Voraussetzungen eines schwerwiegenden Grundes nach § 15 BAföG

Gericht

OVG Koblenz


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

18. 05. 1988


Aktenzeichen

12 A 16/88


Leitsatz des Gerichts

Zu den Voraussetzungen eines schwerwiegenden Grundes nach § 15 BAföG.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Kl. studiert seit dem WS 1984/85 an der bekl. Universität Psychologie (Diplom). Auf ihren Antrag hin gewährte ihr die Bekl. Ausbildungsförderung bis September 1986. Am 15. 8. 1986 begehrte die Kl. die Weiterförderung für das 5. und 6. Fachsemester, konnte indessen trotz mehrmaliger Aufforderung durch die Bekl. keinen Leistungsnachweis nach § 48 I BAföG vorlegen. Mit Schreiben vom 9. 12. 1986 teilte sie schließlich folgendes mit: Den Leistungsnachweis könne sie nicht erbringen, weil sie das Experimentalpsychologische Praktikum I sowie die Prüfung in Entwicklungspsychologie I im WS 1985/86 nicht bestanden habe. Das Experimentalpsychologische Praktikum erstrecke sich über zwei Semester, jedoch könne am zweiten Teil des Praktikums nicht ohne vorherigen Erfolg im Ersten teilgenommen werden. Sie habe sich über den Winter intensiv um ihre Eltern kümmern müssen. Ihr Vater sei psychisch sehr labil gewesen, damit sei ihre Mutter nicht allein zurecht gekommen. Die ausstehenden Leistungsnachweise könne sie spätestens zum Ende des SS 1987 vorlegen. Die Bekl. lehnte daraufhin mit Bescheid vom 22. 1. 1987 die Bewilligung von Ausbildungsförderung über das 4. Semester hinaus ab. Den hiergegen unter Hinweis auf die Erkrankung ihrer Eltern, insbesondere auf einen Krankenhausaufenthalt ihrer Mutter im März 1986, erhobenen Widerspruch, wies die Bezirksregierung zurück. Der daraufhin erhobenen Klage gab das VG statt. Die Berufung der Bekl. wurde zurückgewiesen.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Das VG hat die Bekl. im Ergebnis zu Recht verpflichtet, der Kl. Ausbildungsförderung über ihr viertes Fachsemester hinaus, nämlich für das Wintersemester 1986/87 und das Sommersemester 1987, zu gewähren. Der Kl. steht ein hierauf gerichteter Anspruch aus §§ 1 , 2 I Nr. 5, 8, 9 und 48 BAföG in der Fassung des 10. Änderungsgesetzes vom 16. 6. 1986 (BGBl I, 897), zu.

Nach § 48 I 1 BAföG wird vom fünften Fachsemester an Ausbildungsförderung für den Besuch von Hochschulen nur von dem Zeitpunkt an geleistet, in dem der Auszubildende einen ergangenen Leistungsnachweis vorgelegt hat. Dieser Leistungsnachweis kann geführt werden entweder durch Vorlage eines Zeugnisses über eine Zwischenprüfung, die nach den Ausbildungsbestimmungen erst vom Ende des dritten Fachsemesters an abgeschlossen werden kann und vor dem Ende des vierten Fachsemesters abgeschlossen worden ist (Nr. 1) oder durch die Vorlage einer nach Beginn des vierten Fachsemesters ausgestellten Bescheinigung der Ausbildungsstätte darüber, dass er die bei geordnetem Verlauf seiner Ausbildung bis zum Ende des jeweiligen erreichten Fachsemesters üblichen Leistungen erbracht hat (Nr. 2). Obwohl die Kl. einen derartigen Nachweis nicht erbracht hat, wobei nur eine Bescheinigung nach § 48 I 1 Nr. 2 BAföG in Betracht gekommen wäre, weil für das von ihr belegte Studium der Psychologie eine Zwischenprüfung i. S. von Nr. 1 dieser Vorschrift nicht vorgesehen ist, war ihr gleichwohl ein Anspruch auf Weiterbeförderung zuzusprechen. Nach § 48 II BAföG kann nämlich das Amt für Ausbildungsförderung die Vorlage eine der vorbeschriebenen Bescheinigungen, aufgrund deren eine Weiterförderung über das vierte Semester hinaus zu gewähren ist, auch zu einem späteren Zeitpunkt zulassen, wenn Tatsachen vorliegen, die voraussichtlich eine spätere Überschreitung der Förderungshöchstdauer nach § 15 III BAföG rechtfertigen. Von dem Vorliegen solcher Tatsachen ist im Falle der Kl. auszugehen.

