Feststellung der Fahruntüchtigkeit unter 1,3 Promille

Gericht

BGH


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

24. 02. 1988


Aktenzeichen

IVa ZR 193/86


Leitsatz des Gerichts

Im Bereich unterhalb der Grenze der absoluten Fahruntüchtigkeit bedarf die Fahruntüchtigkeit der individuellen Feststellung auf Grund von Ausfallerscheinungen oder eines festgestellten Fahrfehlers, der typischerweise durch Alkoholgenuss bedingt ist. Dabei darf nicht kraft eines Anscheinsbeweises auf die Fahruntüchtigkeit geschlossen werden.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Kl. unterhält bei der Bekl. eine Familienversicherung mit Unfallversicherungsschutz, der die Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen (AUB) zugrunde liegen. Er fuhr am 19. 9. 1983 mit seinem Pkw bei Dunkelheit auf einer 8,6 m breiten, geteerten und gut ausgebauten Ausfallstraße in H. stadtauswärts, kam auf der regennassen Straße nach links von der Fahrbahn ab, prallte mit dem Pkw gegen einen Baum und erlitt dabei schwerste Verletzungen (Querschnittslähmung und Hirnschädigungen). Nach dem Unfall wurde festgestellt, dass die beiden rechten Reifen des Fahrzeugs ohne Luft waren. Der Kl. hatte zum Unfallzeitpunkt eine Blutalkoholkonzentration von jedenfalls 1 Promille. Er begehrt von der Bekl. die Zahlung von insgesamt 16055 DM Krankenhaustagegeld und Genesungsgeld sowie die Feststellung, dass die Bekl. ihm für die Folgen des Unfalls Versicherungsschutz zu gewähren habe.

LG und OLG haben die Klage abgewiesen. Die Revision des Kl. führte zur Aufhebung und Zurückverweisung.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

1. Das BerGer. stützt sein klageabweisendes Urteil auf den Ausschlusstatbestand des § 3 Nr. 4 AUB.

Der Kl. sei zwar nicht absolut fahruntauglich gewesen; deshalb müsse der Versicherer zusätzlich sonstige Tatsachen darlegen, z. B. Ausfallerscheinungen beim Verhalten des Versicherten im Straßenverkehr, die für die Annahme einer Bewusstseinsstörung im Sinne dieser Vorschrift sprächen. Derartige Ausfälle seien zu vermuten, wenn ein Kraftfahrzeug wie im Falle des Kl. auf gerader Strecke von der Fahrbahn abkomme und auf einen Baum aufpralle. Beim Abkommen von einer geraden, übersichtlichen Strecke, insbesondere wenn der Kraftfahrer auf einen Baum auffahre, spreche ein Anscheinsbeweis für sein Verschulden, es sei denn, es lägen ganz besondere Umstände vor. Sei der Kraftfahrer alkoholisiert, sei auf die Unfallursächlichkeit des Alkoholgenusses zu schließen, weil er in nüchternem Zustand auf der verkehrsstillen Straße ein solches Fehlverhalten nicht gezeigt hätte. Den für die Bekl. danach streitenden Anscheinsbeweis habe der Kl. nicht zu entkräften vermocht. Denn nach den Ausführungen des Sachverständigen F sei die ernsthafte Möglichkeit eines Druckverlustes des rechten Hinterreifens als Ursache des Unfalls nicht gegeben.

2. Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Allerdings sind nach § 3 Nr. 4 AUB „Unfälle infolge von ... Bewusstseinsstörungen vom Versicherungsschutz ausgeschlossen". Die Rechtsprechung des BGH hat diese Bestimmung dahin ausgelegt, dass bei einem Kraftfahrer dieser Ausschlussgrund bereits dann vorliegt, wenn er zwar noch bei Bewusstsein, infolge Alkoholgenusses aber nicht mehr fahrtüchtig ist (ständig, zuletzt BGH, NJW 1986, 323 m. w. Nachw. = VersR 1986, 141). Soweit die Blutalkoholkonzentration im Unfallzeitpunkt den Wert von 1,3 Promille erreicht, nimmt die Rechtsprechung stets ohne Rücksicht auf die Besonderheiten des Einzelfalls und ohne Zulassung des Gegenbeweises absolute Fahruntüchtigkeit des Verunglückten an. Sie geht in diesem Fall auch davon aus, dass der Beweis des ersten Anscheins für eine Ursächlichkeit des Alkoholgenusses für den Unfall spreche. Bei einem geringeren Alkoholisierungsgrad greift dagegen der Ausschlussgrund des § 3 Nr. 4 AUB nur dann ein, wenn äußere Anzeichen für eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit vorliegen. Ergeben sich diese nicht aus sonstigen Ausfallerscheinungen (vgl. dazu Urt. des 4. Strafsenats des BGH, MDR 1982, 683 a. E.), müssen Fahrfehler festgestellt werden, die typischerweise durch Alkoholgenuss bedingt sind.

