Qualifizierter Rotlichtverstoß nach Überfahren der Haltlinie

Gericht

BGH


Art der Entscheidung

Beschluss


Datum

24. 06. 1999


Aktenzeichen

4 StR 61/99


Leitsatz des Gerichts

Wer bei Grünlicht die Haltlinie überfährt und nach verkehrsbedingtem Halt bei schon länger als eine Sekunde andauernder Rotphase in eine Kreuzung einfährt, kann einen qualifiziertenRotlichtverstoß i.S. von Nr. 34.2 der Anlage zur BKatV begehen.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Das AG hat gegen den Betr. wegen „fahrlässiger Nichtbeachtung einer länger als eine Sekunde andauernden Rotlichtphase„ eine Geldbuße von 250 DM und ein Fahrverbot von einem Monat verhängt. Der Betr. hat gegen das Urteil Rechtsbeschwerde eingelegt.

Nach den Feststellungen wollte der Betr. als Führer eines Pkw an einer durch eine LZA gesicherten Kreuzung nach rechts abbiegen. Er überfuhr die Haltlinie (Zeichen 294 zu § 41 III Nr. 2 StVO) vor der LZA zu einem Zeitpunkt, als diese noch Grün zeigte. Aufgrund hohenVerkehrsaufkommens kam er in Höhe der LZA so zum Stehen, daß er deren Farbfolge weiterhin erkennen konnte. 58 Sek. nach Umschalten auf Rot setzte der Betr., der das Rotlicht nicht wahrgenommen hatte,seine Fahrt fort und fuhr in den Kreuzungsbereich ein. Der Querverkehr hatte zu diesem Zeitpunkt Grünlicht.

Zur Anordnung des Fahrverbots hat das AG ausgeführt, das Verhalten des Betr., der unter grober Verletzung der Pflichten eines Kfz-Führers gehandelt habe, erfülle den Regeltatbestand der Nr. 34.2 BKatV.

Das BayObLG beabsichtigt, die Rechtsbeschwerde zu verwerfen. Ander beabsichtigten Entscheidung sieht es sich durch den Beschluß des OLG Köln vom 19. 3. 1998 (NZV 1998, 297 = DAR 1998, 244 = VRS 95, 136) gehindert. Nach dessen Auffassung begeht, wer bei Grünlichtdie Haltlinie - wenn auch nur mit den Vorderrädern seines Fahrzeugs - überfährt und nach verkehrsbedingtem Halt bei Rot in die Kreuzung einfährt, keinen qualifizierten Rotlichtverstoß: Für die Berechnung derRotlichtdauer - insbesondere der in Nr. 34.2 BKatV genannten Rotphase von mehr als einer Sekunde - sei in den Fällen, in denen vor der LZA eine Haltlinie angebracht ist, um einer klaren Regelung willenausschließlich der Zeitpunkt maßgebend, in dem der Betr. die Haltlinie überfahre. Für die Anwendung der Nr. 34.2 BKatV komme es deshalb auf den Augenblick des Überfahrens der Haltlinie an, weil ab diesemZeitpunkt der Fahrer das rote Wechsellichtzeichen, das ihm gebietet, an der Haltlinie zu halten, nicht befolge. Der Zeitpunkt des Einfahrens in den geschützten Bereich der Kreuzung sei für die Frage der Länge derRotlichtzeit ohne Belang. Zwar verbiete das Rotlicht der LZA die Einfahrt in den Kreuzungsbereich, der Verstoß gegen dieses Verbot begründe aber nur einen „einfachen„ und nicht einen „qualifizierten„ Rotlichtverstoß.

Das BayObLG hat deshalb die Sache gem. § 79 III 1 OWiG, § 121 II GVG dem BGH zur Entscheidung über folgende Rechtsfrage vorgelegt:

„Kann auch derjenige, der bei Grünlicht die Haltlinie überfährt undnach verkehrsbedingtem Halt bei schon länger als eine Sekunde andauernder Rotphase in eine Kreuzung einfährt, einen qualifizierten Rotlichtverstoß i.S. von Nr. 34.2 BKatV begehen?„

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

III. Die Voraussetzungen für die Vorlegung gem. § 79 III 1 OWiG i.V. mit § 121 II GVG sind erfüllt.

An der beabsichtigten Entscheidung ist das BayObLG gehindert, wenn - entsprechend der Auffassung des OLG Köln - ein qualifizierter Rotlichtverstoß ausgeschlossen wäre, sofern die Haltlinie - sei es auch nur mit den Vorderrädern des Fahrzeugs - bei Grünlichtüberfahren worden ist.

