Wiederholungsprüfung bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit

Gericht

BAG 5. Senat


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

30. 09. 1998


Aktenzeichen

5 AZR 58/98


Leitsatz des Gerichts

Kann der Auszubildende wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit an der Prüfung nicht teilnehmen, so verlängert sich das Ausbildungsverhältnis auf sein Verlangen bis zur nächstmöglichen Wiederholungsprüfung, höchstens um ein Jahr (§ 14 Abs. 3 BBiG analog).

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Parteien streiten um Vergütungsansprüche aus dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs im Zusammenhang mit der Frage, wann das Ausbildungsverhältnis der Kl. geendet hat.

Die Parteien schlossen am 1. 6. 1993 einen Berufsausbildungsvertrag. Danach sollte die Kl. - nach einer zehnmonatigen Ausbildung in einem anderen Friseursalon - in der Zeit vom 1. 6. 1993 bis zum 31. 7. 1995 weiter zur Friseurin ausgebildet werden. Im dritten Lehrjahr betrug die Vergütung 770 DM pro Monat. Die Kl. erzielte in der Zwischenprüfung ausgezeichnete Ergebnisse. Die Abschlußprüfung war für die Zeit vom 12. bis zum 26. 6. 1995 vorgesehen. Daran nahm die Kl. nicht teil. Für die Zeit vom 9. 6. bis zum 5. 7. 1995 legte sie dem Bekl. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor.

Anschließend verlangte sie zunächst persönlich und dann mit Anwaltsschreiben vom 13. 7. 1995 vom Bekl. die Fortsetzung des Ausbildungsverhältnisses bis zur nächsten Prüfungsgelegenheit. Das lehnte der Bekl. ab. Die Kl. rief den Ausschuß zur Schlichtung von Lehrlingsstreitigkeiten bei der Friseur-Innung Frankfurt am Main an. Dieser erließ in der mündlichen Verhandlung vom 22. 8. 1995 einen Spruch, wonach das Berufsausbildungsverhältnis zwischen den Parteien „mit Ablauf der Ausbildungszeit, nämlich dem 31. 7. 1995 beendet“ sei. Mit Schreiben vom 30. 8. 1995 beantragte die Kl. bei der Handwerkskammer Rhein-Main eine Verlängerung der Ausbildungszeit gemäß § 29 Abs. 3 BBiG. Diese bat mit Schreiben vom 17. 11. 1995 noch um ergänzende Auskünfte. Am 29. 1. 1996 bestand die Kl. die Abschlußprüfung. Ihr Verlängerungsantrag war bis zu diesem Zeitpunkt nicht beschieden worden.

Mit ihrer am 6. 9. 1995 bei Gericht eingegangenen Klage hat die Kl. zunächst die Feststellung begehrt, daß ihr Ausbildungsverhältnis nicht am 31. 7. 1995 endete, sondern darüber hinaus fortbestand. Sie begehrt nunmehr - nach Bestehen der Gesellenprüfung - Zahlung der Ausbildungsvergütung bis zum 29. 1. 1996 in rechnerisch unstreitiger Höhe. Sie hat vorgetragen: Ihr Ausbildungsverhältnis habe sich gemäß § 14 Abs. 3 BBiG über den 31. 7. 1995 hinaus bis zum 29. 1. 1996 verlängert. Da sie infolge ihrer Erkrankung an der Prüfung im Juli 1995 nicht habe teilnehmen können, habe sie diese nicht bestanden. Die Kl. hat beantragt, den Bekl. zu verurteilen, an sie DM 4495,80 brutto nebst 4% Zinsen aus jeweils DM 770 brutto seit dem 1. 9. 1995, dem 1. 10. 1995, dem 1. 11. 1995, dem 1. 12. 1995 und dem 1. 1. 1996 und aus DM 645,80 brutto seit dem 1. 2. 1996 zu zahlen.

