Mutterschutzrechtliches ärztliches Beschäftigungsverbot

Gericht

BAG 5. Senat


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

31. 07. 1996


Aktenzeichen

5 AZR 474/95


Leitsatz des Gerichts

  1. Einem mutterschutzrechtlichen ärztlichen Beschäftigungsverbot kommt ein hoher Beweiswert zu.

  2. Das mutterschutzrechtliche ärztliche Beschäftigungsverbot kann widerlegt werden. Dies kann nicht nur durch eine anderweitige ärztliche Untersuchung geschehen. Vielmehr kann der Arbeitgeber tatsächliche Umstände darlegen, die den Schluß zulassen, daß das Beschäftigungsverbot auf nicht zutreffenden Angaben der Schwangeren, auch hinsichtlich ihrer Beschwerden, beruht.

  3. Die Schwangere, der ein auf unrichtigen Angaben beruhendes ärztliches Beschäftigungsverbot erteilt worden ist, trägt das Lohnrisiko.

  4. Der Arbeitgeber trägt das Risiko, das Gericht von der Unrichtigkeit des ärztlichen Beschäftigungsverbots überzeugen zu müssen.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Kl. begehrt Mutterschaftslohn aufgrund eines ärztl. Beschäftigungsverbotes.

Die Bekl. sind niedergelassene Zahnärzte. Die Kl. war bei ihnen als Zahnarzthelferin beschäftigt. Anfang des Jahres 1993 wurde die Kl. wegen einer Eileiterschwangerschaft operiert. Im Sommer desselben Jahres wurde sie erneut schwanger. In einer ärztl. Bescheinigung vom 12. 8. 1993 wurde der 22. 2. 1994 als voraussichtl. Geburtstermin angegeben. Das Kind der Kl. wurde am 2. 3. 1994 geboren.

Mit einer ärztl. Bescheinigung vom 29. 7. 1993 erteilte der Arzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Dr. Sch. der Kl. ein Beschäftigungsverbot. Die Bescheinigung lautet:

"Aufgrund des bisherigen Schwangerschaftsverlaufs und der Vorgeschichte muß bei Weiterbeschäftigung von Frau S. eine Gefährdung von Mutter und Kind angenommen werden, so daß i.S. von Paragraph 3 und Paragraph 4 des Mutterschutzgesetzes ein Beschäftigungsverbot vorliegt."

Hierüber kam es - schon vorprozessual - zwischen den Parteien zu Auseinandersetzungen. Die Bekl. bestritten, daß ein Beschäftigungsverbot veranlaßt sei. Die Kl. habe das ärztl. Verbot erschlichen, indem sie wahrheitswidrig angegeben habe, sie müsse Röntgenarbeiten ausführen. Die Kl. habe eigens Erkundigungen beim Gewerbeaufsichtsamt eingezogen. Der Arzt Dr. Sch. teilte mit, es treffe nicht zu, daß er das Beschäftigungsverbot auf Veranlassung des Gewerbeaufsichtsamtes ausgesprochen habe. Das Beschäftigungsverbot stehe auch nicht im Zusammenhang mit einer Röntgentätigkeit der Kl. Die Kl. habe vielmehr auch ohne körperl. Belastungen Beschwerden, die schon bei ein- bis zweistündigem Stehen oder Sitzen deutlich zunähmen. Grundlage des Beschäftigungsverbots sei nicht der versehentl. genannte § 4, sondern nur § 3 des Mutterschutzgesetzes.

Die Kl. hat von der Bekl. die Erstattung einer Attestgebühr in Höhe von 10 DM, restl. 100 DM Gehalt für den Monat August 1993 sowie Mutterschutzlohn für die Monate September 1993 bis Januar 1994 in Höhe von monatl. 1281,07 DM netto, insgesamt also 6515,35 DM netto verlangt.

Sie hat vorgetragen, das Beschäftigungsverbot sei zu Recht ausgesprochen worden. Es treffe nicht zu, daß sie es sich durch falsche Angaben erschlichen habe. Sie habe Schmerzen infolge postoperativer Narben an der Gebärmutter gehabt. Außerdem habe sie im Röntgenraum Arbeiten verrichten müssen.

