Leistungsfähigkeit eines Angehörigen
Gericht
BVerwG
Art der Entscheidung
Revisionsurteil
Datum
01. 10. 1998
Aktenzeichen
5 C 32/97
Es ist sachgerecht, bei der Prüfung, inwieweit von dem Angehörigen, nach dessen Einkommen und Vermögen Leistungen zum Lebensunterhalt an den mit ihm in Haushaltsgemeinschaft lebenden Hilfesuchenden erwartet werden können, auf die Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge für die Heranziehung Unterhaltspflichtiger in der Sozialhilfe zurückzugreifen. Dies gilt auch für die Neufassung 1995, NDV S. 1ff. (Fortführung von BVerwG, Buchholz 436.0 § 16 BSHG Nr. 4).
Auszüge aus dem Sachverhalt:
Der 1960 geborene Kl. begehrt vom Bekl. laufende Hilfe im Lebensunterhalt. Er lebt seit 1986 mit seinem Vater in einer 39 qm großen Einzimmerwohnung, deren Miete zunächst 420 DM, im streitgegenständlichen Zeitraum (August bis Oktober 1995 sodann 457 DM monatlich betrug. Der Vater bezog in dieser Zeit monatlich eine Erwerbsunfähigkeitsrente in Höhe von 1706,52 DM und eine Unfallrente in Höhe von 315,40 DM. Der Kl. ist erwerbslos. Von 1986 bis einschließlich Juli 1995 hatte der Kl. vom Bekl. Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von zuletzt 631 DM (421 DM Regelsatz und 210 DM hälftige Mietkosten) erhalten. Mit Bescheid vom 18. 7. 1995 stellte der Bekl. die Zahlung von Hilfe zum Lebensunterhalt mit Wirkung vom 1. 8. 1995 ein, weil eine Prüfung gem. § 16 BSHG ergeben habe, daß das Renteneinkommen des Vaters ausreiche, um den notwendigen Lebensunterhalt des Kl. sicherzustellen. Das VG hat die nach erfolglosem Widerspruch erhobene Klage auf Bewilligung von Sozialhilfe in Höhe von 631 DM monatlich für die Monate August 1995 bis Oktober 1995 abgewiesen. Auf die Berufung des Kl. hat das OVG den Bekl. verpflichtet, dem Kl. für die Zeit vom 1. 8. 1995 bis zum 31. 10. 1995 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 438,54 DM monatlich zu bewilligen und die weitergehende Berufung unter Abweisung der Klage im übrigen zurückgewiesen (FamRZ 1998, 390).
Die Revision des Bekl. hatte keinen Erfolg.
Auszüge aus den Gründen:
Die Revision des Bekl. hat keinen Erfolg. Das BerGer. hat bei Überprüfung des Anspruchs des Kl. auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach §§ 11 , 12 , 21 , 22 BSHG zu Recht entschieden, daß gem. § 16 S. 1 BSHG vom Vater des Kl. nach dessen Einkommen und Vermögen Leistungen für den Lebensunterhalt des Kl. nur in Höhe von 210,96 DM erwartet werden konnten.
Mit der Bestimmung des § 16 BSHG, die an die in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze der Familiennotgemeinschaft anknüpft, soll „nicht auf ein nach regelsatzmäßigen Gesichtspunkten zu wertendes Einkommen der genannten Angehörigen abgestellt werden, vielmehr soll aus den Gesamtumständen des Einzelfalls geschlossen werden, ob und in welcher Höhe nach allgemeinen Lebenserfahrungen eine Unterhaltsleistung erwartet werden kann„ (Begr. zum Entw. eines BSHG, BT-Dr III/1799 § 15, S. 40). Dies setzt nach der Rechtsprechung des Senats voraus, daß das dem Verwandten oder Verschwägerten verbleibende Einkommen deutlich über dem sozialhilferechtlichen Bedarf der Hilfe zum Lebensunterhalt liegt (vgl. zuletzt Buchholz 436.0 § 16 BSHG Nr. 4 = NJW 1996, 2880).
