Unrichtige Beantwortung von Fragen im Antrag auf Berufsunfähigkeitsversicherung

Gericht

BGH


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

02. 03. 1994


Aktenzeichen

IV ZR 99/93


Leitsatz des Gerichts

  1. Eine Verletzung der Anzeigeobliegenheit gem. § 16 I VVG über körperliche Störungen setzt voraus, dass der Versicherungsnehmer positive Kenntnis von den anzuzeigenden Umständen hat, was im wesentlichen davon abhängt, welche Kenntnisse er im Zeitpunkt der Antragstellung durch die ärztlichen Behandlungen und die ihm erteilte Aufklärung hat.

  2. Zu der aufzählenden Frage, ob ein Antragsteller an Krankheiten, Störungen oder Beschwerden (an bestimmten Organen) gelitten habe, ist Auskunft unabhängig von der Schwere der Störungen zu geben, wobei nur offenkundig belanglose oder alsbald vorübergehende Störungen ausgenommen sind.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Kl., der als Lokomotivführer bei der Deutschen Bundesbahn beschäftigt war, beansprucht von der Bekl. eine Berufsunfähigkeitsrente von vierteljährlich 2100 DM. Er unterhält bei ihr seit 1. 1. 1986 eine Berufsunfähigkeitsversicherung, nach deren Zusatzbedingungen für Beamte Leistungen gewährt werden, wenn der Beamte wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt wird. Der Kl. wurde wegen eines chronischen Leberschadens sowie einer labilen Hypertonie im Jahre 1990 dauernd dienstunfähig und deshalb von seinem Dienstherrn mit Ablauf des 30. 11. 1990 vorzeitig in den Ruhestand versetzt. Nachdem der Bekl. die bevorstehende Versetzung des Kl. in den Ruhestand mitgeteilt worden war, lehnte sie die Gewährung von Rentenleistungen unter Rücktritt vom Versicherungsvertrag ab mit der Begründung, der Kl. habe bei Antragstellung am 7. 1. 1986 seine Anzeigeobliegenheit verletzt. Er habe ärztlich behandelte Gesundheitsstörungen, die schließlich zu seiner Berufsunfähigkeit geführt hätten, trotz darauf gerichteter Fragen im Antragsformular nicht angegeben. Der Kl. sei, wie sich aus von ihr inzwischen eingeholten ärztlichen Stellungnahmen ergebe, schon vor Antragstellung wegen erhöhter Leberwerte wiederholt in ärztlicher Behandlung gewesen; ihm seien auch Leberpräparate verordnet worden.

Das LG hat die Klage abgewiesen, das BerGer. hat ihr stattgegeben. Die Revision der Bekl. führte zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückweisung der Berufung.

8. Leiden oder litten Sie an Krankheiten, Störungen oder Beschwerden: c) der Verdauungsorgane? (z. B. Magen/Darmgeschwüre, Blutungen, Gelbsucht, Leber- und Gallenblasenleiden, Bauchspeicheldrüsenerkrankungen)

Die Auslegung, die im Klammerzusatz beispielhaft aufgeführten Erkrankungen ließen erkennen, dass das Interesse des Versicherers auf nicht unerhebliche Schäden gerichtet sei, berücksichtigt den Gesamtinhalt der Frage nur unvollständig. Sie lässt außer Betracht, dass die erfragten Gesundheitsumstände schon im ersten Teil der Frage - und damit bestimmend für alle Unterfragen - mit „Krankheiten, Störungen oder Beschwerden“ umschrieben worden sind. Erst daran schließt sich die Aufzählung einzelner Organe, Körperteile und Krankheiten an, die ihrerseits wiederum teilweise - wie hier unter lit. c „Verdauungsorgane“ - durch Einzelbeispiele erläutert werden. Die Aufzählung lenkt damit den Blick des Befragten auf bestimmte Bereiche möglicher gesundheitlicher Beeinträchtigung ("Verdauungsorgane“), während die im Klammerzusatz angeführten Beispiele exemplarische Krankheiten in diesem Bereich benennen und damit dem Befragten deutlich machen, welche Teilbereiche von der Frage umfasst sein sollen ("Magen, Darm, Leber, Gallenblase und Bauchspeicheldrüse“). Wenngleich die angeführten Beispiele auch schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen erwähnen, kann das einem aufmerksamen Leser jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass er mit der Frage - wie mit dem Obersatz klargestellt - auch nach anderen Krankheiten, insbesondere aber auch nach Störungen oder Beschwerden gefragt ist, die den einzelnen angesprochenen Bereichen zuzuordnen sind.

