Anrechnung von Lebensversicherungen bei der Arbeitslosenhilfe

Gericht

SG Berlin


Art der Entscheidung

Urteil


Datum

24. 01. 2003


Aktenzeichen

S 58 AL 2208/02


Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 8. April 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. April 2002 verurteilt, dem Kläger mit Wirkung ab 1. Februar 2002 Arbeitslosenhilfe ohne Anrechnung der Lebensversicherung zu gewähren.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand


Tatbestand:

Streitig ist die Anrechnung einer Lebensversicherung oberhalb der Freibetragsgrenze von § 1 Abs. 2 Arbeitslosenhilfe-Verordnung (AlhiV) 2002.

Der 1955 geborene Kläger war nach einer Ausbildung zum Raumausstatter in der Zeit von 1975 bis 1981 im Ausbildungsberuf versicherungspflichtig beschäftigt. In der Zeit von 1981 bis 1997 war er selbstständig tätig, dann folgte wieder eine abhängige Beschäftigung in der Zeit von Januar 1998 bis März 1999.

Auf eine Arbeitslosmeldung zum 1. April 1999 bezog der Kläger Arbeitslosengeld nach einem Bemessungsentgelt von 360,00 DM wöchentlich, nach Ausschöpfung dieses Anspruchs, am 27. September 1999, war ihm Alhi gewährt worden, zuletzt in Höhe von 22,68 DM täglich. Die vom Kläger im Zuge seiner Selbstständigkeit im März 1981 abgeschlossene Kapitalbildende Lebensversicherung über eine Versicherungssumme von 100.000,00 DM unter Einschluss einer Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung mit Schlusstag (erreichen des 60. Lebensjahres) 1. März 2015 war von der Beklagten als angemessenes Altersvorsorgevermögen anerkannt worden.

Wegen gesundheitlicher Probleme war dem Kläger vom Rentenversicherungsträger eine berufliche Umschulung im Bereich Küchenplanung gewährt worden. Zur Absolvierung des Vorbereitungskurses hatte sich der Kläger am 31. Oktober 2001 aus dem Alhi-Bezug abgemeldet.

Auf seinen Wiederbewilligungsantrag nach Beendigung des Vorbereitungskurses zum 1. Februar 2002 war die Gewährung von Alhi mangels Bedürftigkeit abgelehnt worden; der vom Versicherungsunternehmen zum Stichtag 28. Februar 2001 bestätigte Rückkaufswert einschließlich des Überschussanteils aus der Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung in Höhe von insgesamt 104.300,02 DM (= 53.327,75 Euro) übersteige den Freibetrag gemäß § 1 Abs. 2 AlhiV 2002 um 29.407,75 Euro (Bescheid vom 8. April 2002, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 25. April 2002).

Am 16. Mai 2002 hat der Kläger beim Sozialgericht Berlin Klage auf Gewährung von Alhi ohne Berücksichtigung der Lebensversicherung erhoben. Unter Bezugnahme auf eine Rentenauskunft der BfA vom 22. Mai 2002, wonach seine monatliche Altersrente unter Geltung der bis Juni 2003 maßgebenden aktuellen Rentewerte 166,82 Euro betragen würde, macht der Kläger geltend, der Einsatz seiner bis Ende 2001 als angemessene Alterssicherung anerkannten Lebensversicherung sei ihm zur Vermeidung von Altersarmut nicht zumutbar.

Die Bevollmächtigte des Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 8. April 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. April 2002 zu verurteilen, dem Kläger mit Wirkung ab 1. Februar 2002 Arbeitslosenhilfe ohne Anrechnung der Lebensversicherung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich auf ihre Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden.

Auf Anforderung des Gerichts hat der Kläger eine Bescheinigung des Versicherungsunternehmens beigebracht, wonach die abgeschlossene Kapital-Lebensversicherung nicht in eine Riester-ähnliche Versicherung umgewandelt werden könne. Ausweislich einer beigefügten Aufstellung der seit 1981 eingezahlten Beiträge beläuft sich die Gesamtbeitragssumme bis Ende 2002 auf 45.801,53 Euro.

Zum übrigen Sach- und Streitstand wird ergänzend auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die beigezogene Leistungsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe


Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger kann nicht auf den Einsatz der Lebensversicherung verwiesen werden.

Nach Lebensalter, Erwerbsbiographie und eingeholter Rentenauskunft der BfA steht fest, dass der Kläger selbst bei Annahme einer dauerhaften beruflichen Wiedereingliederung nach Beendigung der Umschulung und einem Rentenzugangsalter von 65. Lebensjahren keine oberhalb der Sozialhilfe liegende Altersrente erarbeiten kann. Dies gilt auch dann, wenn er zum 1. Februar 2002 eine Riester-Rente abgeschlossen hätte. Nach Modellberechnungen des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft erreicht das Gesamtversorgungsniveau (gesetzliche Rente plus Riester) bei häufigem Wechsel zwischen abhängiger Beschäftigung und versicherungsfreier Selbstständigkeit nur 44 % des zuletzt verdienten Nettoarbeitsentgelts (Nachweis unter www.gdv.de).

