Ausbildungsförderung von Personen über 30 Jahre

Gericht

BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats)


Art der Entscheidung

Beschluss über Verfassungsbeschwerde


Datum

26. 11. 1999


Aktenzeichen

1 BvR 653/99


Leitsatz des Gerichts

Ist eine allein erziehende Person älter als 30 und erwerbstätig, so kann sie nicht wegen zu hohem Alter von der Ausbildungsförderung ausgeschlossen und schlechter als eine Sozialhilfeempfängerin gestellt werden.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die über 30-Jahre alte unverheiratete Bf., die seit 1987 ihre beiden Kinder neben einer Erwerbstätigkeit erzogen hat, begehrte die Bewilligung von Ausbildungsförderung nach dem BAföG, um die allgemeine Hochschulreife auf dem Zweiten Bildungsweg zu erwerben. Die zuständige Behörde lehnte den Antrag auf Vorabentscheidung gem. § 46 V 1 Nr. 4 BAföG im Bescheid vom 13. 11. 1997 mit der Begründung ab, angesichts der Berufstätigkeit der Bf. fehle es an einem anerkennenswerten Verzögerungsgrund, denn die Bf. habe sich nicht ausschließlich der Kindererziehung gewidmet. Wer berufstätig gewesen sei, hätte auch die Ausbildung fortsetzen können. Der Widerspruch blieb erfolglos. Gegen den Widerspruchsbescheid hat die Bf. vor dem VG Klage erhoben, über die in der Hauptsache noch nicht entschieden ist. Ihr beim VG mit dem Ziel der vorläufigen Leistungsgewährung gestellter Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist erfolglos geblieben. Gleiches gilt für den Antrag auf Zulassung der Beschwerde, der durch Beschluss des OVG zurückgewiesen wurde. Im Wesentlichen haben die im Verwaltungsverfahren und im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ergangenen Entscheidungen darauf abgestellt, dass ein Fall des § 10 III 2 Nr. 3 und Satz 3 BAföG 1995 nicht gegeben sei, weil die Bf. die angestrebte Ausbildung an Stelle der Erwerbstätigkeit hätte beginnen können. Die Erziehung der beiden Kinder sei insoweit kein Hinderungsgrund, weil sie in den Zeiten der Erwerbstätigkeit ohnehin die Erziehung während der Arbeitszeit nicht wahrgenommen hätte. Ausbildung und Erwerbstätigkeit seien im Grundsatz austauschbar.

Die gegen die im einstweiligen Rechtsschutz ergangenen Entscheidungen des VG und des OVG erhobene Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen.

Entscheidungsgründe


Aus den Gründen:

II. Annahmegründe nach § 93a II BVerfGG liegen nicht vor.

Bei dem vorliegenden Sachverhalt kommt unter Berücksichtigung des gegenwärtigen Verfahrensstands nur eine Annahme der Verfassungsbeschwerde nach § 93a II lit. b BVerfGG in Betracht. Trotz der noch näher darzulegenden, bislang nicht hinreichend berücksichtigten grundrechtlichen Gesichtspunkte ist die Annahme nicht angezeigt, weil noch weitere Ermittlungen anzustellen sind und eine Aufhebung der angegriffenen, im Eilverfahren ergangenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen keine beschleunigende Wirkung hätte. Hinreichender Rechtsschutz ist gewährleistet, wenn die für die Bewilligung der Ausbildungsförderung zuständige Behörde bei der Verbescheidung des Antrags der Bf. auf Ausbildungsförderung vom 5. 7. 1999 die folgenden verfassungsrechtlichen Erwägungen berücksichtigt:

1. Die Auslegung und Anwendung des § 10 II 2 Nr. 3 BAföG 1995 muss sich an Art. 3 I GG orientieren. Insbesondere ist eine sachwidrige Ungleichbehandlung von ausbildungswilligen, allein erziehenden Personen, die ohne eigene Erwerbstätigkeit auf Sozialhilfe angewiesen wären, gegenüber solchen ausbildungswilligen Personen zu vermeiden, die sich auf gesicherter materieller Grundlage der ganztägigen Kindererziehung gewidmet haben, bevor sie nach Überschreiten der Altersgrenze eine Ausbildung beginnen. Dies ist nach den angegriffenen Entscheidungen nicht der Fall.

Zwar scheint es noch mit dem Wortlaut der Vorschrift vereinbar, dass das zeitliche Zusammentreffen von Kindererziehung und verspäteter Aufnahme einer Ausbildung allein nicht ausreicht, um den Tatbestand als erfüllt anzusehen. Es liegt aber eher fern, dass der Gesetzgeber der Verwaltung aufgeben wollte, unter Nachzeichnung des persönlichen Lebensweges die vielfältigen und sich oft wieder ändernden Gründe zu ermitteln und zu gewichten, die neben der Kindererziehung dazu beitragen können, dass Erziehende von der Aufnahme einer Ausbildung absehen (vgl. zu einer ähnlichen Problemstellung BSGE 69, 297 [299] = NZA 1992, 570). Das ist hier schon deshalb nicht anzunehmen, weil persönliche und familiäre Gründe jeder Art vom Gesetzgeber prinzipiell anerkannt werden und lediglich die Erziehung von Kindern bis zu zehn Jahren als besonders leicht festzustellender Einzelgrund in das Gesetz Eingang gefunden hat. Der elternfördernden Komponente, die einem Gebot des Art. 6 I GG entspricht, kann nur eine Auslegung gerecht werden, die jede Art von Erziehungsleistung honoriert und eine Diskriminierung von Halbfamilien vermeidet.