IV. Die Vorlegungsfrage ist zu bejahen.

Ein Rotlichtverstoß liegt vor, wenn gegen das Gebot des § 37 II Nr. 1 S. 7 StVO - „Halt vor der Kreuzung!„ - verstoßen wird, ein Fahrzeugführer also bei Rotlicht in den durch die LZA gesichertenBereich, im Regelfall den Kreuzungs- oder Einmündungsbereich, einfährt (vgl. BGHSt 43, 285 [291] = NZV 1998, 119). Dem bloßen Überfahren einer der LZA zugeordneten Haltlinie (die ergänzend zu dem durch die LZA gegebenen Halt- und Wartegebot anordnet: „Hier Halten!„) kommt insoweit keine eigenständige Bedeutung zu. Zwar verstößt ein Fahrzeugführer, der bei Rotlicht die Haltlinie überfährt, gegen §§ 41 III Nr. 2, 49 III Nr. 4 StVO,wenn er noch vor dem geschützten Kreuzungsbereich anhält. Diese Ordnungswidrigkeit tritt aber hinter dem Verstoß gegen §§ 37 II Nr. 1 S. 7, 49 III Nr. 2 StVO zurück, wenn er anschließend in den durch die LZA geschützten Bereich einfährt (BayObLGSt 1994, 13 = NZV 1994, 200; OLG Stuttgart, VRS 94, 141; Jagusch/Hentschel, StraßenverkehrsR, 35. Aufl., § 37 StVORdnr. 61).

Ungeachtet dessen entspricht es hinsichtlich der Berechnung der Rotlichtdauer - insbesondere der in Nr. 34.2 BKatV genannten Rotphase von mehr als einer Sekunde - gefestigter Rechtsprechung, daß es in den Fällen, in denen vor der LZA eine Haltlinie angebracht ist, auf den Zeitpunkt ankommt, in dem der Betr. dieHaltlinie überfährt (vgl. BayObLG, NZV 1995, 497 = VRS 90, 54; OLG Düsseldorf, VRS 93, 212; OLG Stuttgart, VRS 94, 141 jew. m.w. Nachw.; so jetzt auch OLG Oldenburg, VRS 92, 222 =NZV 1996, 503 L unter Aufgabe früherer Rechtsprechung - Abstellen auf das Einfahren in den Kreuzungsbereich -, vgl. NZV 1993, 446 = VRS 86, 74); der Zeitpunkt des Einfahrens in den geschützten Bereich der Kreuzung ist für die Frage der Länge der Rotlichtzeit dann grundsätzlich ohne Belang (OLG Celle,VRS 91, 312). Diese Rechtsprechung mag aus systematischen Erwägungen und mit Blick darauf, daß die Feststellung eines Rotlichtverstoßes das Einfahren in den geschützten (Kreuzungs-)Bereich voraussetzt, zweifelhaft erscheinen. Sie hat aber, indem mit der Haltlinie ein optisch deutlich wahrnehmbarer, der LZA unmittelbar zugeordneter und von den Besonderheiten des jeweiligen Kreuzungs- oder Einmündungsbereichs unabhängiger Anknüpfungspunkt bestimmt wird, den Vorzug einer in ihren Voraussetzungen klaren und deswegen auch praktikablen Regelung für sich. Im übrigen wirkt sie sich im Ergebnis nur zugunsten der betroffenen Fahrzeugführer aus, weil ein qualifizierter Rotlichtverstoß nach ihr nur vorliegt, wenn das Rotlicht bereits bei Überfahren der Haltlinie und nicht erst zu einem späteren Zeitpunkt (Vorbeifahren an der LZA oder Einfahren in den Kreuzungsbereich)länger als eine Sekunde aufgeleuchtet hat.