Das BerGer. hat bei der Prüfung, ob dem nicht gesteigert unterhaltspflichtigen Verwandten Einkommen oberhalb eines angemessenen Eigenbedarfs zur Verfügung steht, die auf den streitgegenständlichen Zeitraum (1. 8. 1995 bis zum 31. 10. 1995) anwendbare überarbeitete Fassung der Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge für die Heranziehung unterhaltspflichtiger Personen (NDV 1995, 1ff.) als Maßstab zugrunde gelegt. Das ist sachgerecht und wird von der Revision zu Unrecht beanstandet.
In seinem Urteil vom 29. 2. 1996 (Buchholz 436.0 § 16 BSHG Nr. 4 = NJW 1996, 2880) hat der Senat bereits die entsprechende Anwendung der im damals streitgegenständlichen Zeitraum geltenden Empfehlungen des Deutschen Vereins vom 10. 6. 1987 (NDV 1987, 273) als sachgerecht angesehen und zur Begründung ausgeführt, daß die Anwendung dieser Empfehlungen zu einer Gleichbehandlung der „freiwillig„ leistenden Unterhaltspflichtigen mit den herangezogenen führe und vom Unterhaltspflichtigen nach der Lebenserfahrung erwartet werden könne, daß er freiwillig das zahle, was die Träger der Sozialhilfe einem Unterhaltspflichtigen an Beitrag zum Lebensunterhalt des Unterhaltsberechtigten zumuten. Daran ist festzuhalten. Allerdings weisen die beiden Fassungen der Empfehlungen bei ihren Vorschlägen zur Berechnung der von unterhaltspflichtigen Personen zu erwartenden Leistungen hinsichtlich des zu belassenden Selbstbehalts für einen angemessenen Eigenbedarf nicht unerhebliche Unterschiede auf. Die Fassung 1987 legt - soweit vorliegend von Interesse - für die Berechnung des angemessenen Eigenbedarfs des Unterhaltspflichtigen den doppelten Regelsatz (Rdnr. 108), die vom Unterhaltspflichtigen zu tragenden Kosten der Unterkunft (Rdnr. 109) sowie zur Erhaltung des angemessenen Lebensstandards einen Betrag von 10% des i.S. des § 76 II BSHG bereinigten Einkommens des Unterhaltspflichtigen zugrunde (Rdnr. 110). Demgegenüber weist die mit Rücksicht auf die Änderung des § 91 BSHG durch das Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms vom 23. 6. 1993 (BGBl I, 944) überarbeitete Neufassung zur Ermittlung des angemessenen Eigenbedarfs gegenüber volljährigen Kindern unter Hinweis auf Abschnitt A Anm. 5 der Düsseldorfer Tabelle nur noch den Ausgangsbetrag von 1600 DM aus (Rdnr. 113), welcher gem. Rdnr. 20 der einschlägigen Leitlinien zum Unterhaltsrecht des zuständigen OLG Hamm den Eigenbedarf des Pflichtigen (Selbstbehalt) einschließlich der Kosten für die Wohnung decken soll. Beide Fassungen enthalten die weitere Maßgabe, daß von dem über den Eigenbedarf hinausgehenden Betrag in der Regel 50% als Unterhalt in Anspruch zu nehmen sind (Rdnr. 113 der Fassung 1987 bzw. Rdnr. 117 der Fassung 1995).