Zu den persönlichen Gründen, die - insbesondere im Zusammenhang mit der Erziehung von Kindern bis zu zehn Jahren - hierbei ergänzend in Betracht zu ziehen sind, gehört die aus dem Zivilrecht folgende Unterhaltsverpflichtung für eben diese Kinder. Das Bemühen, diesen Unterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit sicherzustellen, beruht auf verfassungsrechtlicher Verpflichtung (Art. 6 II GG), wird aber durch eine Auffassung in Frage gestellt, die bei entgeltlicher Erwerbstätigkeit davon ausgeht, dass statt dessen eine kostenintensive Ausbildung angetreten werden könnte. Insbesondere bei der Sorge für Unterhalt und Erziehung nichtehelicher Kinder verbietet es sich, deren Mütter bei Erwerbstätigkeit von BAföG-Leistungen auszuschließen. Eine solche Auslegung widerstreitet dem verfassungsrechtlichen Gebot, für die nichtehelichen Kinder die gleichen Bedingungen für ihre Entwicklung zu schaffen wie den ehelichen Kindern. Ihre soziale Stellung hängt vornehmlich von derjenigen ihrer Mütter ab, die durch eine weitere Ausbildung eine Verbesserung ihres sozialen Status anstreben.

Die Erwerbstätigkeit einer allein erziehenden Person nach der Geburt des Kindes darf deshalb allenfalls dann zur Unanwendbarkeit des § 10 III 2 Nr. 3 BAföG 1995 führen, wenn diese auch ohne ihre Erwerbstätigkeit ein Familieneinkommen hätte, das ohne Berücksichtigung bedürftigkeitsabhängiger Sozialleistungen oberhalb der Leistungen der Sozialhilfe läge. Hat eine allein erziehende Person nur die Wahl zwischen ganztägiger Kindererziehung unter Inanspruchnahme von Sozialhilfe oder Betreuung der Kinder durch Dritte, um selbst einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu können, darf sie wegen dieses wirtschaftlichen Zwangs nicht schlechter gestellt werden als eine Person, die sich ohne wirtschaftliche Sorgen ganz der Kindererziehung widmen kann.

Dient die Entscheidung zu Gunsten der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit dazu, der Sozialhilfebedürftigkeit zu entgehen, so kann der allein erziehenden Person nicht entgegengehalten werden, sie hätte eine Ausbildung beginnen können. Entscheidet sie sich für die Ausbildung, muss sie nicht nur befürchten, dass dadurch der Lebensstandard ihrer Kinder absinkt und jedenfalls der materielle Aspekt des Kindeswohls beeinträchtigt wird. Es ist vielmehr auch zweifelhaft, ob überhaupt ein Anspruch auf Sozialhilfe für die Mutter und die beiden Kinder besteht, wenn die Mutter in ihrem Ausbildungsberuf arbeiten könnte (vgl. § 25 I BSHG). Es könnte auch zu einem Regress nach § 91 BSHG kommen, soweit eine Mutter familienrechtlich verpflichtet ist, eine Erwerbstätigkeit beizubehalten und damit den Kindesunterhalt sicherzustellen. Verfassungsrechtlich ist es daher geboten, die in diesem Sinne erzwungene Erwerbstätigkeit der allein erziehenden Person der ausschließlichen Erziehung der Kinder im Anwendungsbereich des § 10 III 2 Nr. 3 BAföG 1995 gleichzustellen.

2. § 10 III 2 Nr. 3 BAföG 1995 kann deshalb bei verfassungskonformer Auslegung zu Gunsten der Bf. eingreifen, wenn sie in den Zeiten der Erwerbstätigkeit oder des Bezugs von Lohnersatzleistungen (zum Beispiel Arbeitslosenhilfe, Unterhaltsgeld) ohne diese Einkünfte auf (zusätzliche) Sozialhilfe angewiesen gewesen wäre. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass das BVerwG die Aufnahme einer Ausbildung vor der Einschulung der Kinder als unzumutbar ansieht (BVerwG, Buchholz 436.36 § 10 Nr. 7 S. 12) und die Bf. in dem Zeitraum zwischen der Einschulung ihres ersten Kindes und der Geburt des zweiten Kindes die angestrebte Ausbildung nicht hätte abschließen können. Auch billigt die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföGVwV), zuletzt geändert durch die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Änderung der BAföGVwV vom 31. 1. 1997 (GMBl S. 78) in Rdnr. 10.3.4 dem Auszubildenden vor der Kindererziehung eine Art „Orientierungsphase“ zu (vgl. dazu auch BT-Dr 11/2823, S. 4 zu Pkt. 3.2.3 und S. 5). Zwar war die Bf. nicht nur durch die Kindererziehung und die Erwerbstätigkeit an der Aufnahme der Ausbildung vor Erreichen des 30. Lebensjahres gehindert, sondern auch und zunächst durch die nicht bestandene Eignungsprüfung. Es liegt aber nahe, dass Kindererziehung und Erwerbstätigkeit Hinderungsgründe für die Vorbereitung auf eine Eignungsprüfung sein können. Im Übrigen hat die Bf. unverzüglich nach Ablegung der Eignungsprüfung die angestrebte Ausbildung begonnen.

Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 93d I 3 BVerfGG).

Da die Verfassungsbeschwerde trotz einer möglichen Grundrechtsverletzung aufgrund des vorliegenden besonderen Sachverhalts nicht zur Entscheidung angenommen wird, ist der anwaltlich vertretenen Bf. Prozesskostenhilfe zu gewähren (§ 34a III BVerfGG).

Rechtsgebiete

Sozialrecht

Normen

GG Art. 3 I, 6 II; BAföG § 10 III 2 Nr. 3, 46 V 1 Nr. 4