Darüber hinaus verdeutlicht die Umschreibung der Gesundheitsbeeinträchtigungen mit „Krankheiten, Störungen oder Beschwerden“, dass nicht nur Krankheiten oder Schäden von erheblichem Gewicht erfragt werden, sondern auch solche, die sich nicht bereits als Schaden oder Krankheit darstellen, sondern nur als Störungen oder Beschwerden zu bezeichnen sind. Denn schon nach gewöhnlichem Sprachgebrauch wird der Befragte unter Störungen oder Beschwerden eine Gesundheitsbeeinträchtigung von (noch) geringerer Intensität verstehen, als dies beim Vorliegen einer Krankheit oder eines Schadens der Fall ist. Die Antragsfrage ist damit für den Befragten erkennbar weit gefasst; er wird mit ihr aufgefordert, auch Störungen und Beschwerden der bei den Verdauungsorganen benannten Teilbereiche anzugeben, unabhängig von deren Schwere oder von dem Stadium, in dem sie sich befinden. Damit wird dem Befragten eine Wertung nicht abverlangt; die erfragte Gesundheitsstörung erfasst vielmehr jede Gesundheitsbeeinträchtigung, die nicht offenkundig belanglos ist oder alsbald vergeht (vgl. Benkel/Hirschberg, Berufsunfähigkeits- und Lebensversicherung, ALB § 6 Rdnr. 4).

b) Der Kl. hat die ihm zu Nr. 8 lit. c der Antragsfragen gestellte Gesundheitsfrage objektiv unrichtig beantwortet, denn er hatte bei ihrer Beantwortung Kenntnis von einer (Gesundheits-) Störung im Bereich der Leber, die in der Frage als Teilbereich der Verdauungsorgane benannt worden ist. Das hat bereits das LG in Würdigung des Ergebnisses der erstinstanzlichen Beweisaufnahme festgestellt. Gegenteilige Feststellungen hat das BerGer. nicht getroffen, sondern auf die landgerichtlichen Feststellungen Bezug genommen. Danach steht fest:

Nach den Angaben der den Kl. vor Antragstellung behandelnden Ärzte hatte der Kl. Kenntnis von einer Störung der „Verdauungsorgane“ im Sinne der Antragsfrage 8 lit. c. Denn nach den Untersuchungen, den dabei schon von Dr. T erhobenen und dem Kl. offengelegten erhöhten Leberwerten und insbesondere den sich jeweils anschließenden Behandlungen mit Medikamenten war dem Kl. bekannt, dass jedenfalls eine „Störung“ der Leber vorlag, die ärztlicher Behandlung bedurfte und sich nicht offenkundig als nur vorübergehende Erscheinung darstellte. Dass der Kl. dies auch erkannt hat, wird insbesondere dadurch nachdrücklich belegt, dass er Mitte 1985 den Zeugen Dr. S selbst zu einer weiteren Untersuchung der Leber aufsuchte und sich von diesem mehrere Monate bis kurz vor Antragstellung behandeln und Medikamente verordnen ließ. Darauf, dass dem Kl. möglicherweise eine Diagnose nicht eröffnet worden ist, kommt es nicht an. Mit der Antragsfrage wird dem Kl. die Angabe einer Diagnose nicht abverlangt. Auch ohne eine solche wusste der Kl., dass ein vom Normalzustand abweichender, behandlungsbedürftiger Befund der Leber vorlag; er hatte also Kenntnis von einer Gesundheitsstörung und damit von einem erfragten Gesundheitsumstand.

Das in erster Instanz eingeholte Sachverständigengutachten steht dem nicht entgegen. Denn es kommt, wie dargelegt, insoweit nicht darauf an, ob schon bei Antragstellung ein schwerer oder irreversibler Leberschaden vorlag. Früher bereits „pathologische“ Leberwerte stellt im übrigen auch der Sachverständige nicht in Frage.

c) Was die Gefahrerheblichkeit der verschwiegenen Gesundheitsumstände anlangt, kommt der Bekl. die Vermutung des § 16 I 3 VVG zugute. Einer Darlegung der für ihre Risikoprüfung maßgeblichen Grundsätze bedurfte es im vorliegenden Falle nicht. Die Gefahrerheblichkeit von langjährig festgestellten und behandlungsbedürftigen erhöhten Leberwerten liegt für die Berufsunfähigkeitsversicherung auf der Hand.