Allerdings kann nicht, wie das VG dies annimmt, davon ausgegangen werden, dass das erfolglose Bemühen der Kl. im Wintersemester 1985/86, die Scheine im Experimentalpsychologischen Praktikum I und in Entwicklungspsychologie I zu erwerben, als schwerwiegender Grund i. S. von §§ 48 II , 15 III Nr. 1 BAföG anzusehen ist, der die Überschreitung der Förderungshöchstdauer rechtfertigt. Das Scheitern in diesen Praktika lässt sich nämlich nicht mit dem durch die Ziffern 48.2.1. (Satz3) und 15.3.3 (Satz2) der Verwaltungsvorschriften zu §§ 48 , 15 BAföG als schwerwiegenden Grund nach § 15 III Nr. 1 BAföG anerkannten Fall des erstmaligen Nichtbestehens einer Zwischenprüfung, die Voraussetzung für die Weiterförderung der Ausbildung ist (Zwischenprüfung mit Aufstiegscharakter), gleichsetzen. Dabei soll unterstellt werden, dass diese Verwaltungsvorschriften mit Sinn und Zweck der Regelungen in §§ 9 , 48 BAföG vereinbar sind (so auch OVG Berlin, FamRZ 1980, 86; vgl. zur Problematik auch Rothe-Blanke, BAföG, 4. Aufl., § 48 Rdnr. 36).

Unter dem Begriff der Zwischenprüfung i. S. des § 48 I 1 Nr. 1 BAföG sind nur die Prüfungen zu verstehen, die einerseits in einer Ausbildungs- und Prüfungsordnung vorgesehen sind, und die andererseits aber auch eine umfassende Überprüfung des bis zu einem bestimmten Zeitpunkt erworbenen Fachwissens in einem Studium erfordern (vgl. Rothe-Blanke, § 48 Rdnr. 11). Verlangt die Ausfüllung dieses Begriffes mithin eine das gesamte Spektrum des Studiums umfassende Leistungskontrolle, so verbietet es sich, einzelne Teilbereiche des Studienganges, wie Übungen, Praktika etc., selbst wenn diese wie vorliegend im Falle des Experimentalpsychologischen Praktikums I Konsekutivcharakter aufweisen, mit einer in diesem Sinne verstandenen Zwischenprüfung gleichzusetzen. Die fehlende Vergleichbarkeit zeigt sich auch darin, dass der erfolgreiche Abschluss in einem Leistungsfach zwar unter Umständen Voraussetzung für einen hierauf aufbauenden zweiten Teil sein kann, in der Regel jedoch - wie auch hier - nicht aber die Fortführung des Studiums im übrigen hindert.

Der Regelungsgehalt des § 48 I und II BAföG verbietet zudem, allein den Misserfolg in einem oder mehreren Pflichtveranstaltungen als schwerwiegenden Grund nach § 15 III Nr. 1 BAföG anzuerkennen. Sinn der in § 48 normierten Voraussetzungen ist die Zäsur in der Gewährung von Ausbildungsförderung. Diese soll nur bei bestehender und in der Form des § 48 I 1 BAföG nachgewiesener Eignung fortgesetzt werden. Auch § 9 BAföG bringt dies deutlich zum Ausdruck, indem er die Förderung an die Erwartung knüpft, dass der Auszubildende das angestrebte Ausbildungsziel erreicht. Deshalb rechtfertigen Mängel der Begabung oder Lernbereitschaft sowie Fehlschläge bei Studien- und Prüfungsleistungen grundsätzlich nicht die Anerkennung eines schwerwiegenden Grundes (Rothe-Blanke, § 15 Rdnr. 17). Allein der durch § 15 III Nr. 4 BAföG geregelte Tatbestand lässt insofern eine Ausnahme zu. Allerdings handelt es sich dabei wie bei der Zwischenprüfung im hier verstandenen Sinne um einen Fall einer zusammenfassenden und abschließenden Leistungsüberprüfung und ist deshalb einer erweiternden Auslegung nicht zugänglich.

