Bemessung des Schmerzensgeldes
Gericht
BGH
Art der Entscheidung
Revisionsurteil
Datum
24. 05. 1988
Aktenzeichen
VI ZR 159/87
Zur Darlegung der für die Bemessung des Schmerzensgeldes maßgeblichen Gründe, wenn das OLG erheblich von dem vom LG festgesetzten Schmerzensgeld trotz Zugrundelegung desselben Schadensbildes abweichen will.
Auszüge aus dem Sachverhalt:
Die Kl. hat die Bekl. als Haftpflichtversicherer auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens aus einem Verkehrsunfall in Anspruch genommen, der sich am 24. 7. 1982 ereignet hat und bei dem die Kl. schwer verletzt worden ist. Die Versicherungsnehmerin der Bekl. hatte mit ihrem Pkw der zum Unfallzeitpunkt 16-jährigen Kl. auf ihrem Motorrad die Vorfahrt genommen. Infolge der Unfallverletzungen musste das rechte Bein der Kl. in der Mitte des Oberschenkels nach ausgedehntem Ober- und Unterschenkeltrümmerbruch mit Nerven- und Gefäßzerreißungen, Eröffnung des Kniegelenks und Zerreißung aller Kniebänder amputiert werden. Ferner trug die Kl. Platzwunden am rechten Unterbauch, Prellungen und Schürfwunden davon; der Nagel des linken Ringfingers wurde abgerissen. Sie lag mit schwerem Schock eine Woche lang auf der Intensivstation; es bestand Lebensgefahr. Die stationäre Behandlung dauerte bis zum 31. 12. 1982. Bis zum Unfall war die Kl. aktive Sportlerin gewesen; sie wollte Polizeibeamtin werden. Nach der bestrittenen Behauptung der Kl. hat der Unfall zu einer Wesensveränderung geführt.
Die Kl. hat von der Bekl. neben dem Ersatz des materiellen Schadens u. a. die Zahlung eines Schmerzensgeldkapitalbetrages von 70000 DM sowie einer Schmerzensgeldrente von monatlich 400 DM gefordert.
Das LG hat der Klage im wesentlichen stattgegeben, beim Schmerzensgeld jedoch mit der Abweichung, dass der Kl. über den Kapitalbetrag von 70000 DM hinaus eine Schmerzensgeldrente von monatlich nur 300 DM zu zahlen ist. Auf die Berufung der Bekl. hat das BerGer. das Schmerzensgeld um die Rente und den Kapitalbetrag um 15000 DM auf 55000 DM gekürzt. Mit der Revision erstrebt die Kl. die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils. Sie führte zur Aufhebung und Zurückverweisung an das BerGer.
Auszüge aus den Gründen:
I. Die Herabsetzung des nach seiner Ansicht vom LG zu hoch bemessenen Schmerzensgeldes hat das BerGer. wie folgt begründet: das der Kl. zuzubilligende Schmerzensgeld müsse sich aus Gründen der Gleichbehandlung im Rahmen dessen halten, was der Senat in vergleichbaren Fällen an Schmerzensgeld zugebilligt habe. Mit ähnlichem Schadensbild habe der Senat regelmäßig nicht mehr als 50000 DM zugesprochen. Soweit die Kl. sich auf psychische Beeinträchtigungen berufe, sei dies bei Unfallverletzungen der vorliegenden Art nicht ungewöhnlich und vom Senat bereits berücksichtigt.
II. Das Berufungsurteil hält den Revisionsangriffen nicht stand.
Die Ermittlung des Schmerzensgeldes nach Art und Höhe ist zwar grundsätzlich dem Tatrichter vorbehalten. Seine Beurteilung, für die er durch § 287 ZPO besonders freigestellt ist, kann in aller Regel nicht schon deshalb beanstandet werden, weil sie als zu reichlich oder - was hier in Betracht kommt - als zu dürftig erscheint (vgl. Senat, VersR 1976, 967 (968)).
Dem freien tatrichterlichen Ermessen sind allerdings auch Grenzen gesetzt: Es muss das Bemühen um eine angemessene Beziehung der Entschädigung zu Art und Dauer der Verletzungen unter Berücksichtigung aller für die Höhe des Schmerzensgeldes maßgeblichen Umstände erkennen lassen und darf nicht gegen Rechtssätze, Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen (vgl. Senat, VersR 1976, 967 (968). Zur Überprüfung der Einhaltung dieser Grenzen ist der Tatrichter gehalten, die tatsächlichen Grundlagen seiner Schätzung und ihre Auswirkungen darzulegen (vgl. BGHZ 6, 62 (63) m. w. Nachw.).
