Zuweisung eines behinderten Schülers an Sonderschule

Gericht

BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats)


Art der Entscheidung

Beschluss über Verfassungsbeschwerde


Datum

04. 04. 1997


Aktenzeichen

1 BvR 9/97


Leitsatz des Gerichts

Zur Folgenabwägung im Verfahren auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung bei Streit um die Überweisung eines körperbehinderten Schülers von einer Grundschule an eine Sonderschule (hier: Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach der Beschwerdentscheidung des OVG Lüneburg, NJW 1997, 1087).

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die mit dem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach § 32 I BVerfGG verbundene Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen eine im vorläufigen Rechtsschutzverfahren ergangene Beschwerdeentscheidung des OVG Lüneburg (NJW 1997, 1087), mit der der Antrag der seit ihrer Geburt körperbehinderten Bf. auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen ihre von der Verwaltungsbehörde verfügte Überweisung in eine Sonderschule abgelehnt wurde. Die Entscheidung des OVG bestätigt eine frühere Entscheidung des gleichen Gerichts, die auf Verfassungsbeschwerde der Bf. wegen Verletzung von Art. 3 III GG mit Beschluß der 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 30. 7. 1996 (NJW 1997, 1062) aufgehoben wurde.

Auf den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung setzte die Kammer die Wirkung des Beschlusses des OVG Lüneburg bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, aus.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.

1. Nach den §§ 32 , 93d II BVerfGG kann die Kammer im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 88, 25 (35) - NVwZ-RR 1993, 549). Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muß das BVerfG die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 89, 109 (110f.) = NVwZ 1993 Beil. 2 S. 9).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet.

Die danach gebotene Folgenabwägung fällt zugunsten der Bf. aus.

a) Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, müßte die Bf. noch vor dem rechtskräftigen Abschluß des Hauptsacheverfahrens gegen ihren Willen eine Sonderschule besuchen. Auch wenn sie dort sonderpädagogisch voll gefördert werden könnte, würde doch die Verwirklichung ihres weiteren - ebenfalls den staatlichen Erziehungsauftrag prägenden - Anliegens, durch eine gemeinsame Beschulung mit Nichtbehinderten ein hohes Maß an Integration in der Gesellschaft zu erreichen, zunehmend in Frage gestellt. Unter Umständen könnten so vor einer Entscheidung über ihre Verfassungsbeschwerde sogar endgültige Tatsachen geschaffen werden, weil nach einer längeren Beschulung in der Sonderschule der Wechsel der Bf. in die Schule einer anderen Schulform (unter Umständen schon wegen Erfüllung der Schulpflicht) nicht mehr in Betracht kommen könnte.

b) Erginge demgegenüber die einstweilige Anordnung, hätte die Verfassungsbeschwerde später aber keinen Erfolg, wiegen die damit verbundenen Nachteile weit weniger schwer. Die am Ausgangsverfahren beteiligte Bezirksregierung führt als Nachteil insbesondere an, daß nach einer Stellungnahme des (inzwischen aufgelösten) Schulaufsichtsamts keine Möglichkeit bestehe, die Bf. in der Integrierten Gesamtschule, die sie vor der Überweisung in die Sonderschule besucht hat, sonderpädagogisch zu fördern. Dem steht jedoch eine in jüngerer Zeit gemachte Mitteilung der Leitung der Sonderschule entgegen, in die die Bf. überwiesen worden ist. Danach wäre es von seiten dieser Schule möglich, die Bf. an der von ihr bisher besuchten Integrierten Gesamtschule im Umfang von drei bis vier Wochenstunden bis zum Ende des laufenden Schuljahrs sonderpädagogisch zu fördern. Auch wenn eine Förderung in diesem Umfang nicht ausreichen dürfte, die Bf. in der Integrierten Gesamtschule zielgleich zu beschulen, kann dies für die Entscheidung über den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung nicht ausschlaggebend sein, weil es dabei nur um die Regelung eines vorläufigen Zustands bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde geht.

Keine bei der Folgenabwägung ins Gewicht fallende Bedeutung hat weiter der Hinweis der Bezirksregierung, daß die Bf. wegen Vollziehung der Überweisungsverfügung nach den Weihnachtsferien Schülerin der Sonderschule geworden sei und deshalb „rückumgeschult“ werden müßte. Dieser Einwand, der wohl darauf abzielt, daß es für die Schulische Entwicklung der Bf. nicht förderlich sein könne, innerhalb eines kürzeren Zeitraums mehrfach den Klassenverband zu wechseln, greift schon deshalb nicht durch, weil die Bf. infolge Krankheit tatsächlich eine Klasse der Sonderschule noch nicht besucht hat.

Soweit sich die Bezirksregierung schließlich auf organisatorische Schwierigkeiten bei Fortsetzung der integrativen Beschulung der Bf. beruft, sind diese Schwierigkeiten nicht in einer Weise substantiiert, daß sich daraus ein ins Gewicht fallender Nachteil ableiten ließe.

c) Insgesamt wiegt danach die Beeinträchtigung der Belange, die im Falle des Erlasses der einstweiligen Anordnung betroffen sind, weniger schwer als die der Bf. andernfalls drohenden Nachteile.

Rechtsgebiete

Verwaltungsrecht

Normen

GG Art. 3 III 2; BVerfGG § 32 I; NdsSchulG §§ 4, 14 II 1, 68 I 2