Kindergartenunfall

Gericht

BSG


Art der Entscheidung

Urteil


Datum

30. 06. 1998


Aktenzeichen

B 2 U 20/97 R


Leitsatz des Gerichts

Zum Unfallversicherungsschutz eines Kindes, das den von ihm besuchten Kindergarten unerlaubt verläßt.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Nach § 548 I 1 RVO ist Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539 , 540 und 543 bis 545 RVO genannten und danach versicherten Tätigkeiten erleidet. Als Kind, das einen Kindergarten besuchte, gehörte der Beigel. zu den nach § 539 I Nr 14 Buchst a RVO gegen Arbeitsunfall versicherten Personen.

Zur Annahme eines Arbeitsunfalls nach § 548 I RVO ist in der Regel erforderlich, daß das Verhalten, bei dem sich der Unfall ereignet hat, der versicherten Tätigkeit zuzurechnenist, und daß diese Tätigkeit den Unfall herbeigeführt hat. Zunächst muß also eine sachliche Verbindung mit der unfallversicherungsgeschützten Tätigkeit bestehen, der innere Zusammenhang, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen (BSGE 63, 273,274 = SozR 2200 § 548 Nr 92; BSG SozR 2200 § 548 Nr 95; SozR 3-2200 § 548 Nr 27; SozR 3-2200 § 539 Nr 38). Dieser innere Zusammenhang ist wertend zu ermitteln, indem untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtunginnerhalb der Grenze liegt, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht (st Rspr, s zB BSGE 58, 76, 77 = SozR 2200 § 548 Nr 70; BSGE 61, 127, 128 = SozR 2200 § 548 Nr 84; BSG SozR3-2200 § 539 Nr 38).

§ 539 I Nr 14 Buchst a RVO enthält keine detaillierte Umschreibung der versicherten Tätigkeit, sondern spricht insoweit ohne Einschränkungen von einem Unfallversicherungsschutz der Kinder „während des Besuchs von Kindergärten„. Durch diese Vorschrift (wie nunmehr den insoweitinhaltlich identischen § 2 I Nr 8 Buchst a SGB VII) sollen Kinder mithin während des Kindergartenbesuchs umfassend gegen Unfall geschützt werden. Der Unfallversicherungsschutz beschränkt sich nicht etwa auf das gemeinsame Spielen oder vorschulischen Unterricht unter Leitung eines Mitarbeiters der Einrichtung, sondern bezieht sich zB auch aufdas gemeinsame Essen und auch auf selbständige, nicht angeleitete und schließlich auch auf unbeaufsichtigte Verrichtungen. Die Kinder sind grundsätzlich während des gesamten Besuchs der Einrichtung versichert (vgl etwa Brackmann/Wiester, Handbuch der Sozialversicherung, Gesetzliche Unfallversicherung, SGB VII, 12. Aufl., § 2 RdNrn 485f). Ein den eigenwirtschaftlichen und damit nicht versicherten Betätigungen zuzurechnender Bereich ist während dieser Zeit im Hinblick hierauf kaum denkbar (Schlegel in Schulin HS-UV § 18 RdNr 62).

Die Grenzen dieses Versicherungsschutzes sind nach Sinnund Zweck der genannten Regelung zu bestimmen. Mehr noch als bei der Wertung des inneren Zusammenhangs bei Schülerunfällen (§ 539 I Nr 14 Buchst b RVO), wo das Alter der betreffenden Schüler, das einen kindlichen Spieltriebbedingen kann, zu berücksichtigen ist (BSG Urteil vom 11. 2. 1981 - 2 RU 109/79 - = BAGUV-Rdsch 34/81; s auch BSG SozR 3-2200 § 539 Nr 34und Brackmann/Wiester, aaO, RdNr 507), kommt bei Kindern im vorschulischen Alter den Besonderheiten ihres Entwicklungsstandeseine besondere Bedeutung zu. Kinder dieser Altersgruppe bedürfen ständig besonderer persönlicher Fürsorge und Obhut. Denn aufgrund ihrer fehlenden Einsichtsfähigkeit vermögen sie typischerweise regelmäßig ihnen von der Umwelt drohende Gefahren nicht ausreichend zu erkennen, einzuschätzen und sich dagegen zu schützen. Dies gilt um somehr, je jünger die zu betreuenden Kinder sind.

