Beweiserleichterung für EC-Karteninhaber bei Diebstahl und Möglichkeiten der PIN-Ermittlung durch Dritte

Gericht

OLG Hamm


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

17. 03. 1997


Aktenzeichen

31 U 72/96


Leitsatz des Gerichts

  1. Zum Nachweis des Diebstahls einer EC-Karte kommt dem Karteninhaber eine Beweiserleichterung analog der Rechtsprechung zur Kaskoversicherung bei einem Autodiebstahl zugute.

  2. Im Falle des Missbrauchs einer EC-Karte nach einem Diebstahl muss die Bank den dadurch entstandenen Schaden allein tragen, es sei denn, den Karteninhaber trifft ein Mitverschulden durch Verletzung der ihm obliegenden Pflichten. Dies ist von der Bank darzulegen und zu beweisen.

  3. Dabei besteht bei einem Missbrauch der Karte unter Benutzung der PIN grundsätzlich kein Anscheinsbeweis dafür, dass der Karteninhaber dem Täter die Kenntnis der PIN durch einen pflichtwidrigen Umgang mit der PIN verschafft haben muss, da nicht auszuschließen ist, dass der Täter die PIN selbständig durch Ausprobieren oder Entschlüsseln anhand der auf der Karte gespeicherten Daten ermittelt haben kann.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Kl. unterhält bei der bekl. Bank zusammen mit seiner Ehefrau ein Girokonto, das bereits 1978 eingerichtet wurde und für das er 1982 eine EC-Karte mit einer persönlichen Geheimnummer, der sog. PIN, bekam. Hierfür gelten neben den besonderen Bedingungen der Bekl. für das Kartenbanking und den Bargeldservice auch noch die besonderen Bedingungen der Bekl. für EC-Karten, und zwar i.d.jew. neuesten Fassung, zuletzt vom 1. 1. 1995. Am 13. 2. 1995 wurden mittels der EC-Karte und der PIN dreizehn Verfügungen zu Lasten des Girokontos getätigt, wobei die PIN bis dahin noch nie benutzt worden war. Im Einzelnen handelte es sich um folgende Belastungen: (1) Bankautomat (9.11 Uhr) 1000 DM, (2) Tankstellen (9.32, 9.34, 9.51 Uhr) zusammen 380,70 DM, (3) Barabhebungen Postamt (11.38, 13.58, 14.28, 14.59, 15.09, 15.22, 15.32, 15.47 und 16.09 Uhr) zusammen 10000 DM, wobei zunächst 2000 DM und nachfolgend jeweils 1000 DM abgehoben worden sind. Bei den Barabhebungen, die an verschiedenen Postämtern vorgenommen wurden, erfolgte die Überprüfung der Legitimation des Abhebenden entsprechend Nr. 4 der vorgenannten besonderen Bedingungen für den Bargeldservice mit der Karte und einem Auszahlungsbeleg, indem die EC-Karte in ein Lesegerät gesteckt wurde und der Abhebende mittels einer besonderen Tastatur die PIN eintippte, deren Richtigkeit dann dem Schalterbeamten auf einem Monitor bestätigt wurde. Daneben wurde noch ein Auszahlungsbeleg ausgefüllt, auf dem u.a. auch die Art der Legitimationsprüfung vermerkt wurde und den der Abhebende mit dem Namenszug des Kl. unterschrieb.

Um 16.17 Uhr ließ der Kl. sein Konto durch einen Anruf bei dem zentralen Sperrannahmedienst in Frankfurt a.M. sperren und erstattete am folgenden Tag bei der Polizei Strafanzeige wegen Diebstahls seiner Handtasche mit verschiedenen Ausweispapieren, u.a. der EC-Karte.