Der Bekl. hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat vorgetragen: Das Ausbildungsverhältnis habe wie vertraglich vereinbart am 31. 7. 1995 geendet. Die Kl. habe schon im Juni 1995 angekündigt, sie wolle ihre Ausbildungszeit möglichst ausdehnen, um ihrem Vater in Bezug auf dessen fortdauernde Unterhaltspflichten „ein´s auszuwischen“. § 14 Abs. 3 BBiG sei nur anzuwenden, wenn eine Prüfung infolge von Ausbildungsmängeln nicht bestanden werde und deshalb eine „Nachlehre“ erforderlich sei. Für Fälle wie den vorliegenden ermöglichten § 29 Abs. 3 BBiG, § 27a Abs. 3 HandwO die erforderliche Verlängerung der Ausbildung.

Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Die Revision des Bekl. ist nicht begründet.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Die Kl. hat Anspruch auf Zahlung der Ausbildungsvergütung für die Zeit bis zum 29. 1. 1996. Das ergibt sich aus § 615 BGB i.V. mit dem Berufsausbildungsvertrag. Das Ausbildungsverhältnis hat sich bis zu diesem Zeitpunkt verlängert. Der Bekl. befand sich in Annahmeverzug.

I. Die Klage ist zulässig. Ihr ist die Verhandlung vor dem Ausschuß zur Schlichtung von Lehrlingsstreitigkeiten als der zuständigen Stelle vorangegangen. Die Klage ist rechtzeitig erhoben. Nach § 111 Abs. 2 Satz 3 ArbGG ist binnen zwei Wochen nach ergangenem Spruch Klage beim zuständigen ArbG zu erheben. § 9 Abs. 5 ArbGG gilt entsprechend. Es kann hier dahinstehen, wann der vollständige Spruch der Kl. zugestellt worden ist. Selbst wenn dies schon am Tag der mündlichen Verhandlung vor dem Ausschuß, dem 22. 8. 1995, geschehen sein sollte, ist die am 6. 9. 1995 bei Gericht eingegangene Klage nicht verspätet. Da dem Beschluß eine Rechtsmittelbelehrung nicht beigefügt war, galt die Jahresfrist des § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG. Diese Frist ist in jedem Fall gewahrt.

II. Die Vorinstanzen haben die Auffassung vertreten, das Ausbildungsverhältnis der Kl. habe sich bis zum 29. 1. 1996 verlängert, da § 14 Abs. 3 BBiG auch bei entschuldigtem Fehlen in der Abschlußprüfung anzuwenden sei. Dem ist zuzustimmen (ebenso LAG Rheinland-Pfalz Urteil vom 5. 3. 1985 - 3 Sa 984/84 - EzB § 14 Abs. 3 BBiG Nr. 10; LAG Hamm Urteil vom 18. 9. 1996 - 9 Sa 2341/95 - juris; Sarge, DB 1993, 1034; Wohlgemuth, BBiG, 2. Aufl., 1995, § 14 Rz. 12; Gedon/Spiertz, Berufsbildungsrecht, Stand Mai 1998, BBiG § 14 Rz. 23; KR-Weigand, 4. Aufl., §§ 14 , 15 BBiG Rz. 25; a.A. ArbG Berlin, Urteil vom 5. 12. 1985 - 1 Ca 281/85 - EzB § 29 Abs. 3 Nr. 3; Herkert, BBiG, Stand 15. 6. 1998 § 14 Rz. 7b).

1. Nach § 14 Abs. 3 BBiG verlängert sich das Ausbildungsverhältnis auf Verlangen des Auszubildenden, wenn er die Abschlußprüfung „nicht besteht“. Welche Folgen das entschuldigte Fehlen in der Abschlußprüfung für das Berufsausbildungsverhältnis hat, ist weder im Berufsbildungsgesetz noch in der Handwerksordnung ausdrücklich geregelt. Die Vorinstanzen haben § 14 Abs. 3 BBiG für unmittelbar anwendbar gehalten. Dagegen könnte sprechen, daß sich nach dem Gesetzeswortlaut das Berufsausbildungsverhältnis bis zur nächstmöglichen „Wiederholungsprüfung“ verlängert, es sich aber bei einem Fehlen in der ersten Abschlußprüfung im zweiten Prüfungstermin um die erste Prüfung, und nicht um eine Wiederholungsprüfung handelt. Doch kann dies im Ergebnis dahinstehen. Denn zumindest ist § 14 Abs. 3 BBiG analog anzuwenden, wenn der Auszubildende wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit bei der Abschlußprüfung fehlt.

