Erteilung einer bauordnungsrechtlichen Abweichung
Gericht
OVG Koblenz
Art der Entscheidung
Berufungsurteil
Datum
03. 11. 1999
Aktenzeichen
8 A 10951/99
Zu den Voraussetzungen für eine Abweichung im Sinne von § 69 I 1 RhPfBauO.
Das Merkmal der „Berücksichtigung des Zwecks der gesetzlichen Anforderung“ lässt eine Abweichung nur zu, wenn auf Grund der besonderen Umstände des konkreten Einzelfalles der Zweck, der mit einer Vorschrift verfolgt wird, die Einhaltung dieser Norm nicht erfordert oder wenn deren Einhaltung aus objektiven Gründen außer Verhältnis zu der Beschränkung steht, die mit einer Versagung der Abweichung verbunden wäre.
Eine Abweichung von nachbarschützenden Vorschriften kommt nur in Betracht, wenn der betroffene Nachbar nicht schutzbedürftig ist oder die Gründe, die für die Abweichung streiten, objektiv derart gewichtig sind, dass die Interessen des Nachbarn ausnahmsweise zurücktreten müssen.
Auszüge aus dem Sachverhalt:
Die Kl. ist Eigentümerin eines im Innenbereich von A. gelegenen landwirtschaftlichen Anwesens. Die in unmittelbarer Nachbarschaft sich befindenden Gebäude sind unter Wahrung eines Grenzabstands von 3 m errichtet worden, wobei das benachbarte Wohnhaus des Beigel. zu 2 sogar mehr als 6 m vom Grundstück der Kl. entfernt ist. Nach Abriss eines alten Stallgebäudes beantragte die Kl., ihr an gleicher Stelle unter Befreiung von der Abstandsflächenvorschrift die Errichtung eines landwirtschaftlichen Gebäudes zur Unterbringung eines Mähdreschers zu genehmigen, um eine ungefähr 8,30 m x 9,00 m große Baulücke, die zwischen zwei vorhandenen Nebengebäuden in einem Grenzabstand von zum Teil weniger als 1 m zum Grundstück des Beigel. zu 2 liegt, zu schließen. Der Bekl. lehnte das Baugesuch ab. Die nach erfolglosem Vorverfahren erhobene Klage wurde vom VG abgewiesen. Die vom OVG zugelassene Berufung blieb ebenfalls erfolglos.
Auszüge den Gründen:
Das VG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Kl. hat keinen Anspruch darauf, dass ihr Bauantrag erneut beschieden wird (§ 113 V 2 VwGO). Die Versagung der Genehmigung ist nicht zu beanstanden, da dem Vorhaben bauordnungsrechtliche Bestimmungen entgegenstehen (§ 68 I RhPfBauO 1995 i.V. mit § 90 I RhPfBauO 1999).
Das Gebäude verstößt gegen § 8 I 1 und § 8 V 3 RhPfBauO 1999, weil der erforderliche Grenzabstand von 3 m nicht eingehalten wird. Der Senat stimmt mit dem VG darin überein, dass nach den planungsrechtlichen Vorschriften hier nicht an die Grenze gebaut werden muss (§ 8 I 2 Nr. 1 RhPfBauO 1999). Dies wäre nur dann der Fall, wenn sich das Vorhaben bei offener Bauweise nicht einfügen (vgl. § 34 BauGB), sondern wie ein Fremdkörper erscheinen würde. Da aber in der Umgebungsbebauung nicht nur die geschlossene, sondern in unmittelbarer Nachbarschaft des landwirtschaftlichen Anwesens der Kl. sogar vornehmlich eine offene Bauweise anzutreffen ist, ist eine Grenzbebauung nicht zwingend geboten.
Ferner kommt hier auch nicht die Zulassung einer Abweichung von der Abstandsflächenvorschrift in Betracht. Eine Abweichung von bauordnungsrechtlichen Regelungen i.S. von § 69 I 1 RhPfBauO 1999 ist nur möglich, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderungen und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen zu vereinbaren ist.