Von der Bekl. begehrt der Kl. nunmehr die Stornierung der 13 vorgenannten Belastungsbuchungen. Hierzu hat der Kl. behauptet: Seine EC-Karte habe sich zusammen mit anderen Papieren, wie dem Führerschein oder dem Personalausweis, in einer Handtasche befunden, die er wiederum in einem Aktenlederkoffer aufbewahrt habe. Diesen Koffer habe er am 13. 2. 1995 bei Dienstantritt gegen 7.30 Uhr in seinem Büro neben seinem Schreibtisch abgestellt. Das Büro werde noch von zwei weiteren Kollegen genutzt. Ein freier Publikumsverkehr finde in diesem Gebäudetrakt nicht statt. Besucher müssten am zentralen Empfang warten, bis sie von Mitarbeitern abgeholt würden. Gegen 7.45 Uhr habe er sich aus seinem Büro in die Prüfhalle des Betriebs begeben, wo er bis ca. 13.45 Uhr tätig gewesen sei. Als er gegen 14.30 Uhr das Gebäude habe verlassen wollen, um zu einem auswärtigen Termin zu fahren, habe er das Fehlen der Handtasche mit den darin befindlichen Papieren und der EC-Karte bemerkt. Von einem anderen Mitarbeiter, dem Zeugen B, habe er später gehört, dass diesem an jenem Tag etwa gegen 8 Uhr ein fremder Mann an der Tür zum Büro des Kl. aufgefallen sei, der, als der Zeuge ihn angesprochen habe, sofort weggegangen sei. Dieser müsse die Handtasche mit der EC-Karte entwendet haben. Er, der Kl., habe dann, nachdem er den Verlust bemerkt habe, versucht, den zentralen Sperrannahmedienst in Frankfurt a.M. anzurufen. Dessen Nummer aber sei ständig besetzt gewesen. Er sei daraufhin zu dem auswärtigen Termin aufgebrochen, habe aber unterwegs mehrmals versucht, den Sperrannahmedienst zu erreichen. Dies sei ihm schließlich, wie von der Bekl. angegeben, um 16.17 Uhr gelungen. Weiter hat der Kl. behauptet, der Täter müsse die für die Kartenverfügungen verwandte Geheimzahl in irgendeiner Form selbständig ermittelt haben, möglicherweise unter Aufschlüsselung von Geheimabspeicherungen auf dem Magnetstreifen der Karte, da er, der Kl., die PIN sofort nach dem Erhalt im Jahre 1982 vernichtet und seitdem nie benutzt habe. Der Kl. ist der Ansicht gewesen, dass ihn am Verlust der EC-Karte und der Aufdeckung der Geheimzahl kein Verschulden treffe. Im Übrigen sei bei den Barabhebungen an den Postämtern grob fahrlässig gehandelt worden, indem die Ordnungsmäßigkeit der Unterschrift und die Identität des Abhebenden nicht weiter geprüft worden sei. Die Bekl. sei daher nach ihren besonderen Vertragsbedingungen verpflichtet, den Schaden aus der missbräuchlichen Benutzung der Karte zu tragen und deshalb die Kontobelastungen rückgängig zu machen.

Das LG hat die auf Stornierung der im Einzelnen genannten Belastungsbuchungen gerichtete Klage abgewiesen. Die Berufung des Kl. hatte im wesentlichen Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Die Bekl. ist entweder gemäß den Grundsätzen der positiven Vertragsverletzung oder gem. § 812 I BGB - wobei die genaue dogmatische Einordnung dahingestellt bleiben kann - i.V. mit Nr. III 2.4 ihrer EC-Kartenbedingungen und gem. Nr. 9.1, 9.2 ihrer besonderer Bedingungen für das Kartenbanking und den Bargeldservice verpflichtet, die vom Kl. beanstandeten Belastungsbuchungen rückgängig zu machen, soweit die Abhebungen bis 15.30 Uhr erfolgten, weil sie diese vorgenommen hat, ohne hierzu aus dem Vertragsverhältnis zum Kl. berechtigt zu sein. Nach den vorgenannten, dem Vertragsverhältnis zugrunde liegenden Bedingungen hat es die Bekl. nämlich übernommen, bei einem Verlust der EC-Karte auch die Schäden zu tragen, die bis zum Eingang der Verlustanzeige durch die missbräuchliche Verwendung der EC-Karte an einem Geldautomaten, automatischer Kasse oder durch Barabhebung mit der Karte und der persönlichen Geheimzahl bei Geschäftsstellen der Deutschen Post AG entstehen, wenn der Karteninhaber die ihm nach den Bedingungen obliegenden Pflichten erfüllt hat. Eine Beteiligung des Karteninhabers an der Schadenstragung ist dabei entsprechend den Grundsätzen des Mitverschuldens nur für den Fall vorgesehen, dass der Karteninhaber durch ein schuldhaftes Verhalten zur Entstehung des Schadens beigetragen hat, wobei ihm dann bei grober Fahrlässigkeit die volle Tragungspflicht trifft.