Die Kl. hat beantragt, die Bekl. gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an sie 6515,35 DM netto nebst 4 % Zinsen aus 100 DM seit dem 1. 9. 1993, sowie 4 % Zinsen aus einem Betrag in Höhe von 1281,07 DM seit dem 1. 10. 1993, 4 % Zinsen aus 1281,07 DM seit dem 1. 11. 1993, 4 % Zinsen aus 1281,07 DM seit dem 1. 12. 1993, sowie 4 % Zinsen aus 1281,07 DM seit dem 1. 1. 1994 und weitere 4 % Zinsen aus 1281,07 DM seit dem 1. 2. 1994 zu zahlen.

Die Bekl. haben beantragt, die Klage abzuweisen. Für ein Beschäftigungsverbot nach § 3 MuSchG habe es keinen hinreichenden Anlaß gegeben. Die Kl. habe weder selbst röntgen noch an Röntgenaufnahmen teilnehmen müssen. Die von der Kl. angegebenen Beschwerden seien nicht glaubhaft. Sie sei von Dezember 1993 bis Januar 1994 erkennbar ohne jede Beeinträchtigung oder Behinderung ihren privaten Besorgungen und Erledigungen nachgegangen. Von Belastungen oder gar Beschwerden bei körperl. Betätigungen könne keine Rede sein.

Das ArbG hat der Klage stattgegeben. Das LAG hat der Klage im wesentl. stattgegeben. Die Berufung der Bekl. war nur hinsichtl. der Attestgebühr, hinsichtl. 53,63 DM für den Monat August (anstelle geforderter 100 DM) sowie für die Zeit ab Beginn der Schutzfrist im Monat Januar 1994 erfolgreich. Die Revision der Bekl., mit der sie die Abweisung der Klage insgesamt erreichen wollen, hat Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Die Revision führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Nach den bisher getroffenen Feststellungen läßt sich nicht abschließend beurteilen, ob der Kl. Mutterschaftslohn zusteht.

I. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 MuSchG hat der Arbeitgeber einer schwangeren Frau das Arbeitsentgelt weiterzuzahlen, wenn die Frau wegen eines ärztl. Beschäftigungsverbots nach § 3 Abs. 1 MuSchG ganz oder teilweise mit der Arbeit aussetzt. Gem. § 3 Abs. 1 MuSchG dürfen werdende Mütter nicht beschäftigt werden, soweit nach ärztl. Zeugnis Leben oder Gesundheit von Mutter oder Kind bei Fortdauer der Beschäftigung gefährdet sind.

II. Die Kl. hat wegen des Beschäftigungsverbots des Dr. Sch. vom 29. 7. 1993 mit der Arbeit ausgesetzt. Ob dieses Beschäftigungsverbot zu Recht ausgesprochen worden ist, kann noch nicht abschließend beurteilt werden.

1. Das LAG hat angenommen, das Beschäftigungsverbot sei mit der Vorlage der ärztl. Bescheinigung wirksam geworden. Damit sei auch die Zahlungspflicht der Bekl. nach § 11 MuSchG ausgelöst worden. Auch bei "berechtigten Zweifeln an der Richtigkeit des ärztl. Zeugnisses" seien die schwangere Frau und der Arbeitgeber zwingend an das Beschäftigungsverbot gebunden. Es komme nicht darauf an, ob die Schwangerschaft die Ursache für die Gefährdung von Mutter und Kind sei. Deshalb seien auch die Grundsätze, die für den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung entwickelt worden seien, hier nicht anzuwenden. Dies folge aus der unterschiedl. Fassung von § 1 LFZG und § 3 MuSchG. Beim ärztl. Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 1 MuSchG sei der Arbeitgeber ledigl. berechtigt, eine nochmalige Untersuchung der Schwangeren zu verlangen. Im Streitfall habe es zwar "handfeste Anhaltspunkte" für Zweifel an der sachl. Berechtigung des ärztl. Beschäftigungsverbotes gegeben. Diese hätten aber nur Anlaß für eine anderweitige Untersuchung der Kl. geben können. Ohne eine solche Untersuchung sei der Wortlaut der ärztl. Bescheinigung maßgebend. Eine Verteilung des Risikos der Klärung offener Fragen dürfe nicht zu Lasten der werdenden Mutter gehen.

