Anrede - Selbstbestimmungsrecht des Arbeitnehmers - Duzen

Gericht

LAG Hamm


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

29. 07. 1998


Aktenzeichen

14 Sa 1145/98


Leitsatz des Gerichts

Wird nach dem Betriebsübergang eines Unternehmens der Umgang der Mitarbeiter von Siezen auf Duzen umgestellt, so kann ein einzelner Mitarbeiter nach 22 Monaten Duldung nicht mehr durchfechten, gesiezt zu werden.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Kl. will von den Mitarbeitern der Bekl. nicht mehr geduzt werden. Der jetzt 45jährige Kl. trat im Jahre 1977 in das Bekleidungshandelsunternehmen D - GmbH & Co. KG. Er war zuletzt als Abteilungsleiter der Herrenoberbekleidung in der Filiale R. tätig. Diese Filiale wurde mit ihren etwa 24 Mitarbeitern zum 1. 1. 1996 von der Bekl., einem internationalen Bekleidungshandelsunternehmen mit Stammsitz in S., übernommen. Sowohl das Warensortiment wie auch der betriebliche Umgangsstil der beiden Unternehmen wichen jedoch voneinander ab. Während die frühere Arbeitgeberin einen konventionellen klassischen Stil pflegte, der insbesondere auch ein Publikum mittleren Alters ansprach, setzt die Bekl. auf ein unkonvenionelleres, preisbewußtes jüngeres Publikum. Im Umgang der Mitarbeiter und Vorgesetzten untereinander legt die Bekl. Wert auf einen betont kollegialen Stil, der den Abbau von Hierarchien zum Ziel hat. Sämtliche Belegschaftsmitglieder duzen sich untereinander. Die Zielsetzung und die Unternehmensphilosophie der Bekl. wurden der Belegschaft der Filiale R., bei der auch ein Betriebsrat existiert, in einer Betriebsversammlung unmittelbar nach der Übernahme der Filiale bekanntgemacht. In der Folgezeit wurde der dienstliche Umgang der Mitarbeiter untereinander auf die Anrede mit Vornamen und „Du„ umgestellt. Hierin fügte sich auch der Kl., der im übrigen in seiner bisherigen Funktion und mit seinem bisherigen Gehalt weiterbeschäftigt wurde. Das Arbeitsverhältnis der Parteien blieb nicht reibungslos. Es kam zu einer schriftlichen Abmahnung, die vom Kl. erfolgreich in einem Arbeitsgerichtsverfahren bekämpft wurde. Im übrigen mußte der Kl. ab Herbst 1996 immer häufiger und länger der Arbeit krankheitsbedingt fernbleiben. Mit Schreiben vom 20. 10. 1997 wandte sich der Kl. mit folgendem Schreiben an den damaligen Prozeßbevollmächtigten der Bekl.:

Sehr geehrter Herr M,

in der obigen Angelegenheit mußte unser Mandant feststellen, daß er - offensichtlich auf Anweisung der Betriebsleitung - von sämtlichen Mitarbeitern der Filiale in R. und auch von sonstigen Mitarbeitern der Firma H & M, mit denen er in Kontakt kommt, geduzt wird. Dies muß unser Mandant nicht hinnehmen. Unter Mandant legt Wert darauf, daß korrekte Umfangsformen gewahrt werden und er sich nur mit denjenigen Freunden und Mitarbeitern duzen muß, die er hierfür auswählt. Wir dürfen Sie deshalb bitten, uns definitiv namens der Betriebsleitung der Firma H & M zu erklären, daß die Mitarbeiter der Filiale R. angewiesen werden, in Zukunft diesen Wunsch unseres Mandanten zu respektieren und ihn deshalb korrekt mit dem „Sie„ anreden werden, es sei denn, unser Mandant bietet diesen Mitarbeitern ausdrücklich das „Du„ an.