Mit der Novellierung der Landesbauordnung hat der Gesetzgeber bewusst die Unterscheidung zwischen Ausnahme, Befreiung und Abweichung von technischen Bestimmungen zu Gunsten eines einheitlichen Tatbestandes aufgegeben (vgl. die amtl. Begründung des GesetzE der Landesregierung, LT-Dr 13/3040, S. 65). Insofern ist es gerade sein Anliegen gewesen, dass bei Prüfung der Vorschrift - im Rahmen einer gewissen Flexibilisierung - stets die gleichen gesetzlichen Kriterien zur Anwendung kommen sollen. Des weiteren ergeben sich aus den tatbestandlichen Merkmalen des § 69 I 1 RhPfBauO hinreichend klare Maßstäbe, wann eine Abweichung zugelassen werden darf. Maßgebend ist entsprechend dem Wortlaut der Vorschrift die Vereinbarkeit mit den öffentlichen Belangen unter Berücksichtigung des Zwecks der gesetzlichen Anforderung und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen, wobei die tatbestandlichen Voraussetzungen restriktiv zu handhaben sind. Dies gebietet allein schon der Umstand, dass durch die baurechtlichen Vorschriften die schutzwürdigen und schutzbedürftigen Belange und Interessen regelmäßig schon in einen gerechten Ausgleich gebracht worden sind (vgl. BVerwGE 88, 191 = NJW 1991, 3293 = NVwZ 1992, 165 L) und die Gleichmäßigkeit des Gesetzesvollzugs ein mehr oder minder beliebiges Abweichen von den Vorschriften der Landesbauordnung nicht gestattet. Angesichts dessen lässt das Merkmal der „Berücksichtigung des Zwecks der gesetzlichen Anforderung“ eine Abweichung nur dann zu, wenn im konkreten Einzelfall eine besondere Situation vorliegt, die sich vom gesetzlichen Regelfall derart unterscheidet, dass die Nichtberücksichtigung oder Unterschreitung des normativ festgelegten Standards gerechtfertigt ist. Eine derartige Lage ist gegeben, wenn auf Grund der besonderen Umstände der Zweck, der mit einer Vorschrift verfolgt wird, die Einhaltung der Norm nicht erfordert oder wenn deren Einhaltung aus objektiven Gründen außer Verhältnis zu der Beschränkung steht, die mit einer Versagung der Abweichung verbunden wäre. Um dies sachgerecht beurteilen zu können, sind stets die mit der gesetzlichen Anforderung verfolgten Ziele zu bestimmen und den Gründen gegenüber zu stellen, die im Einzelfall für die Abweichung streiten. Ebenso sind die betr. nachbarlichen Interessen zu gewichten und angemessen zu würdigen. Je stärker die Interessen des Nachbarn berührt sind, um so gewichtiger müssen die für die Abweichung sprechenden Gründe sein. Soll gar von einer nachbarschützenden Vorschrift abgewichen werden, sind die entgegenstehenden Rechte des Nachbarn materiell mitentscheidend (vgl. OVG Münster, BRS 57, Nr. 141; VGH München, BRS 57, Nr. 156; Schmidt, in: Jeromin (Hrsg.), RhPfBauO, 3. Band, § 69 Rdnr. 23). Eine Abweichung kommt in einer derartigen Situation nur in Betracht, wenn auf Grund der besonderen Umstände des Einzelfalles der Nachbar nicht schutzbedürftig ist oder die Gründe, die für eine Abweichung streiten, objektiv derart gewichtig sind, dass die Interessen des Nachbarn ausnahmsweise zurücktreten müssen. Stehen weder der Zweck der gesetzlichen Anforderung noch die nachbarlichen Interessen unüberwindbar entgegen, ist zu prüfen, ob die Abweichung mit den konkret betr. öffentlichen Belangen, also allen im öffentlichen Interesse liegenden Anliegen, zu vereinbaren ist.
Ausgehend von diesen Grundsätzen liegen im vorliegenden Fall die Voraussetzungen für eine Abweichung nicht vor, da ihr die durch § 8 RhPfBauO 1999 geschützten öffentlichen Belange unter Würdigung der Interessen des Beigel. zu 2 entgegenstehen.