Diese Grundsätze hat das BerGer. nicht richtig angewendet. Nach seinen Feststellungen lag die Blutalkoholkonzentration des Kl. mit 1 Promille zur Zeit des Unfalls unter dem in der Rechtsprechung angenommenen Grenzwert für absolute Fahruntüchtigkeit. Da auch alkoholbedingte Ausfallerscheinungen nicht ersichtlich sind, durfte eine Bewusstseinsstörung im Sinne der AUB nur dann genommen werden, wenn sich ein Fahrfehler feststellen ließ, der typischerweise durch Alkoholgenuss bedingt ist. Erst wenn danach zur Überzeugung des Tatrichters feststeht, dass der Verunglückte fahruntüchtig war, ist die weitere Frage zu prüfen, ob diese Fahruntüchtigkeit für den Unfall ursächlich geworden ist. Erst bei dieser weiteren Frage kommen die Regeln über den Beweis des ersten Anscheins zur Anwendung. Dagegen darf nicht kraft eines Anscheinsbeweises auf die Fahruntüchtigkeit geschlossen werden, weil diese im Bereich unterhalb der Grenze der absoluten Fahruntüchtigkeit eben individueller Feststellung bedarf. Erst recht ist es unzulässig, wie es das OLG tut, aus einem „Anscheinsbeweis für sein Verschulden“ an einem Unfall auf relative Fahruntüchtigkeit des Kl. zu schließen. Es kommt hier nicht auf irgendein Verschulden des Kl. an dem Unfall an, vielmehr allein darauf, ob ihm ein Fahrfehler unterlaufen ist und ob man darin ein Anzeichen für eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit sehen kann. Diese Frage kann nicht allgemein bejahend beantwortet werden. Die Erfahrung zeigt, dass vielfach auch nüchterne Fahrer Fahrfehler begehen (vgl. Senat, VersR 1985, 779, für überhöhte Geschwindigkeit).

Das Berufungsurteil wird deshalb aufgehoben. Bei der erneuten Entscheidung wird der Berufungsrichter zunächst zu prüfen haben, ob sich ein Fahrfehler feststellen lässt. Das setzt nach Sachlage die tatrichterliche Überzeugung voraus, dass eine Unfallursache, die nicht auf einem Fahrfehler des Kl. beruht, ausgeschlossen werden kann. Dabei erhält der Tatrichter Gelegenheit, erneut zu überdenken, ob sich eine plausible Erklärung dafür finden lässt, dass am rechten Hinterreifen zwei Schnittverletzungen vorhanden waren, zumal sich dort keine Abriebspuren fanden, wie sie beim Anstoß an den Straßenbaum zu erwarten gewesen wären. Kommt der Tatrichter zu dem Ergebnis, dass sich ein Fahrfehler feststellen lässt, so muss er sich weiter fragen, ob es sich dabei um ein typisch alkoholbedingtes Fahrverhalten handelt und ob er daraus in Verbindung mit dem festgestellten Blutalkoholgehalt und den sonstigen Umständen des Unfalls die Überzeugung gewinnen kann, der Kl. sei fahruntüchtig gewesen. Erst bei der abschließenden Frage nach der Unfallursächlichkeit einer etwa festgestellten Fahruntüchtigkeit können dann die Regeln des Anscheinsbeweises eingreifen.

Rechtsgebiete

Straßenverkehrs- und Straßenrecht