Wird ein Kind vom Personensorgeberechtigten in die Obhut eines Kindergartens iS des § 539 I Nr 14 Buchst a RVO (oder nunmehr des § 2 I Nr 8 Buchst a SGB VII) gegeben, entsteht für diesen regelmäßig aufgrund des Aufnahmevertrages, zumindest aber einer konkludenten Vereinbarung eine entsprechende umfassende Obhutspflicht, die solange andauert, bis das Kind die Einrichtung in erlaubter Weise wieder verläßt. Erlaubt verläßt das Kind die Einrichtung regelmäßig nur dann, wenn es entweder unmittelbar wieder in die Obhut des Sorgeberechtigten wechselt, dh vondiesem oder einer beauftragten Person in Empfang genommen wird, oder wenn es die Einrichtung mit Einverständnis des Sorgeberechtigten ohne Begleitung verläßt, weil es etwa bei seinem individuellen Entwicklungsstand bereits in derLage ist, den konkreten Heimweg allein zu bewältigen. Der Unfallversicherungsschutz folgt der Obhutspflicht des Kindergartens, besteht also so lange und in dem Umfang, wie sich diese zeitlich und räumlich erstreckt.

Diese Überlegungen werden bestätigt durch die den Erziehungsauftrag der Tageseinrichtungen für Kinder nunmehr konkretisierenden Bestimmungen des § 22 SGB VIII,wonach die Förderung der Entwicklung von Kindern in solchen Einrichtungen - ua Kindergärten - die Betreuung, Bildung und Erziehung von Kindern umfaßt (Abs 2 aaO) und hierzu die dort tätigen Fachkräfte und anderen Mitarbeiter mit den Erziehungsberechtigten zum Wohl der Kinder zusammenarbeiten sollen (Abs 2 Satz 1 aaO). Zum Betreuungsauftrag gehört die Gewährleistung einer lückenlosen Obhut für das Kind, die im Zusammenwirken mit denSorgeberechtigten herbeizuführen ist. Dieser öffentlich-rechtlichen Aufgabenstellung und Abgrenzung muß der gesetzliche Unfallversicherungsschutz für solche Einrichtungen besuchende Kinder folgen.

Nach den tatsächlichen Feststellungen des SG hatte der Beigel. den Kindergarten im obigen Sinne unerlaubt verlassen. Er war weder unmittelbar im Zusammenwirken seiner Erzieher mit seinen sorgeberechtigten Eltern aus dem Betreuungskreis des Kindergartens in deren Obhut gewechselt,noch waren die Sorgeberechtigten damit einverstanden, daß sich das nicht einmal vier Jahre alte Kind ohne Begleitung vom Gelände der Einrichtung entfernte, auch wenn dies mitder Zielrichtung der elterlichen Wohnung geschehen sein sollte. Selbst ein „natürlicher Wille„ des Kindes, sich nach Hause zu begeben, könnte an diesem für das Bestehen vonUnfallversicherungsschutz entscheidenden Umstand nichts ändern.

Trotz des Verlassens des Kindergartengeländes befand sich der Beigel. daher entgegen der Ansicht des SG weiter innerhalb der Obhutspflicht und des Verantwortungsbereichs der Einrichtung. Er stand mithin, ohne einen „Weg vom Ort der Tätigkeit„ iS des § 550 RVO angetreten zu haben, nachwie vor unter Versicherungsschutz gemäß § 539 I Nr 14 Buchst a RVO. Auf die Frage, ob eine Mitarbeiterin der Kl. ein Verschulden daran trifft, daß das Kind den Kindergartenohne Erlaubnis verlassen konnte, kommt es für die Beurteilung des Fortbestehens des Unfallversicherungsschutzes nach § 539 I Nr 14 Buchst a RVO nicht an. Dieser entfiel demnach auch nicht mit dem Durchschreiten der Außentürdes Hochhauses, in dem der Beigel. im Unfallzeitpunkt gemeinsam mit seiner Familie wohnte. Obgleich er sich damit in der privaten und sonach - nicht nur im Rahmen des § 550 I RVO - grundsätzlich unversicherten Sphäre befand, wardas Kind dadurch nicht in die Obhut seiner Eltern oder einer von diesen beauftragten Person und daher noch nicht in deren Betreuungsphäre gelangt, sondern befand sich noch in der des Kindergartens. Daß sich der Sturz von einem Laubengang in räumlicher Hinsicht aus dem häuslichen Bereichheraus ereignete, ist rechtlich unbeachtlich, da der Beigel. jedenfalls noch nicht in die Obhut seiner Personensorgeberechtigten gelangt war. Wie die Kl. zu Recht vorträgt, hat sich hier gerade eine Gefahr realisiert, gegen die § 539 I Nr 14 Buchst a RVO Versicherungsschutz bieten soll. Das zum Unfall führende Verhalten des Kindes stand daher im inneren Zusammenhang mit seiner versicherten Tätigkeit,so daß es sich bei dem Ereignis um einen Arbeitsunfall handelte.

Vorinstanzen

SG Hamburg, 26 U 225/95, 24.3.1997

Rechtsgebiete

Versicherungsrecht; Sozialrecht

Normen

RVO § 539 I Nr 14 Buchst a, §§ 548, 550, 638, 639; SGB VII § 2 I Nr 8 Buchst a