Wegfall der Unterhaltspflicht eines Sohnes

Gericht

LG Hannover


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

17. 01. 1991


Aktenzeichen

3 S 247/90


Leitsatz des Gerichts

Zum Wegfall der Unterhaltspflicht eines Sohnes gegenüber seinem Vater, wenn letzterer die Familie verlassen und sich fortan um die noch minderjährigen Kinder nicht mehr gekümmert hat.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Kl. gewährt dem Vater des Bekl., Herrn S., Leistungen der Sozialhilfe nach §§ 68 und 69 BSHG. Herr S. befindet sich infolge körperlicher Gebrechen in einem Alten- und Pflegeheim. Die Renteneinkünfte des Herrn S. i. H. von 1744,88 DM reichen nicht aus, die anfallenden Heimpflegekosten von zur Zeit monatlich rd. 2600 DM in vollem Umfange abzudecken. Die Kl. trat daher an den Bekl. im Jahre 1988 heran mit der Aufforderung, seine Einkommensverhältnisse gegenüber der Kl. offenzulegen, damit sie die Unterhaltspflicht des Bekl. überprüfen könne. Mit Zahlungsaufforderung v. 18. 10. 1989 setzte die Kl. deshalb den Mindesttabellensatz für den Elternunterhalt i. H. von 416 DM monatlich gegen den Bekl. fest und beziffert ihre Forderung rückwirkend für den Zeitraum 1. 9. 1988 bis 31. 12. 1989 i. H. von insgesamt 6240 DM ... ´

Der Bekl. macht geltend: Der Vater habe die Familie im Jahre 1948 verlassen, als der Bekl. selber knapp 10 Jahre alt gewesen sei, und habe sich seitdem nicht mehr um die Ehefrau und die zwei minderjährigen Kinder gekümmert. Die Mutter des Bekl. sei daher gezwungen gewesen, ganztägig einer Berufstätigkeit nachzugehen, weswegen der Bekl. in einer Bauernfamilie gelebt habe, wo er tagsüber versorgt und beköstigt wurde. Der Bekl. sei auch gezwungen gewesen, schon als Kind berufliche Nebentätigkeiten auszuüben, um zum Unterhalt der Familie beizutragen. Auch später, als die Schwester des Bekl. mit dem Vater wieder in Kontakt getreten sei, habe der Vater des Bekl. schroff jede Kontaktaufnahme zu dem Bekl. abgelehnt und sich abfällig über diesen geäußert.

Der Bekl. ist daher der Auffassung, dass eine Unterhaltsleistung für ihn zumindest grob unbillig sei.

Das AmtsG wies die Klage als unbegründet ab. Hiergegen richtet sich die Berufung der Kl.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Die Berufung ist zulässig, hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Die Kammer ist im Ergebnis wie das AmtsG der Meinung, dass eine Unterhaltspflicht des Bekl. gegenüber seinem Vater gemäß § 1611 BGB entfällt.

Nach dieser Vorschrift kommt ein Wegfall der Unterhaltsverpflichtung aus drei verschiedenen Gründen in Betracht. Für die erste Alternative (Bedürftigkeit des Unterhaltsberechtigten durch sein sittliches Verschulden) besteht vorliegend keinerlei Anhaltspunkt. Das AmtsG hat die Bejahung der zweiten Alternative (gröbliche Vernachlässigung der eigenen Unterhaltspflicht gegenüber dem Unterhaltspflichtigen) zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht. Hiergegen wendet sich die Kl. mit der Berufung mit neuem Vortrag und Beweisantritten. Insbesondere behauptet sie, dass der Vater des Bekl. im Zusammenhang mit seiner Scheidung von der Mutter des Bekl. i. J. 1950 von dieser eine schriftliche Erklärung erhalten habe, dass sie unwiderruflich für alle Zeiten auf Unterhaltsforderungen auch im Namen der Kinder verzichte. Eine derartige Erklärung, deren Abgabe der Bekl. bestreitet, wäre zwar hinsichtlich des Kindesunterhalts rechtlich unwirksam (vgl. Palandt/Diederichsen, BGB, 49. Aufl., vor § 1601 Anm. 4). Sie könnte aber für die Frage des Verschuldens des Vaters hinsichtlich der Verletzung seiner Unterhaltspflicht gegenüber dem Bekl. von Bedeutung sein. Einer Aufklärung insoweit durch Vernehmung des von der Kl. als Zeugen benannten Vaters bedarf es jedoch nicht. Denn die Frage, ob eine gröbliche Verletzung der Unterhaltspflicht vorgelegen hat, kann dahinstehen, weil jedenfalls die dritte Alternative des § 1611 BGB (vorsätzliche schwere Verfehlung gegenüber dem Unterhaltspflichtigen) erfüllt ist.