Die Bekl. lehnte die vom Kl. gewünschte Anweisung an die Mitarbeiter der Filiale R. ab, woraufhin der Kl. am 5. 11. 1997 den vorliegenden Rechtsstreit bei dem ArbG Rheine einleitete. Er hat hierbei geltend gemacht, daß er in Deutschland Anspruch darauf habe, nach den hier allgemein üblichen Umgangsformen angeredet zu werden. Ein zwangsweise angeordnetes „Du„ lehne er ab. Der von der Bekl. angestrebte Abbau von Hierarchien und Statussymbolen habe nichts mit der Frage zu tun, ob man sich duze oder sieze. Im übrigen verhalte sich die Bekl. auch insofern inkonsequent, als die ihm erteilte Abmahnung in der „Sie„-Form abgefaßt sei. Der Kl. hat beantragt, die Bekl. zu verurteilen, die Mitarbeiter der Filiale R. anzuweisen, den Kl. nicht mehr zu duzen.

Das ArbG Rheine hat durch sein am 16. 1. 1998 verkündetes Urteil die Klage abgewiesen. Weder sei die Bekl. aus dem Gesichtspunkt der Fürsorgepflicht gehalten, die übrigen Mitarbeiter anzuweisen, den Kl. zu siezen noch werde das Persönlichkeitsrecht durch das betriebsübliche Duzen eingeschränkt oder verletzt. Der Kernbereich der Menschenwürde werde durch das vom Kl. nicht gewollte Geduztwerden nicht berührt. Im übrigen müsse dem Kl. auch der Rechtsgedanke der Verwirkung entgegengehalten werden, weil er erst 22 Monate nach der Filialübernahme durch die Bekl. die förmliche Anrede mit „Sie„ und die Abschaffung des Duzens durchsetzen wolle. Die Berufung des Kl. ist ohne Erfolg geblieben.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

1. Der Kl. kann von der Bekl. nicht verlangen, daß diese die Belegschaft der Filiale in R. anweist, den Kl. nicht mehr zu duzen. Weder das von der Bekl. zu wahrende Persönlichkeitsrecht des Kl. noch sonstige Gesichtspunkte gebieten eine derartige Weisung an Vorgesetzte und Kollegen des Kl. Zwar ist dem Kl. darin zu folgen, daß im deutschen Kulturkreis ein Selbstbestimmungsrecht des (erwachsenen) Individuums anzuerkennen ist, zu wählen, in welcher Weise es angeredet werden will. Denn bekanntermaßen existieren zwei mögliche Anredeformen, das „Du„ und das „Sie„, die in der Regel mit der Anrede beim Vornamen oder Nachnamen korrespondieren. Dieses Selbstbestimmungsrecht hat aber relativ enge Grenzen, denn es ist eingebettet in diejenigen Gebräuche, die im jeweiligen Beziehungskreis des Betroffenen üblich sind. Jemand, der beispielsweise in eine Gewerkschaft eintritt, als Bauarbeiter in einer Kolonne mitarbeitet oder als Sportler in einer Gemeinschaft mitspielt, muß sich üblicherweise gefallen lassen, daß er geduzt wird. Schon diese Beispiele zeigen, daß das Anredeselbstbestimmungsrecht kein absolutes ist. Ein Vergleich mit anderen Kulturkreisen, bei denen es nur eine Anredeform gibt, unterstreicht dies nur.