Für die Berechnung der Rotlichtdauer kann aber nicht in allen Fällen auf den Zeitpunkt des Überfahrens der Haltlinie abgestellt werden. Diese Anknüpfung scheidet etwa dann offensichtlich aus,wenn vor der LZA keine Haltlinie angebracht ist. Auch in diesen Fällen muß es einen Bezugspunkt für die Dauer des Rotlichtverstoßes geben, wobei entweder der Zeitpunkt des Vorbeifahrens an der LZA (vgl. OLG Karlsruhe, NZV 1995, 289; OLG Düsseldorf,VRS 93, 462 = NZV 1997, 450 L) oder der des Einfahrens in den durch die LZA geschützten Bereich (vgl. BayObLGSt 1994, 13 = NZV 1994, 200; BayObLG, NZV 1995, 497 = VRS 90, 54; OLGDüsseldorf, NZV 1998, 78 = DAR 1997, 322 m.w. Nachw.) in Betracht kommt. Aber auch in Fällen, in denen das Überfahren der Haltlinie und das Einfahren in den Kreuzungsbereich nicht nahtlos ineinander übergehen, etwa weil zwischen beiden Verkehrsvorgängen ein längerer, verkehrsbedingter Halt liegt, kann ein qualifizierter Rotlichtverstoß gegeben sein. Dies gilt jedenfalls dann,wenn der Betr. - wie hier - noch vor der LZA zum Stehen kommt und deren Signale beobachten kann. Schaltet nämlich eine LZA auf Rot, nachdem ein Fahrzeugführer zuvor bei Grün die vorgelagerte Haltlinie überfahren hat, so gilt für ihn ab dem Zeitpunkt desUmschaltens das Gebot „Halt vor der Kreuzung„, ohne daß dann noch eine von dem Verkehrsteilnehmer zu beachtende - weil bereits passierte - Haltlinie vorhanden ist. Diese Verkehrssituation unterscheidet sich nicht wesentlich von einem Sachverhalt, in demeine Haltlinie fehlt, so daß für die Berechnung der Rotlichtdauer ebenfalls ein anderer Bezugspunkt (Vorbeifahren an der LZA oder Einfahren in den Kreuzungsbereich) maßgeblich sein muß.

Die gegenteilige Rechtsansicht des OLG Köln, wonach bei einer solchen Konstellation grundsätzlich nur ein „einfacher„ Rotlichtverstoß möglich sein soll, ist zudem mit dem Schutzzweck derNr. 34.2 BKatV nicht vereinbar. Wie auch in der Begründung des Bundesrates zur 12. VO zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 15. 10. 1991 zum Ausdruck kommt (vgl. VkBl1991, 702ff.), will Nr. 34.2 BKatV der bei einer Rotlichtdauer von mehr als einer Sekunde erhöhten abstrakten Gefährdung der auf das Grünlicht für den Querverkehr vertrauenden Verkehrsteilnehmer Rechnung tragen. Eine solche erhöhte abstrakte Gefährdung ist aber auch dann gegeben, wenn ein Verkehrsteilnehmer ineinen Kreuzungsbereich einfährt, obwohl die für seine Fahrtrichtung maßgebliche LZA für ihn erkennbar bereits 58 Sek. Rot zeigt. Unter dem Gesichtspunkt der Gefährlichkeit ist es ohne Belang, ob die LZA in einem solchen Fall bei Überfahren der Haltlinie noch „Grünlicht„ oder bereits kurze Zeit „Rotlicht„ angezeigt hat.

Scheidet danach aber bei besonderen Verkehrssituationen - etwawenn es zwischen dem Überfahren der Haltlinie und dem Einfahren in den geschützten Bereich zu einem den sonst einheitlichen Verkehrsvorgang unterbrechenden Halt kommt - die vor einem Lichtzeichen angebrachte Haltlinie als Bezugspunkt für die Berechnung der Rotlichtdauer aus, so kann sich der Fahrzeugführergegenüber dem Vorwurf eines qualifizierten Rotlichtverstoßes nicht schon damit entlasten, daß er die Haltlinie bei Grün überfahren habe. Allerdings bedarf es dann, um dem jeweiligen Einzelfall gerecht zu werden, auch unter Berücksichtigung der indiziellenWirkung des Regelbeispiels der Nr. 34.2 BKatV der sorgfältigen Prüfung, ob der Fahrzeugführer mit dem Einfahren in den Kreuzungsbereich bei Rotlicht seine Pflichten „grob„ i.S. des § 25 StVG verletzt hat, was indes in Fällen, in denen er sein Fahrzeugvor der LZA angehalten hat und erst nach längerer Rotlichtdauer in den geschützten Bereich eingefahren ist, regelmäßig zu bejahen sein wird.

Rechtsgebiete

Straßenverkehrs- und Straßenrecht

Normen

StVO § 37; BKatV Anlage zu § 1 I, Nr. 34.2