Vorhersehbarkeit des Eigenbedarfs - Studierende Tochter in beengten Verhältnissen

Gericht

LG Berlin


Art der Entscheidung

Urteil


Datum

28. 11. 1997


Aktenzeichen

63 S 237/97


Leitsatz des Gerichts

  1. Eine Eigenbedarfskündigung ist nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) innerhalb der Fünfjahresfrist des § 564 c II 1 Nr. 1 BGB ausgeschlossen, wenn der Vermieter im Zeitpunkt des Vertragsschlusses bei verständiger Würdigung und umsichtiger Vorausschau den späteren Eigenbedarf hätte vorhersehen können und dennoch einen Mietvertrag auf unbestimmte Zeit abschließt, obwohl eine Befristung rechtlich zulässig gewesen wäre.

  2. Absehbar ist für einen Vermieter der Eigenbedarf seiner Tochter, die bei Vertragsschluß Anfang 20 ist, in der Wohnung der Eltern ein nur 12 mTF2 großes Zimmer bewohnt und in überschaubarer Zukunft ihr Studium beenden wird. Für die Vorhersehbarkeit kommt es nicht auf eine konkrete Lebensplanung oder sichere Prognose der Lebensentwicklung an; entscheidend ist allein die naheliegende Möglichkeit des Eintritts eines Eigenbedarfsfalls in absehbarer Zeit.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Parteien stritten im wesentlichen um die Vorhersehbarkeit des für die studierende Tochter geltend gemachten Eigenbedarfs.

Das LG hat das Urteil des AG Schöneberg (19 C 263-96) abgeändert und die Klage abgewiesen.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Der Kl. steht gegen die Bekl. ein Anspruch auf Herausgabe der Wohnung nach §§ 556 I , 985 BGB nicht zu. Der zwischen der Kl. und der Bekl. zu 1 am 2. 1. 1992 und ergänzend mit der Bekl. zu 2 am 1. 2. 1993 geschlossene unbefristete Mietvertrag ist nicht durch die von der Kl. im Schreiben vom 24. 1. 1996 erklärte Eigenbedarfskündigung zugunsten ihrer Tochter, der Zeugin L, zum 30. 4. 1996 beendet worden. Eine wirksame Eigenbedarfskündigung nach § 564 b II Nr. 2 BGB liegt nicht vor.

Der Kl. war es zur Zeit der Kündigung nach Treu und Glauben gem. § 242 BGB verwehrt, sich auf den im Kündigungsschreiben angegebenen Wohnbedarf für ihre Tochter zu berufen. Eine Eigenbedarfskündigung ist nach dem aus § 242 BGB abgeleiteten Vertrauensgrundsatz aus solchen Gründen ausgeschlossen, deren Eintritt für den Vermieter bei Abschluß des Mietvertrages bereits vorhersehbar war (LG Hamburg, NJW-RR 1994, 465 = WuM 1993, 677; LG Wuppertal, WuM 1991, 691 [692]; LG Berlin, NJW-RR 1993, 661 [662]; LG Hamburg, NJW-RR 1993, 80 = WuM 1993, 50). Der Vermieter setzt sich zu seinem eigenen Verhalten in Widerspruch, wenn er eine Wohnung auf unbestimmte Zeit vermietet, obwohl er zumindest erwägt, die Wohnung in absehbarer Zeit selbst oder zugunsten einer Bedarfsperson i. S. von § 564 b II Nr. 2 BGB in Gebrauch zu nehmen. Er darf dem Mieter, der mit einer längeren Mietdauer rechnet und auch rechnen darf, die mit jedem Umzug verbundenen Belastungen dann nicht zumuten, wenn er ihn über die Absicht oder zumindest die Aussicht begrenzter Mietdauer nicht aufgeklärt hat (BVerfG, NJW-RR 1993, 1357). Derartige Beschränkungen der durch Art. 14 GG geschützten Eigentumsposition des Vermieters sind auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Denn mit ihnen wird nicht in unzulässiger Weise in die Lebensplanung des Vermieters eingegriffen, sondern dieser lediglich an der Durchsetzung seines Selbstnutzungsrechts aus Gründen gehindert, die er selbst in zurechenbarer Weise gesetzt hat (BVerfG, NJW 1993, 1357; BVerfGE 79, 292 [308 f.] = NJW 1989, 970 [972]).