Aus dem Aufbau dieser von der Bekl. in ihren besonderen Vertragsbedingungen vorgegebenen Haftungsregelung folgt unter Berücksichtigung der Auslegungsbestimmung des § 5 AGBG, dass einerseits der Karteninhaber als Voraussetzung für das Eingreifen der Haftung der Bekl. den Verlust und den Missbrauch der Karte darlegen muss, dass aber andererseits dann die Bekl. darlegungs- und beweispflichtig für ein Mitverschulden des Karteninhabers ist, um dessen Beteiligung an der Schadenstragung zu erreichen. Diese Regelung trägt damit dem Umstand Rechnung, dass nach der gesetzlichen Risikoverteilung grundsätzlich die Bank die Schäden aus einer missbräuchlichen Verwendung der EC-Karte treffen, weil es insoweit an einer wirksamen Anweisung für einen Aufwendungsersatzanspruch gem. §§ 675 , 670 BGB fehlt. Gegen den Karteninhaber wird dabei eine Mithaftung nach den Grundsätzen des Mitverschuldens nur begründet, wenn er die ihm nach dem EC-Kartenvertrag obliegenden Pflichten verletzt (vgl. Nobbe (zu der entsprechenden Haftung beim Missbrauch einer EC-Karte in Verbindung mit einem Eurocheque), in: Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR - Hdb., I, 1997, § 63 Rdnrn. 60 bis 65, § 60 Rdnrn. 99f.).

Aufgrund des Vorbringens des Kl. sowie der Bekundungen des Zeugen B und der Art der erfolgten Belastungen ist nach der Überzeugung des Senats von einem Diebstahl der EC-Karte und dem anschließenden Missbrauch auszugehen. Dabei trägt der Kl. zwar, wie zuvor ausgeführt, die Beweislast für die Entwendung der Karte. Allerdings kommen ihm insoweit analog der Rechtsprechung zur Kaskoversicherung beim Autodiebstahl (vgl. BGHZ 130, 1 = NJW 1995, 2169 = LM H. 10/1995 § 49 WG Nr. 1 = VersR 1995, 909; BGH, NJW 1996, 993 = LM H. 5/1996 § 49 VVG Nr. 2 = VersR 1996, 319) hinsichtlich der Darlegung und des Nachweises des Verlusts grundsätzlich Beweiserleichterungen zugute, weil er in der Regel keine Zeugen oder sonstigen Beweismittel für die Entwendung beibringen kann. Es genügt deshalb, wenn der Karteninhaber einen Sachverhalt darlegt und erforderlichenfalls nachweist, der nach der Lebenserfahrung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit den Schluss auf den Verlust der Karte zulässt. Im Normalfall sind hierzu die Feststellungen von Beweisanzeichen ausreichend, denen hinreichend deutlich das äußere Bild eines Verlusts im Sinne der genannten besonderen Vertragsbedingungen entnommen werden kann.

Dieses äußere Bild der Entwendung der Karte hat der Kl. hier zur Überzeugung des Senats hinreichend dargelegt und bewiesen. Dabei genügt das vom Kl. in der persönlichen Anhörung nach § 141 ZPO schlüssig und widerspruchsfrei wiederholte Vorbringen zum Abstellen der Tasche mit den Papieren bei Arbeitsbeginn und dem späteren Bemerken des Fehlens gegen 14.30 Uhr. Der Kl. ist insoweit uneingeschränkt glaubwürdig, d.h. als zuverlässig und redlich anzusehen, so dass gem. § 286 ZPO die Feststellung der Entwendung auf seine Angaben gestützt werden kann (vgl. BGHZ 130, 1 = NJW 1995, 2169 = LM H. 10/1995 § 49 VVG Nr. 1 = VersR 1995, 909; BGH, NJW 1996, 993 = LM H. 5/1996 § 49 VVG Nr. 2 = VersR 1996, 319; NJW 1996, 1348 = LM H. 6/1996 § 49 VVG Nr. 3 = VersR 1996, 575). Konkrete Tatsachen, die den Kl. als unglaubwürdig erscheinen oder doch zumindest schwerwiegende Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit aufkommen ließen, liegen nicht vor. Entgegen der Ansicht der Bekl. ergeben sie sich nicht schon aus dem Umstand, dass die letzte Barabhebung nur wenige Minuten vor der Sperrung erfolgte, so als wenn der Täter hiervon gewusst habe. Dieser Schluss lässt sich schon deshalb nicht ziehen, weil nicht davon ausgegangen werden kann, der Täter habe danach keinen weiteren Abhebungsversuch mehr unternommen.