Gegen den Rückgriff auf die Neufassung der Empfehlungen auch für die Ermittlung der gem. § 16 S. 1 BSHG zu erwartenden Leistungen zum Lebensunterhalt sieht der Senat keine durchgreifenden Bedenken. Zwar orientiert sich die überarbeitete Fassung bei der Bemessung der Leistungsfähigkeit des zum Unterhalt herangezogenen Angehörigen primär an unterhaltsrechtlichen Maßstäben des Bürgerlichen Gesetzbuchs, doch gilt bei der Anwendung des § 16 S. 1 BSHG unverändert der Gesichtspunkt, daß von einem Unterhaltspflichtigen erwartet werden kann, freiwillig das zu zahlen, was die Träger der Sozialhilfe ihm an Beitrag zum Lebensunterhalt des Unterhaltsberechtigten zumuten können. Die angestrebte Gleichbehandlung von Unterhaltspflichtigen im Rahmen des § 16 BSHG mit den nach § 91 BSHG herangezogenen Unterhaltspflichtigen besteht auch bei Anknüpfung an die Beträge aus den Leitlinien zum Unterhaltsrecht. Nicht zu beanstanden ist auch, daß das BerGer. gem. Rdnr. 117 der geänderten Empfehlungen von dem über den Eigenbedarf des Vaters hinausgehenden Betrag von 421,92 DM lediglich 50%, also 210,96 DM, als gem. § 16 BSHG zu erwartenden Betrag angesetzt hat. Die für den Regelfall vorgesehene Inanspruchnahme von lediglich 50% des über den Eigenbedarf hinausgehenden Betrags ermöglicht es, sozialhilferechtlichen Gesichtspunkten Rechnung zu tragen und Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen. Daß das BerGer. für die vorliegende Sachverhaltsgestaltung keine vom Regelfall abweichenden Besonderheiten gesehen hat, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Entgegen der Auffassung des Bekl. ist es auch nicht zu beanstanden, daß das BerGer. bei der Berechnung des sozialhilferechtlichen Bedarfs des Kl. neben dem Regelsatz für erwachsene Haushaltsangehörige in Höhe von 421 DM einen weiteren Betrag in Höhe von 228,50 DM als hälftigen Anteil des Kl. an der monatlichen Gesamtmiete zugrunde gelegt hat. Wenn in dem Eigenbedarf des Pflichtigen in Höhe von mindestens 1600 DM gem. Rdnr. 20 der Leitlinien des OLG Hamm schon Kosten für die Wohnung enthalten sind, folgt daraus nicht, daß sozialhilferechtlich die Unterkunftskosten allein und in voller Höhe beim Vater des Kl. anzusetzen wären. Es ist vielmehr zu berücksichtigen, daß von einem unterhaltspflichtigen Angehörigen auch im Rahmen des § 16 S. 1 BSHG nicht erwartet werden kann, daß er über die Grenzen der sozialhilferechtlich zumutbaren Inanspruchnahme durch die Sozialhilfeträger hinaus die Unterkunftskosten volljähriger Familienangehöriger voll trägt, indem er sie dauernd ohne Kostenbeteiligung bei sich wohnen läßt. Vielmehr gehört der auf den Kl. entfallende Unterkunftskostenanteil zu dessen Lebensunterhalt, bezogen auf den zu ermitteln ist, inwieweit Leistungen dafür von seinem mit ihm in Haushaltsgemeinschaft lebenden Vater erwartet werden können.
Der gegen den Rückgriff auf die Neufassung der Empfehlungen des Deutschen Vereins von 1995 erhobene Einwand des Bekl., damit verliere § 16 BSHG neben der Geltendmachung auf den Sozialhilfeträger übergegangener zivilrechtlicher Unterhaltsansprüche jede eigenständige Bedeutung, geht fehl. Denn für Unterhaltspflichtige, welche - wie der Vater des Kl. - einer Inanspruchnahme nach § 91 BSHG unterliegen, ist die durch sozialhilferechtliche Zumutbarkeitsgesichtspunkte geprägte Möglichkeit einer solchen Inanspruchnahme ein geeigneter Ausgangspunkt zur Konkretisierung der in § 16 BSHG normierten Leistungserwartung. Es ist nicht der Sinn dieser Vorschrift, die sozialhilferechtliche Hilfeerwartung an unterhaltspflichtige Angehörige über die gesetzlich vorgesehene Inanspruchnahme durch die Träger der Sozialhilfe hinaus zu erweitern.
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