Nach diesen Grundsätzen kommt ein Ausschluß des Kündigungsrechts des Vermieters aber nicht nur in Betracht, wenn dieser bei Abschluß des Vertrags zumindest erwägt, für die Wohnung in absehbarer Zeit Eigenbedarf geltend zu machen. Es genügt stattdessen, wenn der Vermieter eine solche Möglichkeit bei vorausschauender Planung hätte in Betracht ziehen müssen (LG Hamburg, NJW-RR 1994, 465 = WuM 1993, 677; LG Wuppertal, WuM 1991, 691). Diese Wertung ist auch unter Berücksichtigung der Vertrauensschutzinteressen des Mieters sachgerecht, denn allein der Vermieter kann eine derartige Bedarfsentwicklung vorhersehen. Ein unzulässiger Eingriff in den verfassungsrechtlich geschützten Selbstnutzungswunsch des Vermieters liegt darin nicht (LG Hamburg, WuM 1993, 677). Durch die Möglichkeit einer befristeten Vermietung nach § 564 c BGB ist er weder gezwungen, die Wohnung unvermietet zu lassen, noch im Falle der Vermietung an der Geltendmachung des zwischenzeitlich eingetretenen Eigenbedarfs gehindert. Für die Dauer der in § 564 c II 1 Nr. 1 BGB vorgesehenen Befristung ist der Vermieter mit einem bereits bei Vertragsschluß absehbaren Wohnbedarf ausgeschlossen (BVerfGE 79, 292 [308] = NJW 1989, 970 [972]; LG Hamburg, WuM 1993, 677). Dies ist hier der Fall; denn bis zur Kündigung der Kl. waren seit dem Abschluß des Mietvertrags mit den Bekl. noch keine fünf Jahre vergangen. Die Kl. hätte bei verständiger Würdigung und umsichtiger Vorausschau zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses mit den Bekl. am 2. 1. 1992 bzw. 1. 2. 1993 den später in der Kündigung vom 24. 1. 1996 zum 30. 4. 1996 geltend gemachten Wohnbedarf ihrer Tochter an der streitgegenständlichen Wohnung in Betracht ziehen müssen. Bereits mit Rücksicht auf das Alter der Zeugin L zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses von Anfang 20 hätte die Kl. ernsthaft damit rechnen müssen, daß ihre Tochter in absehbarer Zeit aus der elterlichen Wohnung ausziehen werde, um in die streitgegenständliche Wohnung zu ziehen und dort ggf. mit einem Partner zusammenzuleben. Mit dieser Entwicklung mußte die Kl. umso mehr unter Berücksichtigung der bisherigen Unterbringung der Tochter rechnen, die in der Beweisaufnahme am 14. 2. 1997 angegeben hat, bei der Kl. ein ungefähr 12 mTF2 großes Zimmer zu bewohnen.

Der Einwand der Kl., eine konkrete Entwicklung des Lebens ihrer Tochter bei Abschluß des Mietvertrags sei überhaupt nicht absehbar gewesen, ist unerheblich. So kommt es insbesondere darauf, daß ihre Tochter zu dieser Zeit noch keine konkrete Vorstellung ihrer privaten Zukunft hatte, der Zeitpunkt der Beendigung ihres kurz zuvor begonnenen Studiums ungewiß war und auch, ob und wann sie eine Arbeitsstelle finden würde, nicht an. Maßgebend ist nicht eine sichere Prognose der Lebensentwicklung einer potentiellen Bedarfsperson, sondern allein die naheliegende Möglichkeit des Eintritts eines Eigenbedarfsfalls in absehbarer Zeit (LG Berlin, NJW-RR 1993, 661 [662]; LG Hamburg, NJW-RR 1994, 465 = WuM 1993, 677). Daß aber die Tochter der Kl., die zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses bereits im zweiten Semester studierte, innerhalb der nächsten fünf Jahre ihr Studium beenden und eine Arbeit finden und dann beabsichtigen werde, allein oder mit ihrem Verlobten in die Wohnung zu ziehen, hätte die Kl. bei in diesem Zusammenhang realistischer und umsichtiger Vorausschau durchaus in Betracht ziehen müssen.

Entgegen der Ansicht des AG steht auch die Angabe der Zeugin, sie und ihr Freund bzw. jetziger Verlobter hätten während des Studiums kein Geld gehabt, um gemeinsam in die Wohnung zu ziehen, einem Ausschluß des Kündigungsrechts der Kl. nicht entgegen. Wie bereits ausgeführt, ist insoweit allein maßgebend, daß die Kl. bei vorausschauender Planung die Möglichkeit des Wohnbedarfs hätte in Betracht ziehen müssen. Der Kl. wäre es auch rechtlich möglich gewesen, den Mietvertrag mit den Bekl. nach § 564 c II 1 Nrn. 2 a, 3 BGB wirksam befristet abzuschließen. Die Begründung der Befristung wegen etwaigen Eigenbedarfs zugunsten ihrer Tochter wäre keine bloße unzulässige Spekulation gewesen (BVerfG, NJW-RR 1993, 1357 [1358]). Dabei handelt es sich um einen naheliegenden und absehbaren Eigenbedarfsfall. Allein, daß hinsichtlich des Eigenbedarfs keine vollständige Klarheit besteht, hindert eine wirksame Befristung nach § 564 c BGB nicht.

Rechtsgebiete

Mietrecht

Normen

BGB §§ 564 b, 564 c, 242