Allein der Tatsache, dass die Karte nicht eingezogen wurde, lässt sich dies nämlich nicht entnehmen. Denn die letzten Abhebungen erfolgten nicht an einem Geldautomaten, der die Karte bei einer Sperrung automatisch einbehält, sondern, um das 1000 DM-Tageslimit umgehen zu können, als Barabhebungen an verschiedenen Postschaltern. Hier aber kann es durchaus möglich gewesen sein, dass der Täter die Karte trotz der Sperrung, wenn auch ohne Geld und damit ohne belegbare Belastung des Kontos, auf seine Bitten hin zurückerhielt. Dem steht nicht entgegen, dass dies möglicherweise gegen die Dienstanweisungen verstieß, da der Täter deren Nichteinhaltung auch schon im Fall der ersten Barabhebung von 2000 DM zu erreichen vermochte, weil nach der Aussage des Zeugen M, einem Mitarbeiter der Bekl., bei einer Legitimation durch die PIN ohne sonstige Identitätskontrolle nur eine Auszahlung bis 1000 DM zulässig gewesen wäre.

Abgerundet wird das äußere Bild von einem Diebstahl der Karte noch durch die glaubhaften Bekundungen des Zeugen B, einem Arbeitskollegen des Kl. Diesem ist gegen 8 Uhr ein fremder Mann an der Tür zum Büro des Kl. aufgefallen, der, als der Zeuge ihn ansprechen wollte, sofort davoneilte. Im Übrigen legt auch die Art der Abhebungen einen Diebstahl und anschließenden Missbrauch der Karte nahe. Sie beginnen nämlich unter der Anonymität eines Bankautomaten und selbst bei der anschließenden systematischen Plünderung des Kontos durch laufende Barabhebungen des (bis auf die ersten 2000 DM) jeweils zulässigen Höchstbetrags von 1000 DM wurde nach den dazu gefertigten Auszahlungsbelegen als Legitimation weiterhin nur die PIN und kein Ausweis benutzt.

Insgesamt ist damit ein Verlust der EC-Karte durch einen Diebstahl als erwiesen anzusehen, so dass die anschließenden Abhebungen auch missbräuchlich erfolgten. Damit sind die Voraussetzungen für eine Haftung der Bekl. für die dadurch eingetretenen Schäden gemäß den eingangs genannten Regelungen ihrer besonderen Vertragsbedingungen erfüllt.

Ein die Mithaftung des Kl. begründendes Mitverschulden kann demgegenüber nicht schon darin gesehen werden, dass er die EC-Karte während seiner Tätigkeit in der Prüfhalle in einem Aktenkoffer in seinem Büro beließ. Dies stellte noch eine angemessene, den Sorgfaltsanforderungen genügende Aufbewahrung dar, weil in diesem Teil des Dienstgebäudes kein Publikumsverkehr herrscht, Besucher an einem zentralen Empfang warten müssen und das Büro im Übrigen auch noch von zwei weiteren Kollegen genutzt wird, die sich zumindest, ebenso wie der Kl., zeitweilig darin aufhalten. Schließlich war die Karte auch nicht auf den ersten Blick sichtbar und einem sofortigen Zugriff ausgesetzt, da sie sich in einer gesonderten Handtasche im Aktenkoffer des Kl. befand.