Zwar kann dem Kl. ebenfalls darin gefolgt werden, daß gerade im Angestelltenbereich ein allgemeines Duzen von Kollegen und Vorgesetzten nicht üblich ist. Dies war auch im Arbeitsverhältnis mit der früheren Arbeitgeberin des Kl. nicht anders. Die in diesem Zusammenhang von ihm vertretene Meinung, daß durch den Betriebsübergang gem. § 613a BGB diese bisherige betriebliche Gepflogenheit bei der Firma D auch Gegenstand des neuen Arbeitsverhältnisses mit der Bekl. geworden sei, weshalb er nach wie vor verlangen könne, gesiezt zu werden, bedarf im vorliegenden Fall keiner vertieften Erörterung. Denn wie sich aus der Darstellung des Kl. im Berufungstermin ergibt, ist mit der Übernahme der Filiale durch die Bekl. im allseitigen Einverständnis eine Änderung der betrieblichen Umgangsformen eingetreten, die vom Kl. nun nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Wie von ihm im Berufungstermin mitgeteilt wurde, hat nach der Übernahme der Filiale eine Betriebsversammlung stattgefunden, bei der die entsandten Mitvertreter der Bekl. die von ihr geplanten Neuerungen darstellten und in diesem Zusammenhang auch die Unternehmensphilosophie der Bekl. ausbreiteten, die einen Abbau von Hierarchien und ein allgemein betriebliches Duzen beinhaltet. Diese Umgangsformen wurden von der Belegschaft der Filiale umgesetzt, ohne daß es zu Widerspruch seitens des Betriebsrats oder einzelner Belegschaftsmitglieder kam. Die Bekl. hat in diesem Zusammenhang unwidersprochen vorgetragen, daß der neue Verhaltenskodex von der Filialbelegschaft „verinnerlicht„ worden sei.

2. Auf der kollektiven Ebene hat der Betriebsrat der Filiale R. die von der Bekl. initiierten neuen Umgangsformen offensichtlich mitgetragen, so daß eine formlose Regelungsabrede in der Mitbestimmungsangelegenheit gem. § 87 I Nr. 1 BetrVG vorliegt. Damit hätte allerdings der Kl. nicht ohne weiteres einen etwaigen Anspruch, gesiezt zu werden, verloren, wenn dieser Inhalt seines bisherigen Arbeitsverhältnisses gewesen sein sollte (vgl. BAG, NZA 1991, 415 = BB 1991, 2017).

Indessen kann schwerlich davon ausgegangen werden, daß die Anredeform Gegenstand des bisherigen Vertragsverhältnisses zwischen dem Kl. und der Firma D war. Allenfalls hat sich eine Gepflogenheit entwickelt, die jedoch über das individuelle Vertragsverhältnis hinausgeht. Entscheidender jedoch ist, daß auch der Kl. die von der Bekl. eingeführten neuen Umgangsformen akzeptiert hat. Ob dies mit Widerwillen geschah, wie er behauptet, kann dahinstehen, denn nach außen hin ist dieser angebliche Widerwille bis zum Schreiben vom 20. 10. 1997 nicht in Erscheinung getreten. Wenn man also überhaupt die Frage der Abrede auf der individualrechtlichen Vertragsebene ansiedeln wollte, so ist diese neue Umgangsform mit der konkludenten Annahme durch den Kl. zum Inhalt des Arbeitsverhältnisses mit der Bekl. geworden. Eine Veränderung dieses Zustandes wäre dann nur durch die arbeitsrechtlich anerkannten Gestaltungsmöglichkeiten (Änderungskündigung, Änderungsvertrag) möglich. Da nach alledem das betriebliche Duzen auf kollektivrechtlicher Ebene durch Duldung des Betriebsrats wie auch auf individualrechtlicher Ebene durch die Akzeptanz des Kl. eingeführt wurde, bedarf es keiner Auseinandersetzung über die Frage, ob die Bekl. berechtigt war, ihre an und für sich in Deutschland branchenüblichen innerbetrieblichen Umgangsformen einseitig auch in der Filiale R. durchzusetzen. Die Einführung dieser neuen Umgangsformen ist allseitig - auch vom Kl. - akzeptiert worden.