Mit dieser Vorschrift, die insgesamt nachbarschützenden Charakter hat (vgl. OVG Koblenz, AS 22, 1), sollen eine ausreichende Beleuchtung und Belüftung der Gebäude und ein effektiver Brandschutz gewährleistet, die Anforderungen an gesunde Arbeits- und Wohnverhältnisse verwirklicht und die Wahrung des Wohnfriedens sichergestellt werden (vgl. BVerwGE 88, 191 = NJW 1991, 3293 = NVwZ 1992, 165 L). Diese im öffentlichen Interesse stehende Zwecksetzung wird aber regelmäßig verfehlt, wenn die gesetzlich vorgegebenen Abstände nicht tatsächlich eingehalten werden. So verhält es sich auch hier. Die Ortsbesichtigung hat ergeben, dass die Verwirklichung des Bauvorhabens zu einer Beeinträchtigung der Belichtung und Belüftung des Grundstücks des Beigel. zu 2 führt. Die Schließung der Lücke zwischen den in unmittelbarer Nähe zur Grundstücksgrenze stehenden bestandsgeschützten landwirtschaftlichen Gebäuden hätte zur Folge, dass die hierdurch bereits hervorgerufene Beeinträchtigung noch verstärkt würde. Zwar beträgt die Entfernung zwischen der - im Wesentlichen bereits errichteten - Außenwand des Gebäudes der Kl. und dem Wohnhaus des Beigel. zu 2 mehr als 6 m. Dies kann jedoch nicht dazu führen, dass damit das Vorhaben mit den Zielen des § 8 RhPfBauO in Einklang zu bringen wäre. Jeder Grundstückseigentümer hat grundsätzlich selbst dafür zu sorgen, dass auf seinem Eigentum die notwendigen Freiflächen vorhanden sind. Überdies bestehen für den Beigel. zu 2 durchaus auch bauliche Erweiterungsmöglichkeiten. So ist angesichts der Grundstücksgröße ein Heranrücken seiner Bebauung an das Anwesen der Kl. innerhalb seines bislang unbebauten Vorgartens ohne Weiteres möglich. Gerade dieser Vorgarten wird aber, wie die Ortsbesichtigung deutlich gezeigt hat, durch die Verstärkung der grenznahen Bebauung der Kl. verschattet.
Aus diesen Erwägungen folgt zugleich, dass die rechtlich geschützten Interessen des Beigel. zu 2 beeinträchtigt werden.
Erfordern aber der Zweck des § 8 RhPfBauO und insbesondere die Interessen des Beigel. zu 2 die Einhaltung des Abstands von 3 m, kommt eine Abweichung nur in Betracht, wenn die Gründe, die hierfür streiten, objektiv derart gewichtig sind, dass die Interessen des Nachbarn ausnahmsweise zurücktreten müssen. Eine derartige Gewichtigkeit besitzen die von der Kl. geltend gemachten Gründe aber nicht. Der Wunsch der Kl., auf ihrem Grundstück eine Unterbringungsmöglichkeit für einen Mähdrescher zu schaffen und das vorgesehene Gebäude an die bestehenden anzupassen, hat keinesfalls mehr Gewicht als die Interessen des Beigel. zu 2. Derartige Beschränkungen der baulichen Ausnutzbarkeit eines Grundstücks sind nämlich typischerweise die Folge des Gebotes, den erforderlichen Abstand einzuhalten. Sollte die Schaffung eines weiteren Nebengebäudes für den landwirtschaftlichen Betrieb von existenzieller Bedeutung sein, so hat die Kl. die Möglichkeit, ein solches Gebäude an anderer Stelle des Baugrundstücks oder auf der ihr gehörenden Nachbarparzelle zu verwirklichen. Schließlich ist ohne Bedeutung, dass an der Stelle, an der das Vorhaben der Kl. ausgeführt werden soll, früher ein Stall gestanden hat. Da die Kl. dieses Gebäude, das zudem von geringerem Ausmaß war, als das jetzt angestrebte Vorhaben ist, abgerissen hat, bevor die erforderliche Baugenehmigung eingeholt wurde, ist der geschützte Bestand insoweit hinfällig geworden.
Liegen aber die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Abweichung nicht vor, besteht kein Raum mehr für eine Ermessensentscheidung.
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