Ferner kann nicht festgestellt werden, dass der Kl. seine Sorgfaltspflichten im Umgang mit der Karte oder der PIN verletzt hat, indem er dem Täter in irgendeiner Weise Kenntnis von der PIN verschafft hat, z.B. durch eine zusammen mit der Karte aufbewahrte Notiz. Denn nach den eingeholten schriftlichen Gutachten der Sachverständigen Dr. H und Prof. Dr. P sowie den ergänzenden mündlichen Ausführungen des Sachverständigen Dr. H in dessen Anhörung vor dem Senat muss davon ausgegangen werden, dass der Täter auch ohne eine solche Mitwirkung des Kl. Kenntnis von der PIN erlangt haben kann, und zwar entweder durch ein Ausprobieren oder durch eine Entschlüsselung anhand der auf der Karte abgespeicherten Daten. Beide Verfahrensweisen müssen nach den insoweit übereinstimmenden Ausführungen der Sachverständigen im vorliegenden Fall als möglich angesehen werden. Die Voraussetzungen eines Anscheinsbeweises für eine Pflichtverletzung des Kl. sind somit nicht gegeben.

Dabei erscheint ein Erraten der PIN mittels Ausprobierens an einem Geldautomaten auf den ersten Blick angesichts der möglichen Zahlenkombinationen zwischen 0000 und 9999 unwahrscheinlich, weil die Trefferchance bei drei Versuchen nur 1:3333 beträgt und die Karte dann, wenn diese fehlschlagen, von dem Automaten eingezogen wird. Durch eine dem Grunde nach nicht weiter nachvollziehbare Eigentümlichkeit im Auswahlverfahren für die Ziffern der PIN kommt es jedoch dazu, dass die Ziffern 0 bis 5 wesentlich häufiger (etwa 32 mal mehr) auftreten als die Ziffern 6 bis 9. Beschränkt sich ein Täter, der diese Systemkenntnisse hat und außerdem weiß, dass die erste Ziffer nie eine 0 sein kann, auf die häufiger aufzutretenden Ziffern, so hat er bereits in drei Versuchen eine Trefferquote von etwa 1:700, falls die PIN tatsächlich aus diesen Ziffern besteht, was wiederum nicht unwahrscheinlich ist und deshalb zugunsten des Kl. hier angenommen werden muss, da seine PIN nicht bekannt ist. Diese Trefferquote kann der Täter dann noch auf etwa 1:150 verbessern, wenn er über ein im Handel erhältliches Kartenlesegerät verfügt und damit das sog. Offset ermittelt, das auf dem Magnetstreifen der Karte abgespeichert ist. Dabei handelt es sich um eine Ausgleichszahl, die dazu dient, die Karte mit der PIN nicht nur an Geldautomaten des ausgebenden Bankinstituts, sondern auch an Automaten anderer Institute im In- und Ausland nutzen zu können. Dabei liegt dem Einsatz der PIN folgendes System zugrunde:

Auf der Karte sind als offene, nicht weiter geheimhaltungsbedürftige Daten die Bankleitzahl, die Kontonummer und die Kartenfolgenummer abgespeichert. Diese werden bei Einführung der Karte in den Geldautomaten abgelesen und mittels eines geheimen Schlüssels, der entweder im Geldautomaten selbst oder in einem mit dem Automaten per Online verbundenen zentralen Rechner gespeichert ist, basierend auf einem Chiffrierverfahren, dem sog. „Data Encryption Standard" (DES), einem Rechenvorgang unterzogen, an dessen Ende sich dann als Ergebnis die PIN ergibt, die mit der vom Abhebenden eingetippten Zahl verglichen wird. Da jedes Geldinstitut dabei einen eigenen Geheimschlüssel, den sog. Institutsschlüssel, verwendet, gibt es, um eine umfassende institutsübergreifende Nutzung der Karte zu ermöglichen, noch den sog. Poolschlüssel. Zur Vermeidung einer zweiten speziell hierfür geltenden Geheimzahl ist nun auf jeder EC-Karte noch eine Ausgleichszahl, das sog. Offset, mit abgespeichert. Es dient dazu, die nach dem Institutsschlüssel einzugebende PIN dem Ergebnis der Berechnung auf der Grundlage des Poolschlüssels anzupassen.