d) Der Kl. hat nicht bewiesen, dass die Nichtanzeige des erfragten Gesundheitsumstandes ohne sein Verschulden unterblieben ist (§ 16 III VVG). Denn er hat nicht ausgeräumt, insoweit zumindest fahrlässig gehandelt zu haben. Bei Beantwortung der Antragsfragen konnte der Kl. bei Anspannung der erforderlichen Sorgfalt (§ 276 I 2 BGB) nicht davon ausgehen, es habe sich nur um eine unerhebliche, nicht erwähnenswerte gesundheitliche Beeinträchtigung gehandelt. Denn er hatte zu jenem Zeitpunkt Kenntnis davon, dass bei ihm schon seit Jahren erhöhte Leberwerte vorlagen, welche die ihn damals behandelnden Ärzte zu fortlaufender Kontrolle und zur Verabreichung von Medikamenten veranlasst hatten. Dauer der Störung und insbesondere die von den Ärzten angenommene Behandlungsbedürftigkeit mussten ihm daher - selbst wenn er unter Schmerzen nicht litt - deutlich vor Augen führen, dass es insoweit nicht lediglich um eine vorübergehende Störung ging. Auch als Laie im medizinischen wie versicherungsrechtlichen Bereich konnte er deshalb nicht guten Gewissens annehmen, dass diese Gesundheitsstörung für die Bekl. im Rahmen des gewünschten Versicherungsschutzes von vornherein bedeutungslos sei. Bei sorgfältiger Prüfung der Antragsfragen konnte der Kl. daher nicht verkennen, dass die bei ihm vorliegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen auf die Frage zu 8 lit. c anzuzeigen waren.

Der Inhalt des in erster Instanz eingeholten Sachverständigengutachtens widerlegt auch sein Verschulden nicht. Denn die mit dem Gutachten vorgenommene nachträgliche ärztliche Bewertung, ob beim Kl. schon vor Antragstellung von einem schweren, irreversiblen Leberschaden auszugehen gewesen sei, stellt sich mit Blick auf den Inhalt der Antragsfrage zu 8 lit. c und die damit vom Kl. erforderten Angaben als unerheblich dar. Sie lässt deshalb auch sein Verschulden an der Nichtanzeige der erfragten Gesundheitsumstände unberührt.

Die Bekl. ist mithin wirksam vom Versicherungsvertrag zurückgetreten.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

1. Das BerGer. vertritt die Ansicht, die Bekl. sei nicht rechtswirksam vom Versicherungsvertrag zurückgetreten.

Selbst wenn erhöhte Leberwerte als gefahrerhebliche, anzeigepflichtige Umstände zu werten sein sollten, komme es hierauf im vorliegenden Falle nicht an. Denn der Kl. habe durch das in erster Instanz eingeholte Sachverständigengutachten bewiesen, dass bei ihm zur Zeit der Antragstellung eine irreversible Leberschädigung nicht vorgelegen habe und dass auch die behandelnden Ärzte von einer erheblichen Schädigung der Leber nicht ausgegangen seien. Somit habe der Kl. annehmen können, dass die bei ihm durchgeführte Leberbehandlung eine Bagatelle, nicht aber eine ernsthaft erwähnenswerte Erkrankung gewesen sei. Der Rücktritt der Bekl. vom Versicherungsvertrag sei daher gem. § 16 III VVG mangels Verschuldens des Kl. an der unterbliebenen Anzeige ausgeschlossen.

2. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das BerGer. beachtet nicht, dass es für die Frage, ob die Anzeige gefahrerheblicher Umstände ohne Verschulden des Kl. unterblieben ist, auf dessen Kenntnis von solchen Umständen im Zeitpunkt der Beantwortung der Antragsfragen ankommt.

a) Das Rücktrittsrecht des Versicherers gem. § 16 II 1 VVG setzt eine Verletzung der Anzeigeobliegenheit nach § 16 I VVG voraus. Nach dieser Vorschrift hat der Versicherungsnehmer bei Schließung des Vertrages „alle ihm bekannten Umstände“, die für die Übernahme der Gefahr erheblich sind, dem Versicherer anzuzeigen. Die Anzeigeobliegenheit setzt also positive Kenntnis des Versicherungsnehmers von solchen Umständen im Zeitraum ihrer Erfüllung - hier bei Antragstellung - voraus (Senat, LM § 16 VVG Nr. 3 = VVGE § 16 VVGENr. 1). Demgemäss ist für eine Verletzung der Anzeigeobliegenheit zunächst maßgeblich, ob der Ast. bei Beantwortung von Antragsfragen von durch den Versicherer erfragten Umständen (§ 16 I 3 VVG) Kenntnis hatte. Solche Kenntnis kann sich für ihn bei erfragten Gesundheitsumständen sowohl unmittelbar aus eigener (körperlicher) Wahrnehmung ergeben, sie kann ihm aber auch durch Angaben der ihn zuvor behandelnden Ärzte vermittelt worden sein. Ist letzteres der Fall, kommt es nicht darauf an, ob solche ärztlichen Angaben, auf die sich die Kenntnis des Ast. von gefahrerheblichen Umständen gründet, sich im nachhinein als objektiv zutreffend erweisen oder nicht. Denn § 16 I VVG knüpft die Obliegenheit zu deren Anzeige allein an die Kenntnis des Ast. bei Beantwortung der Antragsfragen. Hatte er zu diesem Zeitpunkt nach Maßgabe der ihm offenbarten ärztlichen Einschätzungen Kenntnis von gefahrerheblichen Umständen, obliegt es ihm, sie anzuzeigen, während deren Prüfung und Bewertung Sache des Versicherers ist.