Da nicht ersichtlich ist, dass der Kläger bis zum Renteneintritt über anderweitige Versorgungsmöglichkeiten oder Vermögenswerte verfügen wird, ist nach den hier seit dem 1. Februar 2002 unverändert gebliebenen Umständen davon auszugehen, dass bei Einsatz der Lebensversicherung die Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung wesentlich erschwert wäre.

Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass die AlhiV 2002 eine allgemeine Härteklausel nicht kenne, weil mit der großzügigen Freibetragsregelung gemäß § 1 Abs. 2 unter Fortschreibung der Angemessenheitspauschale von 1.000,00 DM pro Lebensjahr eine ausreichende Lebenshaltung einschließlich Alterssicherung im Regelfall gewährleistet sei. Denn mit dem Altersvermögenskonzept der AlhiV 2001 haben die Regelungen der AlhiV 2002 radikal gebrochen: Vermögen innerhalb der Freibetragsgrenze von 520,00 Euro pro Lebensjahr, künftig 200,00 Euro pro Lebensjahr, ist völlig ungeachtet seines Verwendungszwecks geschützt. Ein spezifisches Alterssicherungsvermögen steht sozialversicherungspflichtigen Arbeitslosen nur noch in Form der nach § 10 a oder dem XI. Abschnitt des Einkommenssteuergesetzes geförderten Vermögensanlagen zu, während die von der Rentenversicherung befreiten Personen über Altersvorsorgevermögen, gleich welcher Anlageform, in unbegrenzter Höhe verfügen dürfen.

Der Freibetragsgrenze des § 1 Abs. 2 AlhiV 2002 kann somit weder eine Regelung über die Angemessenheit eines nachweislich der Alterssicherung dienenden Vermögenswertes entnommen werden, noch bedeutet sie, dass grenzüberschreitende Altersvorsorgevermögen außerhalb der Riesterregelungen stets anzurechnen sind.

§ 193 Abs. 2 SGB III knüpft die Erbringung von Alhi an die Wertung, ob dies mit Rücksicht auf Vermögens „gerechtfertigt“ ist. Mit dem Begriff der „Rechtfertigung“ der Alhi-Gewährung trotz vorhandenen Vermögens ist der Verordnungsgeber vor die Aufgabe gestellt, ein mit den Strukturprinzipien des Arbeitslosenhilferechts (Lebensstandardprinzip, Versicherungsprinzip) kompatibles Schonvermögenskonzept zu entwickeln. Zu den Standards eines solchen Konzepts gehört die Verhinderung eines wirtschaftlichen Ausverkaufs, der zur Lähmung des Selbsthilfewillens und zum nachhaltigen Verlust der erarbeiteten Lebensgrundlagen führt.

Die Regelung des § 1 Abs. 3 Nr. 6 AlhiV 2002, die eine offensichtlich unwirtschaftliche Verwertung von Sachen und Rechten ausschließt, kann daher nicht allein auf die Prüfung einer bestimmten Relation zwischen Verkehrswert und Verkaufserlös reduziert werden. Für die Verwertung einer Kapitalbildenden Lebensversicherung hat das Bundessozialgericht dies ausdrücklich entschieden und zur Begründung die allgemeine Erwägung herangezogen, dass bei Empfängern subsidiärer Sozialleistungen mit dem Einsatz von Alterssicherungsvermögen nicht die Vorstellungen und sozialpolitischen Forderungen einer vernünftigen Vorsorge für Alter und Invalidität vereitelt werden sollen (Urteil vom 29. Januar 1997 - 11 RAr 21/96, NZS 1997, Seite 492 f).

Es ist daher sachgerecht und zur Vermeidung einer willkürlichen Schlechterstellung rentenversicherungspflichtiger Arbeitsloser mit lückenhaftem Versicherungsverlauf gegenüber den in § 1 Abs. 3 Nr. 4 AlhiV 2002 genannten Personen auch geboten, eine Vermögensverwertung dann als offensichtlich unwirtschaftlich im Sinne von § 1 Abs. 3 Nr. 6 AlhiV 2002 zu qualifizieren, wenn hierdurch die Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung wesentlich erschwert würde. Bereits in einer Entscheidung aus dem Jahre 1976 (BSGE 41, 187 ff) hat das Bundessozialgericht den Einsatz von Vermögen, dessen Verbrauch mangels anderweitiger Versorgungsmöglichkeiten als bald wieder zur umfassenden Abhängigkeit von Alhi führen würde, als nicht nur unbillig, sondern auch unwirtschaftlich beurteilt.

Eine Gegenüberlegung bestätigt die Richtigkeit dieser Entscheidung: die restriktive, allein an einem bestimmten Verhältnis zwischen Verkehrswert und Verkaufserlös orientierte Betrachtungsweise der Beklagten (Randnummer 17 der Dienstanweisungen zu § 193 SGB III) fordert zur Verschleuderung angesparten Vermögens zum Zweck der alsbaldigen Wiederbewilligung von Alhi heraus, ein offensichtlich unwirtschaftliches, im Rahmen der §§ 190 ff SGB III aber nicht sanktionierbares Verhalten.