Darüber hinaus hindert die Regelung in § 48 I 3 BAföG eine Anwendung der Vorschriften der §§ 48 II , 15 III Nr. 1 BAföG auf Fälle der vorliegenden Art. § 48 I 3 BAföG erlaubt die verspätete Vorlage der in Satz 1 Nrn. 1 oder 2 und Satz 2 genannten Nachweise innerhalb der ersten vier Monate des nachfolgenden Semesters. Diese Rückwirkungsmöglichkeit greift aber ausdrücklich nur bei rechtzeitig erbrachter Leistung. Wird der Leistungsnachweis zwar innerhalb der Vier-Monats-Frist vorgelegt, waren die darin ausgewiesenen Leistungen jedoch nicht bereits im vorhergehenden Semester erbracht, so ist die Leistungsvoraussetzung des § 48 I BAföG nicht erfüllt. Der Auszubildende muss in diesem Fall den Nachweis führen, dass er die zum Ende des laufenden (5.) Semesters üblichen Leistungen, also nicht nur diejenigen bis zum Ende des vorhergehenden, sondern auch die des laufenden Semesters, jetzt erbracht hat. Erst dann setzt die Ausbildungsförderung wieder ein (vgl. hierzu insgesamt Rothe-Blanke, § 48 Rdnrn. 30, 31; Ziffer 48.1.2. der VwVO zu § 48 ). Diese Anforderungen gelten nur dann nicht, wenn Gründe der in § 15 III BAföG genannten Art vorliegen. Führt aber der Misserfolg in einer Lehrveranstaltung und damit das Nichterreichen des zum vierten Semesters üblichen Leistungsstandes zunächst zur Einstellung der Förderung, so kann dies über den Weg der §§ 48 II , 15 III Nr. 1 BAföG, weil ein Misserfolg in einzelnen Prüfungen als schwerwiegender Grund anzuerkennen wäre, nicht gleichzeitig zur Weiterförderung ohne Unterbrechung führen. Damit würde die Bedeutung von Wirkung und Ursache des fehlenden Leistungsstandes verkannt und die Wirkung zur Ursache selbst erhoben.

Das bisher Gesagte gilt auch in Ansehung der in Ziffer 48.2.1 Satz3 der Verwaltungsvorschrift zu § 48 BAföG getroffenen Anordnung. Der Unterschied zur Regelung in Satz2 besteht lediglich darin, dass laufende Nachweise an die Stelle einer Zwischenprüfung (mit Aufstiegscharakter) treten. Der Inhalt dieser Verwaltungsvorschrift ist deshalb in Übereinstimmung mit der Auffassung der Bekl. so zu verstehen, dass laufende studienbegleitende Leistungskontrollen eine Zwischenprüfung ersetzen, mit laufenden Leistungsnachweisen aber nicht einzelne Lehrveranstaltungen, wie sie die Kl. absolviert hat, gemeint sind. ...

Demnach stellt das Scheitern der Kl. in den Lehrveranstaltungen Experimentalpsychologisches Praktikum I und Entwicklungspsychologie I für sich genommen noch keinen schwerwiegenden Grund i. S. von § 15 III Nr. 1 BAföG dar, so dass die Weiterförderung der Kl. über das vierte Fachsemester hinaus, jedenfalls aus diesem Blickwinkel betrachtet, nicht zu rechtfertigen ist.

Hingegen sieht der Senat in der von der Kl. in hinreichendem Umfang nachgewiesenen Tatsache, dass sie ihre Eltern im Wintersemester 1985/86 insbesondere im März und April 1986 gepflegt hat, einen schwerwiegenden Grund i. S. des § 15 III Nr. 1 BAföG.