2. Der Senat vertritt eine andere Auffassung.

a) Dem LAG ist im Ausgangspunkt darin zu folgen, daß ein Arzt, der ein ärztl. Beschäftigungsverbot verhängt, weil er bei der weiteren Beschäftigung der Schwangeren das Leben oder die Gesundheit der Mutter oder des Kindes gefährdet sieht, diese Entscheidung in eigener Verantwortung treffen muß. Die Erhebung der Befunde und deren Bewertung ist Aufgabe des Arztes. Das Gericht wird das nachvollziehbare Urt. eines Arztes weitgehend zu respektieren haben. Es kann nicht seine eigenen - wirkl. oder vermeintl. - Fachkenntnisse zum Anlaß nehmen, über die ärztl. Prognose hinwegzugehen. Dazu reicht jedenfalls die Angabe einzelner Befunde nicht aus (BAG Urt. vom 5. 7. 1995 - 5 AZR 135/94 - AP Nr. 7 zu § 3 MuSchG1968 [II 2b (2) der Gründe], m.w.N.).

Die fachl. Kompetenz entbindet den Arzt aber nicht von der Pflicht, seine Entscheidung mit großer Sorgfalt zu treffen. Er hat alle Umstände abzuwägen und verantwortl. zu entscheiden, ob eine Schwangerschaft normal verläuft, ob sie nicht normal verläuft, ob die Beschwerden Krankheitswert haben oder ob - im Vorfeld krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit - die Schwangere mit der Arbeit aussetzen muß, um Mutter oder Kind vor anderenfalls zu befürchtenden Schäden zu schützen. Hierbei muß dem Arzt ein Beurteilungsspielraum eingeräumt werden. Er muß eine Prognose abgegeben, kann also seine Entscheidung nie mit letzter Sicherheit treffen. Andererseits darf der Arzt nicht leichtfertig handeln. Verneint er einen Krankheitswert der Beschwerden und entschließt er sich dazu, das vom Gesetzgeber in seine Entscheidung gestellte Beschäftigungsverbot auszusprechen, dann bedarf es hierzu auch für ihn deutlicher und greifbarer Hinweise aus medizinischer Sicht. Dabei hat der Arzt zu entscheiden, ob er das Beschäftigungsverbot überhaupt erteilt, ob er es nur vorübergehend erteilt oder für die gesamte Zeit bis zur Entbindung.

Geht der Arzt so vor, so hat seine Bescheinigung, mit der er ein Beschäftigungsverbot erteilt, eine hohe Beweiskraft. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichtes kann aber nicht angenommen werden, das ärzt Beschäftigungsverbot sei praktisch unangreifbar und könne nur durch eine vom Arbeitgeber verlangte weitere ärztl. Untersuchung der Schwangeren widerlegt werden. Zwar wird regelmäßig eine zusätzl. ärztl. Untersuchung ein naheliegendes und geeignetes Mittel sein, die Annahmen und Schlußfolgerungen eines ärztl. Beschäftigungsverbotes zu überprüfen. Das Mutterschutzgesetz hindert den Arbeitgeber aber keineswegs, Umstände darzulegen, die ungeachtet der medizinischen Bewertung den Schluß zulassen, daß ein Beschäftigungsverbot auf unzutreffenden tatsächl. Voraussetzungen beruht, insbesondere auf von der Schwangeren unrichtig geschilderten tatsächl. Arbeitsbedingungen. Ebensowenig ist es dem Arbeitgeber verwehrt, Tatsachen darzulegen, die ergeben, daß Angaben der Schwangeren oder von ihr geklagte Beschwerden nicht verifizierbar sind. Immerhin ist denkbar, daß der Arzt durch eine übertriebene Darstellung von Beschwerden zum Ausspruch eines Beschäftigungsverbots veranlaßt oder gar ein Beschäftigungsverbot durch falsche Behauptungen erschlichen wird. Der Senat hat daher bereits in seinem Urt. vom 5. 7. 1995 (5 AZR 135/94 - AP Nr. 7 zu § 3 MuSchG1968) entschieden, daß sich das Tatsachengericht in Zweifelsfällen die Gründe für ein Beschäftigungsverbot erläutern lassen muß. Dabei wird dem Arzt Gelegenheit zu geben sein, nicht nur, wie bei der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, seinen Befund darzulegen, sondern auch seine für das - anspruchsbegründende - Beschäftigungsverbot maßgebl. Gründe vorzutragen.