Der Vater des Bekl. hat sich nach Auffassung der Kammer nämlich einer schweren Verfehlung gegenüber dem Bekl. dadurch schuldig gemacht, dass er sich unstreitig über einen langjährigen Zeitraum in keiner Weise um den Bekl. gekümmert hat. Eine schwere Verfehlung i. S. des § 1611 BGB stellt ein Verhalten dar, das eine tiefgreifende Beeinträchtigung schutzwürdiger wirtschaftlicher oder persönlicher Belange des Verpflichteten bewirkt hat; es muss einen besonders groben Mangel an verwandtschaftlicher Gesinnung und menschlicher Rücksichtnahme verraten (vgl. Göppinger, Unterhaltsrecht, 4. Aufl., Rz. 810). Die Kl. räumt ein, dass der Vater des Bekl. nach der Scheidung von der Mutter des Bekl. i. J. 1950 keinerlei Kontakt mehr zu dem Bekl. gehabt hat. Erst anlässlich der Eheschließung der Schwester des Bekl. im Jahre 1965 kam es wieder zu einem Kontakt, der jedoch rasch wieder endete. Der Vater des Bekl. hat also den Umstand, dass er sich von seiner Ehefrau scheiden ließ, allein für seine weitere Lebensgestaltung hinsichtlich seiner damaligen Familie maßgebend sein lassen und in keiner Weise berücksichtigt, dass damit seine Fürsorgepflicht für seine Kinder nicht automatisch endete. Diese Fürsorgepflicht bestand nicht nur in materieller Hinsicht, sondern auch im seelisch-emotionalen Bereich. Der Vater des Bekl. hat sich vorsätzlich um den Bekl., der Mitte des Jahres 1950 erst 12 Jahre alt wurde, also noch sehr wesentliche Jahre der Entwicklung vor sich hatte, nicht mehr gekümmert. Das zeigt einen groben Mangel an verwandtschaftlicher Gesinnung und menschlicher Rücksichtnahme. Auch in den 50er Jahren war allgemein bekannt, dass der Vater für einen heranwachsenden Jungen wichtig ist. Gleichwohl hat sich der Vater des Bekl. total von dem Bekl. abgewandt. Dieses Verhalten stellte nicht nur eine bloße Unterlassung, sondern eine aktive Beeinträchtigung der Vater-Kind-Beziehung dar. Dieses Verhalten wiegt auch deswegen schwer, weil der Vater des Bekl. - mag es gemäß der Darstellung der Kl. nach 1947 zunächst auch unverschuldet gewesen sein - sich um den Bekl. auch in den Jahren unmittelbar vor der Scheidung wenig gekümmert hatte. Bei dieser zu missbilligenden Haltung nach der Scheidung ist der Vater des Bekl. selbst dann geblieben, als er auch nach Darstellung der Kl. erkannte, dass der finanzielle Unterhalt des Bekl. nicht gesichert war. Nicht einmal dann, als die Mutter des Bekl. nach der Scheidung von dem Vater des Bekl. noch einmal Unterhaltsleistung forderte, hat der Vater in irgendeiner Weise einen Anlass gesehen, sich zu vergewissern, wie der Bekl. tatsächlich mit dem Leben zurechtkam.

Diese vollständige Abwendung konnte durch den kurzzeitigen Kontakt im Jahre 1965 - einerlei, wie er im einzelnen verlaufen ist - nicht wieder ungeschehen gemacht werden. Als Verzeihung ist dieses Zusammentreffen offensichtlich weder von dem Bekl. noch von seinem Vater aufgefasst worden, denn sie haben alsbald danach keine Beziehung mehr zueinander unterhalten. Der Vater des Bekl. hat zu der Zeit, als er noch nicht pflegebedürftig war, ganz offensichtlich die Situation so aufgefasst, dass seine Abtrennung von dem Bekl. vollständig war und er selbst von diesem auch unter keinen Umständen Unterhalt für sich gefordert hätte. Dieser gesamte Ablauf rechtfertigt es, die Unterhaltspflicht des Bekl. gegenüber seinem Vater auch für den Zeitraum, für den die Kl. Unterhalt aus übergeleitetem Recht fordert, in vollem Umfang wegfallen zu lassen. Eine Heranziehung des Bekl. wäre nach Auffassung der Kammer grob unbillig. Der Umstand der Belastung der öffentlichen Hand muss zurücktreten; maßgebend für den Wegfall sind familienrechtliche Gründe (vgl. Palandt/Diederichsen, a.a.O., § 1611 Anm. 3).

Rechtsgebiete

Unterhaltsrecht