidend ist dabei, ob und in welchem Umfang der Fahrer im Beisein des Beifahrers alkoholische Getränke zu sich genommen hat bzw. welche Ausfälle in seinem Beisein der Fahrer gezeigt hat, die auf eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit schließen ließen. Nach der Rechtsprechung des BGH (VersR 1975, 938; ebenso OLG Hamm, r + s 1997, 497) kommt es dabei darauf an, ob sich die Zweifel aufdrängen mußten.

    Dies ist hier zu verneinen. Wie in der Berufungsinstanz unstreitig geworden, hat der Kl. lediglich gesehen, daß der Bekl. zu 2 zu Beginn der Feier gegen 20.30 Uhr ein Glas Bier und zum Jahreswechsel ein Glas Sekt getrunken hat. Damit hat der Kl. nur minimalen Alkoholkonsum beim Bekl. zu 2 selbst beobachtet. Die Bekl. behaupten nicht, daß es bei dem Bekl. zu 2 zu Ausfallerscheinungen gekommen sei bzw. daß der Kl. solche beobachtet habe. Ein konkreter Anlaß, die zumindest konkludent erklärte Bejahung seiner ausdrücklich erfragten Fahrtüchtigkeit in Frage zu stellen, hat sich für den Kl. somit nicht ergeben. Auch aus den Gesamtumständen läßt sich nicht ableiten, daß der Kl. bei gehöriger Sorgfalt die Fahruntüchtigkeit hätte erkennen können. Denn nach der Rechtsprechung bietet weder die Kenntnis des Umstands, daß sich der Fahrer in den Stunden vor Fahrtantritt in einem Lokal aufgehalten hat, noch Alkoholgeruch, noch das Wissen von Alkoholkonsum als solchem (vgl. BGH, VersR 1970, 624) Anlaß zu Zweifeln an der Fahrtüchtigkeit. Auch der Umstand allein, daß auf der privaten Feier auch hochprozentige alkoholische Getränke zur Verfügung standen, ist nicht geeignet, entsprechende Zweifel zu wecken. Es reicht auch nicht, daß der Beifahrer den Fahrer vorher bereits betrunken erlebt hat, sofern der Beifahrer nichts von einem Kfz-Führen in diesem Zustand weiß (OLG Hamm, r + s 1997, 497 [498]). Überdies legt die bei dem Bekl. zu 2 festgestellte Blutalkoholkonzentration von 0,86 Promille bereits für sich eine „nur“ leichte alkoholische Beeinflussung nahe und hatte kein Maß erreicht, bei dem sich für jeden Beifahrer die Fahruntüchtigkeit aufdrängt (vgl. BGH, NJW 1988, 2365, bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,73 Promille; OLG Hamm, r + s 1997, 497 bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,16 Promille).

    Anderes ergibt sich auch nicht aus dem vom LG herangezogenen Umstand, daß der polizeiliche Unfallbericht von Alkoholeinfluß spricht. Denn es fehlt jede - nach dem verwendeten Formular stets festzuhaltende - Angabe der Ausfallerscheinungen, so daß von deren Fehlen auszugehen ist. Auch wenn in dem anläßlich der Blutentnahme erstellten Arztbericht von einem „leicht-deutlich“ bemerkbaren Alkoholeinfluß die Rede ist, so kann schon angesichts der ungenauen Angaben und unter Berücksichtigung des Umstands, daß diese Wertung von einem berufserfahrenen Polizeiarzt stammt, hieraus nicht auch auf eine für den Kl. feststellbare alkoholische Beeinflussung geschlossen werden, zumal nach diesem Arzt-Bericht auch unauffällige Umstände wie klares Bewußtsein, geordneter Denkablauf, beherrschtes Verhalten und unauffällige Stimmung vorgelegen haben. Im übrigen hat auch der im Ermittlungsverfahren vernommene Unfallzeuge G an der Unfallstelle von genossenem Alkohol nichts bemerkt.

    Soweit das LG desweiteren auch auf eine Übermüdung des Bekl. zu 2 abgestellt hat, so fehlt es - abgesehen von der langen Dauer der Feier - schon an Anhaltspunkten, daß der Bekl. zu 2 tatsächlich überhaupt übermüdet war und daß dies in irgendeiner Weise unfallursächlich geworden ist; die Fehleinschätzung beim Linksabbiegen spricht im übrigen eher für einen alkoholbedingten Fahrfehler. Normale Müdigkeit in der Nacht kombiniert mit leichtem Alkoholgenuß bietet keinen Anlaß zu Zweifeln an der Fahrtüchtigkeit (BGH, VersR 1979, 938 [939]). Letztlich war es hier auch nicht so, daß der Unfall unmittelbar nach Fahrbeginn geschah, sondern erst nach einer ausgedehnten Fahrt durch B.