3. Auch wenn das allseitige Duzen in der Filiale R. zum Gegenstand der betrieblichen Ordnung geworden ist, könnte es die arbeitgeberseitige Fürsorgepflicht gebieten, den Kl. nunmehr hiervon auszunehmen. Tragfähige Gründe hierfür hat der Kl. allerdings nicht vorgetragen. Allein der Umstand, daß er sich von der Bekl. bzw. der Filialleitung drangsaliert fühlt, ist nach Meinung der Berufungskammer kein Grund, die eingeführten und praktizierten Umfangsformen speziell für den Kl. wieder zu ändern und ihm gegenüber zum Siezen zurückzukehren. Denn das vom Kl. beklagte Spannungsverhältnis und die damit einhergehende Entfremdung besteht offenbar nur mit der Bekl. bzw. deren Repräsentanten in der Filialleitung. Ein gestörtes Verhältnis mit seinen Kolleginnen und Kollegen behauptet der Kl. nicht. Überdies würde eine Ausnahmeregelung zugunsten des Kl. wiederum eine Änderung der betrieblichen Ordnung bedeuten und das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats gem. § 87 I Nr. 1 BetrVG tangieren.

4. Soweit der Kl. nunmehr den Hilfsantrag gestellt hat, die Bekl. zu verurteilen, ihm zu gestatten, die anderen Mitarbeiter am Arbeitsplatz zu siezen sowie diesen Mitarbeitern zu erlauben, ihn ebenfalls zu siezen, übersieht er, daß damit in die inzwischen gewachsene betriebliche Ordnung der Filiale R. eingegriffen würde. Darüber hinaus berührt dieser Antrag Interessen Dritter, die in diesem Rechtsstreit nicht Partei sind. Es handelt sich dabei um die Mitarbeiter der Filiale R. Nach dem unwidersprochenen Vortrag der Bekl. haben sich diese nämlich mittlerweile an die neuen Umgangsformen gewöhnt und diese schätzen gelernt. Sie möchten also nach wie vor geduzt werden und ihre Kollegen wiederduzen. Würde dem Antrag des Kl. stattgegeben werden, so würde ohne stichhaltigen Grund in das Anredeselbstbestimmungsrecht der anderen Belegschaftsmitglieder eingegriffen werden.

5. Der auf Feststellung gerichtete weitere Hilfsantrag des Kl. richtet sich gegen eine angebliche betriebliche Weisung der Bekl. betreffend das Duzen am Arbeitsplatz. Auch dieser Antrag ist unbegründet. Denn die Bekl. hat eine solche vom Kl. behauptete Weisung bestritten. Der Kl. hat seine Behauptung auch nicht näher substantiiert. Seine Erläuterungen im Berufungstermin ergeben auch eine solche Weisung nicht. Vielmehr dürfte es so gewesen sein, daß in der ersten Betriebsversammlung nach der Übernahme der Filiale die Unternehmensphilosophie und die Prinzipien des innerbetrieblichen Umgangs von den Vertretern der Bekl. dargestellt wurden und daraufhin widerspruchslos - jedenfalls in der Frage des Duzens am Arbeitsplatz - praktiziert wurden. Eine einseitige Weisung der Bekl. war offensichtlich nicht erforderlich und ist offenbar auch nicht erfolgt. Schon von daher ist der gestellte Hilfsantrag gegenstandslos.

6. Abschließend ist darauf hinzuweisen, daß sich der vorliegende Rechtsstreit nicht mit der Frage befaßt, ob es einem Unternehmen gestattet sein kann, einer Belegschaft im Interesse der „corporate identity„ bestimmte Verhaltensweisen, die das persönliche Selbstbestimmungsrecht tangieren, aufzuerlegen, obwohl die Mitarbeiter insgesamt oder einzelne hiermit nicht einverstanden sind. Denn im vorliegenden Fall erfolgte die Einführung des Duzens am Arbeitsplatz ohne ersichtlichen Widerstand der Belegschaft.

Vorinstanzen

ArbG Rheine, 2 Ca 1659/97, 16.1.1998

Rechtsgebiete

Arbeitsrecht

Normen

GG Art. 1 I, 2 II; BGB §§ 242, 611; BetrVG § 87 I Nr. 1