Die Ziffern dieses Offsets, das ebenfalls mit einem Kartenlesegerät dem Magnetstreifen entnommen werden kann, können nach den Grundsätzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung Rückschlüsse auf die Ziffern der PIN zulassen, wenn diese die häufiger auftretenden Ziffern 0 bis 5 enthält. In einem solchen Fall erhöht sich dann die Trefferquote nach den übereinstimmenden Angaben beider Sachverständigen auf etwa 1:150. Berücksichtigt man ferner, dass nach den weiten Darlegungen beider Sachverständigen der sog. Fehlerzähler auf der Karte, der dazu dient, die Anzahl der Fehlversuche zu notieren, mit einem Kartenlesegerät und einer entsprechenden Eingabetastatur, z.B. in Form eines Laptops, zurückgestellt werden kann, wie es auch in einem Automaten geschieht, wenn nach zwei Fehlversuchen die richtige Zahl eingegeben wird, so eröffnen sich einem versierten, technisch entsprechend ausgerüsteten Täter eine unbeschränkte Zahl von Versuchen. Damit aber kann nicht ausgeschlossen werden, dass er entsprechend den vorher genannten Überlegungen in der Lage ist, die richtige PIN innerhalb kurzer Zeit durch Ausprobieren zu ermitteln. Dafür, dass es hier so geschehen sein könnte, spricht der zeitliche Abstand zwischen dem ersten erfolgreichen Einsatz der Karte um 9.11 an einem Geldautomaten und der Beobachtung des möglichen Täters durch den Zeugen B gegen 8 Uhr.

Neben dieser Ermittlung der PIN durch Ausprobieren kann aufgrund der weiteren übereinstimmenden Ausführungen der Sachverständigen eine Entschlüsselung der PIN anhand der auf der Karte abgespeicherten genannten Daten ebenfalls nicht mehr ausgeschlossen werden. Hierzu bedarf es entweder der Kenntnis des Instituts- oder des Poolschlüssels, mit dem dann die PIN von Karten eines bestimmten Instituts bzw. beliebiger Institute nach Auslesen der Daten auf dem Magnetstreifen in Sekundenschnelle auf einem handelsüblichen PC, z.B. wiederum einem Laptop, berechnet werden könnte. Zur mathematischen Rekonstruktion dieser Schüssel sind rein informationstheoretisch gesehen nur die genannten Daten aus fünf EC-Karten mit den dazugehörigen PIN notwendig, da diese Anzahl ausreicht, den geheimen Schlüssel eindeutig zu bestimmen. Die tatsächliche Berechnung erfordert dann im Hinblick auf das zur Verschlüsselung verwandte, 20 Jahre alte DES-Verfahren eine systematische Absuche des damit zur Verfügung stehenden 56-Bit-Schlüsselraumes mit seinen etwa 72 Billiarden Möglichkeiten. Zwar lässt sich ein solch umfassender Rechenvorgang nicht mit handelsüblichen PC s bewerkstelligen. Anders dagegen ist es bei dem Einsatz von Spezialrechnern, die diese Aufgabe infolge des technischen Fortschritts auf diesem Gebiet je nach Kapazität innerhalb einiger Monate, einiger Tage oder sogar einiger Stunden bewältigen könnten. Dabei müssten Maschinen verwandt werden, die schon von ihrer Bauart her speziell auf solche Rechenvorgänge abgestimmt sind, sog. „ASICS“.

Nach den Darlegungen des Sachverständigen Prof. Dr. P ist eine Konstruktionsbeschreibung für einen derartigen Rechner 1993 von einem kanadischen Kryptologen namens Wiener veröffentlicht worden. Der Sachverständige Dr. H hat in seiner mündlichen Anhörung vor dem Senat die Kosten für eine solche technische Ausrüstung, mit der ein Computerspezialist mit kryptologischen Kenntnissen in der Lage wäre, den geheimen Schlüssel innerhalb von drei bis vier Monaten zu finden, auf einige hunderttausend DM geschätzt. Dies entspricht in der Größenordnung den Darlegungen im schriftlichen Gutachten von Prof. Dr. P, der dabei noch ergänzend auf Veröffentlichungen amerikanischer Wissenschaftler verweist.