b) Demgemäss war für die Frage, ob der Kl. seine Anzeigeobliegenheit verletzt hat, entscheidend, welche Kenntnisse er bei Beantwortung der Antragsfragen über durch die Bekl. erfragte Gesundheitsumstände hatte. Das aber hängt wesentlich davon ab, welche Kenntnisse er durch die zuvor erfolgten ärztlichen Behandlungen und die ihm in diesem Zusammenhang erteilten ärztlichen Erläuterungen über seinen Gesundheitszustand, hier insbesondere über den Befund der Leber, erlangt hat. Das verkennt das BerGer., wenn es bei seinen Erwägungen darauf abhebt, nach dem in erster Instanz eingeholten Sachverständigengutachten sei bewiesen, dass der Kl. zur Zeit der Antragstellung nicht an einer irreversiblen Leberschädigung gelitten habe und dass auch die ihn damals behandelnden Ärzte von einer erheblichen Schädigung nicht ausgegangen seien. Denn das Sachverständigengutachten beschränkt sich auf eine nachträgliche Bewertung der beim Kl. vor Antragstellung ärztlich erhobenen Leberwerte und der darauf veranlassten Behandlung dahin, ob sich daraus eine schwere Lebererkrankung, ein irreversibler Leberschaden entnehmen lässt. Darauf aber kommt es nicht an. Selbst wenn mit dem Gutachten ein solcher Leberschaden zur damaligen Zeit objektiv zu verneinen sein sollte, besagt das nichts darüber, welcher Kenntnisstand dem Kl. zu jener Zeit von den ihn damals behandelnden Ärzten über eine Erkrankung oder Gesundheitsstörung der Leber vermittelt worden ist. Diese Kenntnis aber war für die Beantwortung der Antragsfragen maßgeblich. Erst daran knüpft sich die weitere Frage, ob nach dieser Kenntnis ein gefahrerheblicher Umstand schuldhaft nicht angezeigt worden ist. Schon deshalb entbehrt die vom BerGer. aus dem Gutachten gezogene Folgerung einer tatsächlichen Grundlage, auch der Kl. habe annehmen dürfen, die durchgeführte Leberbehandlung sei eine Bagatelle, nicht aber eine ernsthaft erwähnenswerte Erkrankung gewesen.

c) Die Erwägungen des BerGer. erweisen sich zudem als unvollständig und nicht frei von Widersprüchen. Es unterstellt, dass erhöhte Leberwerte als gefahrerheblicher Umstand zu bewerten seien. Unstreitig aber hatte der Kl. bei Antragstellung Kenntnis von bei ihm zuvor schon mehrfach festgestellten erhöhten Leberwerten. Mit Blick auf die Beantwortung der Antragsfragen kam es deshalb darauf an, ob sich die Fragen der Bekl. auch auf solche Angaben bezogen. War der Kl. aber auch danach gefragt, was das BerGer. offen lässt, bleiben seine Erwägungen zum fehlenden Verschulden an der Nichtanzeige jedenfalls dieser Umstände selbst nach dem Inhalt des Sachverständigengutachtens ohne tatsächlichen Anknüpfungspunkt.

Die aufgezeigten Rechtsfehler führen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils. Da die Sache jedoch zur Endentscheidung reif ist, hat der Senat in der Sache selbst zu entscheiden (§ 565 III ZPO).

3. Der Kl. hat seine Anzeigeobliegenheit bei Beantwortung der Antragsfragen objektiv verletzt, indem er die Frage Nr. 8 lit. c verneint hat.

a) Die insoweit vom BerGer. erhobenen Bedenken gegen die Verständlichkeit der Fragestellung greifen nicht durch.

Rechtsgebiete

Versicherungsrecht