b) Das LAG hat weiter angenommen, das (Lohn-)Risiko eines zu Unrecht erteilten Beschäftigungsverbots könne nicht der schwangeren Frau angelastet werden, sondern sei vom Arbeitgeber zu tragen. Es hat dies aus Art. 6 Abs. 4 GG hergeleitet. Auch diese Erwägungen überzeugen nicht. Der Schutz der (werdenden) Mutter wird nicht dadurch beeinträchtigt, daß ihr die Entgeltfortzahlung aufgrund eines sachl. nicht berechtigten Beschäftigungsverbots versagt wird. Vor allem übersieht das Berufungsgericht, daß es in der Regel nicht gegen den Willen der Schwangeren zum Ausspruch eines Beschäftigungsverbotes kommen wird. Es ist daher auch für den Regelfall nicht unangemessen, das Risiko der Lohnfortzahlung der Schwangeren anzulasten, die dazu beigetragen hat, daß ihr ein objektiv unrichtiges ärztl. Beschäftigungsverbot erteilt worden ist. Jedenfalls kann es dem Arbeitgeber, der, wie das Berufungsgericht ausgeführt hat, "handfeste Zweifel an der Berechtigung des Beschäftigungsverbots dargelegt hat, nicht verwehrt werden, sich gegen seine Pflicht zur Fortzahlung des Lohnes mit rechtl. Mitteln zur Wehr zu setzen. Allerdings trägt der Arbeitgeber das Risiko dafür, das Gericht von der Unrichtigkeit des ärztl. Beschäftigungsverbots überzeugen zu müssen.

c) Im Streitfall ist das LAG davon ausgegangen, daß gegen die Berechtigung des vorl. Beschäftigungsverbots erhebl. Bedenken bestehen. Es ist diesen Bedenken jedoch nicht nachgegangen, sondern hat angenommen, daß "auch bei berechtigten Zweifeln an der Richtigkeit des ärztl. Zeugnisses beide Parteien, also die schwangere Arbeitnehmerin und der Arbeitgeber, an das Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 1 MuSchG zwingend gebunden" seien und dem zweifelnden Arbeitgeber nur die Möglichkeit offenstehe, von der Schwangeren eine erneute ärztl. Untersuchung zu verlangen. Eine erneute ärztl. Untersuchung ist jedoch nur eine unter mehreren Möglichkeiten, die dem Arbeitgeber zur Verfügung stehen, um die Annahme einer Gefährdung für Leib und Leben von Mutter und Kind zu widerlegen.

III. Der Senat kann in der Sache nicht abschließend entscheiden (§ 565 Abs. 3 ZPO). Der Sachverhalt bedarf weiterer Aufklärung. Zwar hat das ArbG den attestierenden Arzt Dr. Sch. als Zeugen vernommen. Die Bekl. haben jedoch noch wesentl. mehr Umstände im Laufe des Rechtstreits geltend gemacht, die erhebl. Zweifel daran aufkommen lassen, ob das ärztl. Beschäftigungsverbot zu Recht erteilt worden ist oder ob es die Kl. erschlichen hat. Dies betrifft auch die Frage, welche Beschwerden von der Kl. gegenüber dem attestierenden Arzt geklagt worden sind und ob diese Beschwerden im damaligen Stadium der Schwangerschaft aus medizinischer Sicht glaubwürdig sind, und wenn ja, ob sie ein bis zur Niederkunft andauerndes Beschäftigungsverbot rechtfertigten. Sollte die Kl. den Arzt nicht von seiner Verschwiegenheitspflicht befreien, wird das LAG seiner Entsch. die tatsächl. Behauptungen der Bekl. zugrundelegen müssen.

Rechtsgebiete

Arbeitsrecht

Normen

MuSchG 1968 § 3 Abs. 1