Zwar wird die Pflege erkrankter Familienangehöriger und die damit einhergehende besondere Belastung des Auszubildenden grundsätzlich nicht als ein schwerwiegender Grund der genannten Art anerkannt (vgl. BVerwGE 64, 164 (168) sowie OVG Koblenz, FamRZ 1983, 425 (426)). Denn in diesem Zusammenhang sind grundsätzlich nur solche Umstände zu berücksichtigen, die in dem Sinne ausbildungsbezogen sind, dass sie entweder subjektiv die Fähigkeit des Auszubildenden, seine Ausbildung planmäßig fortzuführen, betreffen oder in objektiver Hinsicht die äußeren Gegebenheiten des zu absolvierenden Ausbildungsganges berühren (vgl. BVerwGE 64, 164 (168) sowie OVG Koblenz, FamRZ 1983, 425 (426)). Hieran ist auch weiterhin festzuhalten. Mit der erwähnten Rechtsprechung setzt sich der Senat, indem er die Pflege der erkrankten Eltern der Kl. als schwerwiegenden Grund anerkennt, indessen nicht in Widerspruch. Sowohl das BVerwG als auch das OVG Koblenz haben den Auszubildenden in diesen Fällen auf die Möglichkeit einer - unter Umständen auch (rückwirkenden) - Beurlaubung verwiesen, um der durch die Erkrankung der Eltern bedingten zusätzlichen häuslichen Belastung und den damit einhergehenden Nachteilen für das Studium zu begegnen. Davon konnte die Kl. aus objektiven Gründen jedoch keinen Gebrauch machen. Bereits in der mündlichen Verhandlung vor dem VG hat der Vertreter der Bekl. eingeräumt, dass die Bekl. eine rückwirkende Beurlaubung, um die sich die Kl. ihrem glaubhaften Bekunden nach rechtzeitig bemüht hatte, in diesen Fällen nicht gewähre. Dem entspricht § 13 I 4 der Einschreibeordnung der Bekl. vom 28. 11. 1980 (StAnz S. 868), wonach eine rückwirkende Beurlaubung, von hier nicht vorliegenden Ausnahmen abgesehen, nicht stattfindet.

Im Zusammenhang mit der fehlenden Möglichkeit der rückwirkenden Beurlaubung im Wintersemester 1985/86 muss die durch die Erkrankung ihrer Eltern eingetretene besondere Belastung der Kl., die mit großer Wahrscheinlichkeit mitursächlich für den Misserfolg in den Nachklausuren war, daher hier ausnahmsweise als schwerwiegender Grund für die Nichterbringung des in § 48 I 1 Nr. 2 BAföG geforderten Leistungsnachweises anerkannt werden.

Diese Umstände waren auch kausal für die zeitliche Verzögerung der Ausbildung um zwei Semester. Sie rechtfertigen die Prognose, dass die Förderungshöchstdauer voraussichtlich um diese zwei Semester überzogen wird. Den fehlenden Leistungsnachweis nach § 48 I 1 Nr. 2 BAföG konnte die Kl. erst mit zweisemestriger Verzögerung erbringen. Hierfür ist der Konsekutivcharakter des Experimentalpsychologischen Praktikums einerseits sowie die zeitliche Reihenfolge des Lehrangebotes andererseits bestimmend. Das Lehrangebot im Fach Psychologie ließ die Regelung dieses Ausbildungsteiles im Sommersemester 1986 nicht zu. Die Kl. musste daher erst im Wintersemester 1986/87 den ersten Praktikumsteil durchlaufen, um sodann im Sommersemester 1987 den zweiten Teil des Experimentalpsychologischen Praktikums erfolgreich bestehen zu können. Die zeitliche Einordnung dieser Lehrveranstaltungen in der Ausbildungsordnung des Studiums der Psychologie liegt aber nicht in der Sphäre der Kl. begründet. Gleiches gilt im Übrigen für die Veranstaltung Entwicklungspsychologie I. Wegen dieser Veranstaltungsrhythmen hätte auch eine Beurlaubung für das Sommersemester 1986 keinen Sinn gehabt. Aufgrund der Wiedergenesung ihrer Mutter war die Kl. in der Lage, wieder am Studienbetrieb teilzunehmen und für den Leistungsnachweis nach § 48 I 1 Nr. 2 BAföG noch fehlende Lehrfächer im Sommersemester 1986 zu belegen (z. B. Entwicklungspsychologie II).

Rechtsgebiete

Sozialrecht