    Es hat daher bei dem Grundsatz zu verbleiben, daß den Bekl. zu 2 als Fahrzeugführer die Verpflichtung zur Wahrnehmung der mit der Führung eines Kfz verbundenen Pflichten traf. Ein Verstoß gegen die eigenen Interessen kann dem Kl. nicht vorgeworfen werden.

    3. Der Senat teilt auch nicht die Ansicht des LG, das Schmerzensgeld des Kl. sei wegen seiner Freundschaft zu dem Bekl. zu 2 niedriger zu bemessen. Zwar ist in der Rechtsprechung umstritten, ob ein Schmerzensgeld niedriger zu bemessen ist, weil es einem Ehegatten geschuldet ist und deshalb die Genugtuungsfunktion entfällt (vgl. die Nachw. bei Geigel-Kolb, Kap. 7 Rdnr. 40). Hier fehlt es an einer solchen familiären Verbundenheit; der Kl. und der Bekl. zu 2 sind lediglich seit Kindestagen befreundet. Nach Auffassung des Senats kann eine allein darauf begründete persönliche Verbundenheit die Bekl. zu 1 als Haftpflichtversicherer nicht entlasten.

    4. Ebensowenig teilt der Senat die Auffassung des LG, aus dem Gesichtspunkt der Gefälligkeitsfahrt eine Kürzung des Schmerzensgeldanspruchs vorzunehmen. Eine solche Haftungsbeschränkung ist eine künstliche Rechtskonstruktion aufgrund einer Willensfiktion; gerade dort, wo der Schädiger gegen Haftpflicht versichert ist - erst recht, wenn eine Pflichtversicherung besteht -, entspricht es weder dem gesetzlichen Anliegen der Versicherungspflicht noch dem Willen der Beteiligten, durch letztlich fingierte Verzichtsabreden den Haftpflichtversicherer zu entlasten (BGH, NJW 1993, 3067 [3068] = LM PflVG 1965 Nr. 70). Angesichts dessen ist es wertungswidersprüchlich, die Teilnahme an einer Gefälligkeitsfahrt bei der Bemessung des Schmerzensgeldes anspruchsmindernd zu berücksichtigen. Das Vorliegen ganz besonderer Umstände, die in Ausnahmefällen eine andere Beurteilung rechtfertigen könnten (vgl. Geigel-Schlegelmilch, Kap. 12 Rdnr. 33), kann hier nicht festgestellt werden.

    II. Der Feststellungsantrag ist zulässig und begründet. Für die Begründetheit des Feststellungsantrags genügt es, daß eine nicht eben entfernt liegende Möglichkeit künftiger Verwirklichung der Schadensersatzpflicht durch Auftreten weiterer, bisher noch nicht erkennbarer und voraussehbarer Leiden besteht (BGH, NJW-RR 1989, 1367). Wegen Arthrosegefahr können alle Knochenverletzungen zu Komplikationen und Folgeschäden führen (vgl. BGH, NJW 1973, 702 [703] = LM § 852 BGB Nr. 45; OLG Hamm, NZV 1996, 69 [70]). Soweit die Bekl. dies für Beckenringfrakturen wegen der fehlenden Betroffenheit eines Gelenks grundsätzlich verneinen wollen, so übersehen sie, daß der Kl. nach dem ärztlichen Bericht vom 10. 2. 1997 von Prof. Dr. E, dessen Inhalt unstreitig ist, u. a. eine gelenksnahe Schädigung durch Aussprengung eines symphysengelenknahen Knochenfragments erlitten hat. Deshalb kann nicht völlig ausgeschlossen werden, daß der Kl. zukünftige materielle Schäden erleiden könnte. Gleiches gilt für immaterielle Zukunftsschäden, da ein weiteres Schmerzensgeld grundsätzlich in Betracht kommt, wenn sich der Zustand des Kl. in Zukunft wider Erwarten unfallbedingt verschlechtern sollte.

    Rechtsgebiete

    Schadensersatzrecht

    Normen

    BGB §§ 823 I, 847, 254