Wie eingangs erwähnt, war der Kläger überwiegend als Selbstständiger tätig und hat deshalb nur eine minimale Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung aufgebaut. In einem Sammelerlass vom 21. Januar 1994 - III a 4 - 7137.1 A/7138/ 7010/7062 a - hat die Bundesanstalt unter solchen Umständen eine Lebensversicherungssumme von bis zu 300.000,00 DM als angemessen angesehen (Ziffer 2.25 Nr. 3). Dieser Sammelerlass, auf den nach Wegfall der Regelung des § 6 Abs. 4 AlhiV 2001 zurückgegriffen werden kann, sofern er die Angemessenheit anhand der individuellen Einzelfallumstände/Rentenanwartschaften und insofern nach dem Grundgedanken der Wirtschaftlichkeit bestimmt, enthält nach wie vor tragfähige und den Erfordernissen der Massenverwaltung Rechnung tragende Erwägungen zum Einsatz von Kapitalbildenden Lebensversicherungen. Seine Aktualität wird durch Zahlen aus dem Mikrozensus 2001 belegt, wonach 65 % der Selbstständigen eine Lebensversicherung zur Altersvorsorge abgeschlossen haben, 54 % hiervon mit einer Summe über 25.565,00 Euro und 38 % mit einer Summe über 51.129,00 Euro.

Mit einem Kapitalwert von 100.000,00 DM kann der Kläger somit weder auf einen Rückkauf noch eine Ruhensstellung seiner Lebensversicherung verwiesen werden.

Bei einer monatlichen Alhi von ca. 348,00 Euro scheidet auch eine Verwertung in Form einer Beleihung (Police-Darlehen) aus. Der Aufwand an Zinsen und Gebühren stünde angesichts der knappen Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts in keinem wirtschaftlich vertretbaren Verhältnis zum Beleihungsertrag (so auch grundsätzlich Ziffer 2.22 Nr. 1 des genannten Sammelerlasses).

Schließlich kommt auch eine Umwandlung in eine Riester-Rente nicht in Betracht. Abgesehen davon, dass der Versicherer ausweislich des vom Kläger eingeholten Schreibens eine solche Möglichkeit nicht bereitstellt, ist sie auch unter dem Aspekt der Wirtschaftlichkeit grundsätzlich nicht zumutbar. Denn selbst wenn man die Vorteile einer Kapitalbildenden Lebensversicherung - Garantieverzinsung, Übernahme der biometrischen Risiken, Abdeckung des Risikos der Berufsunfähigkeit, Möglichkeit der Hinterbliebenenversorgung bei Unfalltod und gänzliche Steuerfreiheit - für nicht schützenswert hält, dient die Riester-Rente nach einhelliger Auffassung der Absicherung neuer, im Zuge der gesetzlichen Rentenreform zusätzlich entstandener Versorgungslücken (die Vierte Säule der Altersvorsorge).

Ein nachvollziehbarer Grund, warum dieses Modell für rentenversicherungspflichtige Bezieher von Alhi nicht gelten soll (Abschmelzen des Freibetrages im Umfang der angesparten Riester-Rente) ist der AlhiV 2002 nicht zu entnehmen. Die mutmaßliche Erklärung, rentenversicherungspflichtige Alhi-Bezieher verfügten im Regelfall über eine hinreichende Altersversorgung, geht bei atypischen Erwerbsbiographien ins Leere und bringt die Privilegierung rentenversicherungsbefreiter Alhi-Bezieher in erhebliche Erklärungsnot.

Im Fall offensichtlicher Versorgungslücken wird sogar Sozialhilfebeziehern von fachkundiger Stelle neben den Beiträgen zur Riester-Rente die Aufrechterhaltung einer Kapitalbildenden Lebensversicherung zugestanden, sofern diese auf Rentenbasis umgestellt wird mit der Verpflichtung des Hilfeempfängers, eine Rückumwandlung nur mit Zustimmung des Sozialhilfeträgers vorzunehmen (Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge für den Einsatz von Einkommen und Vermögen in der Sozialhilfe vom 30. August 2002, Nachweis unter www.deutscher-verein.de).

Dem braucht hier nicht weiter nachgegangen zu werden, da es zu einer solchen Handhabung an einer gesetzlichen Grundlage fehlt und der Kläger rein faktisch über keine Möglichkeit der Vertragsumwandlung in eine Riester-Police verfügt.

Steht nach alldem fest, dass der Kläger nur unter Verstoß gegen das in § 193 Abs. 2 SGB III verankerte Verbot des wirtschaftlichen Ausverkaufs auf den Einsatz seiner Lebensversicherung verwiesen werden könnte, war unter Berücksichtigung der im übrigen unstreitigen Anspruchsvoraussetzungen - Arbeitslosigkeit, Verfügbarkeit - auf einen Alhi-Anspruch ab 1. Februar 2002 zu erkennen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Rechtsgebiete

Sozialrecht