a) Es handelt sich um eine planwidrige Gesetzeslücke. Die Ähnlichkeit beider Tatbestände (Nichtbestehen und Fehlen wegen Krankheit) erfordert es, die Rechtsfolge aus § 14 Abs. 3 BBiG auf den hier vorliegenden Tatbestand zu erstrecken.

Der erkennbare Sinn des § 14 Abs. 3 BBiG geht dahin, daß das Berufsausbildungsverhältnis nach Möglichkeit erfolgreich, das heißt mit dem Bestehen der Abschlußprüfung abgeschlossen wird. Der Auszubildende, der die Prüfung nicht bestanden hat, soll weiter praktisch und theoretisch ausgebildet werden. Außerhalb des Berufsausbildungsverhältnisses ist dies i.d.R. nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen möglich. Deshalb ordnet § 14 Abs. 3 BBiG die Verlängerung des Ausbildungsverhältnisses auf Verlangen des Auszubildenden bis zur nächstmöglichen Wiederholungsprüfung, höchstens um ein Jahr, an, und zwar zunächst für die Fälle, in denen der Auszubildende die Abschlußprüfung wegen schlechter Leistungen nicht besteht, sie wegen Täuschungshandlung für nicht bestanden erklärt wird oder wegen Fernbleibens von der Abschlußprüfung ohne wichtigen Grund als nicht bestanden gilt (§§ 18, 19, 23 der Musterprüfungsordnungen für die Durchführung von Abschlußprüfungen für anerkannte Ausbildungsberufe/Gesellenprüfungen, abgedruckt bei Wohlgemuth, BBiG, 2. Aufl., § 41 Rz. 13, S. 322ff., 331ff.).

Im Fall des Nichtbestehens wegen schlechter Leistungen geht es um die Behebung der in der Prüfung festgestellten Mängel. Gilt dagegen die Prüfung wegen Fernbleibens ohne wichtigen Grund als nicht bestanden, so kann Verlängerung nicht zur Behebung von in der Abschlußprüfung festgestellten Mängeln dienen, weil eine solche Prüfung gerade nicht stattgefunden hat. § 14 Abs. 3 BBiG dient also schon in seinem unmittelbaren Anwendungsbereich nicht ausschließlich dazu, dem Auszubildenden, der seine Abschlußprüfung nicht besteht, die fehlenden Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln (entgegen Herkert, aaO). Auch bei grundlosem Fernbleiben von der Prüfung oder Täuschungshandlung soll der Auszubildende eine weitere Chance erhalten. Diese soll sich nicht wegen vorzeitiger Beendigung des Ausbildungsverhältnisses verschlechtern.

Ähnlich ist die Interessenlage, wenn der Auszubildende wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit an der Prüfung nicht teilnehmen kann. Auch dessen Chancen, die Prüfung beim nächsten Termin zu bestehen oder eine gute Note zu erreichen, würden sich ohne Verlängerung des Ausbildungsverhältnisses verschlechtern. Das gilt für alle Ausbildungsberufe unabhängig von den Ergebnissen etwaiger Zwischenprüfungen. Es läge fern anzunehmen, der Gesetzgeber habe den Auszubildenden, der wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit an der Prüfung nicht teilnehmen kann, hinsichtlich der Verlängerung des Ausbildungsverhältnisses schlechter stellen wollen als den Auszubildenden, der die Prüfung zwar ablegt, aber nicht besteht.