1. Unter dem zuletzt genannten Gesichtspunkt bemängelt die Revision zu Recht, dass das BerGer. sich nicht ausreichend mit den für die Bemessung des Schmerzensgeldes maßgeblichen Umständen auseinandergesetzt hat. So fehlt es dem Berufungsurteil schon an jeder Befassung mit den Argumenten, die das LG für die Bemessung des Schmerzensgeldes hat entscheidend sein lassen. Das BerGer. hat sich im wesentlichen darauf beschränkt, wegen des maßgebenden Schadensbildes auf das Urteil des LG Bezug zu nehmen. Das ist - jedenfalls bei entsprechend eingehender Auseinandersetzung mit den zugrundezulegenden Verletzungen und ihren immateriellen Auswirkungen durch das LG wie hier - vertretbar, wenn sich das OLG auch in seiner Bewertung an die Größenordnung der Vorinstanz hält. Wenn es aber so erheblich von der Bewertung des LG abweichen will wie im Streitfall, dann muss es im einzelnen dartun, warum es das Ausmaß der Schäden anders beurteilt oder aus welchen anderen Gründen für welche Schäden es der Bewertung des LG nicht folgen will. Das verlangt nicht nur die Rücksicht auf die Aufgabe zur Befriedung der Prozessparteien, denen es schon deshalb verständlich gemacht werden muss, warum zwei Gerichte in der Bewertung desselben Falls zu derart abweichenden Ergebnissen kommen, sondern nur so kann in solchen Fällen den Parteien und dem Revisionsgericht die erforderliche Überprüfung eröffnet werden, dass das BerGer. eine richtige Vorstellung von den maßgeblichen Bemessungsfaktoren gehabt hat, oder ob seine Bemessung des Schmerzensgeldes nicht auf grundsätzlich falschen oder offenbar unrichtigen Erwägungen beruht und ob nicht wesentliche die Entscheidung bedingende Tatsachen außer acht gelassen worden sind.
Zwar hat das BerGer. einige der Auswirkungen der Unfallverletzungen in den Entscheidungsgründen seines Urteils erwähnt. Da es sich jedoch nicht mit der weitergehenden Begründung des LG auseinandergesetzt hat, ist seinen Ausführungen nicht zu entnehmen, ob es auch die Tragweite der Unfallverletzungen in ihren individuellen Auswirkungen für die Kl. richtig gesehen hat. Eine solche - insbesondere unter Berücksichtigung der Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes gebotene - umfassende Schau der maßgeblichen Umstände hat auch die den Dauerfolgen vorausgegangenen Leiden und Beschwernisse zu umfassen. Insoweit ist nicht zu erkennen, ob das BerGer. sich bei der Entscheidungsfindung auch jener Umstände bewusst war: Lebensgefahr für eine Woche nach dem Unfall, lang andauernde Heilbehandlung vom 24. 7. 1982 bis Ende 1982, notwendige Rehabilitationsmaßnahmen mit dem Besuch einer Gehschule und Fistelbildung im Stumpf, die die zeitweise Benutzung von Krücken oder Rollstuhl erforderlich macht. Das notwendige Eingehen auf alle diese Umstände und die Auseinandersetzung mit ihrer Bewertung durch das LG im einzelnen wird auch nicht dadurch entbehrlich, dass das BerGer. erklärt, in vergleichbaren Fällen nicht mehr als 50000 DM als Schmerzensgeld zugesprochen zu haben. Eine derart pauschale Bezugnahme macht sein Urteil weder für die Parteien noch für das Revisionsgericht nachprüfbar. Wegen der hierzu fehlenden Ausführungen kann das Berufungsurteil daher schon gemäß § 551 Nr. 7 ZPO keinen Bestand haben.
2. Die Grenzen des ihm nach § 287 ZPO eingeräumten Ermessens hat das BerGer. auch dadurch verletzt, dass es sich nicht ausreichend mit dem Gutachten des psychologischen Sachverständigen Prof. Dr. R zu den unfallbedingten psychischen Veränderungen bei der Kl. befasst hat. Nach den Ausführungen des Sachverständigen leidet die Kl. als Folge der Unfallverletzungen phasenweise an depressiven Zuständen, die von suizidhaften Stimmungen begleitet sind. Wenn das BerGer. dazu ausgeführt hat, dass die in dem Gutachten des Prof. Dr. R erwähnten psychischen Veränderungen bei Unfallfolgen der hier gegebenen Art nicht ungewöhnlich seien, so ist nicht auszuschließen, dass es entweder die Tragweite dieser Folgen nicht erkannt oder aber diese - unter Außerachtlassung, dass es sich bei der Kl. um einen jungen Menschen handelt, dem durch die Unfallverletzungen ein normales Leben sehr erschwert ist - fehlerhaft bewertet hat.
III. Wegen dieser Verfahrensfehler - Mangel an ausreichender Darlegung der für die Messung des Schmerzensgeldes bedeutsamen Kriterien und fehlerhafte Außerachtlassung für die Abwägung bedeutender Umstände - kann das Berufungsurteil keinen Bestand haben. Es war daher aufzuheben und zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das BerGer. zurückzuverweisen. Bei der erforderlichen Neuverhandlung wird das BerGer. zur Bemessung des Schmerzensgeldes sich auch mit dem Vorbringen der Revision auseinanderzusetzen haben, mit seiner Bewertung verlasse das BerGer. signifikant die Größenordnung, in der sich heute die Schmerzensgelder der Gerichte in vergleichbaren Fällen bewegten. Der erkennende Senat hat wiederholt darauf hingewiesen (vgl. Senat, VersR 1976, 967; 1986, 59), dass ein deutliches Abweichen von der Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen der besonderen Begründung bedarf.
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