Das aber bedeutet, dass sich eine solche Investition nach etwa 100 Straftaten mit einer Schadenssumme von ca. 11000 DM, wie sie im vorliegenden Fall gegeben war, amortisieren würde. Unter diesen Umständen erscheint es deshalb nicht mehr ausgeschlossen, dass einer der Geheimschlüssel bereits von einer kriminellen Organisation, die über die notwendigen Finanzen zur Beschaffung der technischen und persönlichen Mittel verfügt, „geknackt“ wurde und nun gestohlene EC-Karten damit, im Falle des Poolschlüssels eventuell sogar europaweit, ausgenutzt werden. Dem kann nicht durchgreifend entgegengehalten werden, dass hierüber noch nichts bekannt geworden sei und dass dann auch schon weit mehr Schadensfälle zu erwarten gewesen wären. Denn immerhin betrug die Anzahl der Straftaten mittels rechtswidrig erlangter Karten für Geldausgabe- und Kassenautomaten nach der Statistik des Bundeskriminalamts allein in der Bundesrepublik 1995 23315 Fälle mit einer Gesamtschadenssumme von 30,8 Mio. DM, während es 1994 erst 17354, 1993 10754 und 1992 9080 Fälle waren, worauf auch der Sachverständige Prof. Dr. P in seinem schriftlichen Gutachten hingewiesen hat (vgl. Polizeiliche Kriminalstatistik für die BRep. Dtschld., hrsg. v. Bundeskriminalamt: Berichtsjahr 1995, S. 206 Tabelle 07, S. 250 Nr. 2.21; Berichtsjahr 1993, S. 227 Tabelle 01; Berichtsjahr 1992, S. 221 Tabelle 01). Da im vorliegenden Fall über den Täter nichts bekannt ist, kann deshalb nicht ausgeschlossen werden, dass er Verbindungen zu einer kriminellen Organisation hatte, die über den Schlüssel zur Ermittlung der Geheimzahl verfügt.

Ein Ausspionieren der PIN anlässlich einer früheren Benutzung scheidet dagegen aus, weil der Kl. die PIN, obwohl sie ihm schon 1982 zugeteilt wurde, nach seinen unwiderlegten glaubhaften Angaben nie verwandt hat und sich auch in den Kontounterlagen der Bekl. keine Hinweise auf eine solche Verwendung fanden. Dieser Umstand spricht dann aber auch dagegen, dass der Kl. die PIN, obwohl er sie nie benutzte, als Notiz zusammen mit der Karte aufbewahrte. Vielmehr legt dies die Annahme nahe, dass die PIN von dem Täter eigenständig ermittelt wurde.

Eine als Mitverschulden zu wertende Pflichtverletzung des Kl. im Umgang mit der PIN ist somit nicht feststellbar. Zu bejahen ist jedoch ein Mitverschulden wegen der verspäteten Meldung des Verlusts und der damit verspätet ausgelösten Sperrung der Karte. Nach den weiteren Regelungen in den eingangs erwähnten besonderen Vertragsbedingungen der Bekl. liegt nämlich eine grob fahrlässige Pflichtverletzung des Karteninhabers vor, wenn er den Kartenverlust der Bank oder dem zentralen Sperrannahmedienst schuldhaft nicht umgehend mitteilte. Hiergegen hat der Kl. verstoßen. Wie er selbst einräumt, hat er den zentralen Sperrannahmedienst erst um 16.17 Uhr benachrichtigt, obwohl er das Fehlen der Karte bereits um 14.30 Uhr bemerkt hatte. Unter Zubilligung einer angemessenen Frist zur Überprüfung des Sachverhalts und zur Ermittlung der Telefonnummer des Sperrannahmediensts oder der Bank hätte der Kl. den Verlust aber spätestens nach einer Stunde um 15.30 Uhr melden und die Sperre somit auslösen müssen. Dabei kann ihn nicht der Umstand entschuldigen, dass die Telefonnummer des zentralen Sperrannahmediensts nach seiner Einlassung ständig besetzt gewesen sei. In diesem Fall hätte er, wie es auch in den Vertragsbedingungen vorgesehen ist, die Bekl. benachrichtigen müssen, die dann die Sperrung vorgenommen und so weitere Abhebungen verhindert hätte. Das aber hat der Kl. unterlassen, so dass er gemäß den genannten Bedingungen die nach 15.30 Uhr eingetretenen Schäden im vollen Umfang tragen muss.

Insoweit kann seine Berufung daher keinen Erfolg haben.

Rechtsgebiete

Bank-, Finanz- und Kapitalanlagerecht; Verbraucherschutzrecht; Schadensersatzrecht