b) Die Vorschriften der §§ 29 Abs. 3 BBiG, 27a Abs. 3 HandwO stehen dieser Analogie nicht entgegen. Hiernach kann die zuständige Stelle bzw. Handwerkskammer „in Ausnahmefällen“ auf Antrag des Auszubildenden bzw. Lehrlings „die Ausbildungszeit verlängern, wenn die Verlängerung erforderlich ist, um das Ausbildungsziel zu erreichen“. Diese Vorschriften enthalten eine sehr weit gefaßte Härteregelung, die auch solche Fälle erfaßt, in denen sich das Ausbildungsverhältnis nicht schon aufgrund gesetzlicher Regelung verlängert. Auch außergewöhnliche Fallgestaltungen sollen auf diesem Wege einer angemessenen Regelung zugeführt werden können. Es geht dabei um Fälle, in denen bereits vor der Prüfung abzusehen ist, daß eine Verlängerung erforderlich ist, und in denen eine Entscheidung darüber vor dem Prüfungstermin ergehen kann. Dabei kann es sich beispielsweise um Ausfallzeiten während der Ausbildung sowie um gesundheitliche Behinderungen des Auszubildenden handeln. In dem „Beschluß des Bundesausschusses für Berufsbildung vom 25. 10. 1974 betreffend Kriterien zur Abkürzung und Verlängerung der Ausbildungszeit“ (abgedruckt bei Wohlgemuth, BBiG, 2. Aufl., § 29 Rz. 9) heißt es dazu:

„3. Verlängerung der Ausbildungszeit

...

3.2....

Als Ausnahmegründe sind z.B. anzusehen: Erkennbare schwere Mängel in der Ausbildung, längere, vom Auszubildenden nicht zu vertretende Ausfallzeiten sowie körperliche, geistige oder seelische Behinderungen des Auszubildenden.“

§ 29 Abs. 3 BBiG, § 27a Abs. 3 HandwO betreffen mithin wirkliche „Ausnahmefälle“, nicht den eher alltäglichen, jedenfalls nicht ungewöhnlichen Fall, daß der Auszubildende wegen Krankheit an der Prüfung nicht teilnehmen kann.

Damit scheidet auch eine analoge Anwendung der §§ 29 Abs. 3 BBiG, 27a Abs. 3 HandwO aus. Sie wäre nicht sachgemäß. Die Verlängerung der Ausbildung im Fall der Nichtteilnahme wegen Krankheit erscheint regelmäßig sinnvoll. Es geht insoweit nicht um die Würdigung individueller Umstände. Im übrigen kann die Durchführung des Verfahrens nach § 29 Abs. 3 BBiG, § 27a Abs. 3 HandwO zu Verzögerungen führen. Das zeigt der Streitfall eindrucksvoll. Es mag sein, daß die Handwerkskammer noch vor dem 29. 1. 1996, dem nächsten Prüfungstermin, entschieden hätte, wenn die Kl. ihren Antrag gleich nach Ablauf der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit gestellt hätte. Die Handwerkskammer war aber offenbar nicht in der Lage, in den knapp fünf Monaten zwischen Antragstellung (30. 8. 1995) und Prüfung (29. 1. 1996) eine Entscheidung zu fällen. Erst am 17. 11. 1995, also mehr als zehn Wochen nach Antragstellung forderte sie von der Kl. ergänzende Auskünfte. Derartige Verzögerungen sind nicht erträglich und dem Auszubildenden, der die erste Prüfung wegen Krankheit nicht hat ablegen können, nicht zuzumuten.

2. Das Ausbildungsverhältnis zwischen den Parteien hat sich auf Verlangen der Kl. bis zum 29. 1. 1996 verlängert. Die Kl. war nach den Feststellungen des LAG arbeitsunfähig krank. Das LAG hat angenommen, der Bekl. habe den hohen Beweiswert einer ordnungsgemäß ausgestellter ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mit seinem Vortrag nicht erschüttert. Diese Feststellung ist für den Senat nach § 561 ZPO bindend. Eine Verfahrensrüge nach § 554 Abs. 3 Nr. 3b ZPO hat der Bekl. nicht erhoben.

Vorinstanzen

Hessisches Landesarbeitsgericht

Rechtsgebiete

Arbeitsrecht

Normen

BBiG § 14 Abs. 3, § 29 Abs. 3; HandwO § 27a Abs. 3