Unterhaltspflicht gegenüber behindertem volljährigen Kind

Gericht

OLG Köln


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

18. 11. 1999


Aktenzeichen

14 UF 55/99


Leitsatz des Gerichts

  1. Eltern schulden einem behinderten Kind auch für die Zeit nach Vollendung des 27. Lebensjahres Unterhalt.

  2. Nach Vollendung des 21. Lebensjahres tritt nach § 91 II 2 BSHG ein Anspruchsübergang auf den Sozialhilfeträger nur ein, wenn die Inanspruchnahme ausnahmsweise keine unbillige Härte bedeutet.

  3. Für diese Beurteilung sind nicht nur die materiellen Verhältnisse der Unterhaltspflichtigen von Bedeutung, sondern auch immaterielle Umstände. So entspricht der Rechtsübergang auch bei sehr guten wirtschaftlichen Verhältnissen, bei denen die volle Inanspruchnahme zu keiner wirtschaftlichen Einschränkung führt, nur zu 4/5 der Billigkeit, wenn sich die Eltern trotz der Heimunterbringung jahrelang und weiterhin intensiv um das volljährige und seit seiner Geburt schwer behinderte Kind kümmern.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Kl. (Landschaftsverband) nimmt den Bekl. (geb. 1930) als Vater seines behinderten Sohnes S (geb. 9. 5. 1969) in Anspruch. Der Bekl. hat zwei weitere gesunde, jetzt ebenfalls volljährige Töchter. S ist seit seiner Geburt schwer geistig behindert, zeigt psychotische Fehlreaktionen und leidet unter Epilepsie. Eine Besserung seines Zustandes ist nicht zu erwarten. Seit seinem achten Lebensjahr ist er in Behinderteneinrichtungen untergebracht. Seit vielen Jahren lebt S für etwa 40 Tage im Jahr, vor allem während der Ferien, in der Familie des Bekl. und wird dort betreut. Seit 30 Jahren ist der Bekl. in der Behindertenhilfe engagiert und hat mehr als 400000 DM für die Behindertenhilfe gespendet. Für seine Tätigkeit ist er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden. Die Kosten der Unterbringung und Betreuung trägt der Kl. als Träger der überörtlichen Sozialhilfe im Rahmen der Eingliederungshilfe nach §§ 39 ff. BSHG. Die Kosten für die Unterbringung und Betreuung haben sich 1994 und 1995 auf ca. 4800-5000 DM monatlich belaufen und für 1996 bis 1998 auf ca. 4700 bis 6000 DM. In der Zeit vom 23. 9. 1994 bis 31. 7. 1998 hat der Kl. danach insgesamt 257184,69 DM für S unter Berücksichtigung der Leistungen der Pflegeversicherung aufgebracht. Ansonsten ist der Sohn des Bekl. einkommens- und vermögenslos. Der Bekl. hat in dieser Zeit 174646 DM an den Kl. für S gezahlt. Den Differenzbetrag von 82538,69 DM hat der Kl. mit der Klage als Rückstand geltend gemacht. Ferner hat er für die Zeit ab 1. 8. 1998 einen monatlichen Betrag von 5400 DM geltend gemacht, auf den laufend monatlich 3700 DM vom Bekl. gezahlt worden sind. Der Kl. hat behauptet, der Bekl. verfüge über ein Vermögen von nahezu 7 Mio. DM und laufende Einkünfte von monatlich ca. 12000 DM. Der Kl. wohnt in einem eigenen Haus, das seit vier bis fünf Jahren lastenfrei ist. Für die Zeit ab 1. 11. 1999 erkennt der Bekl. eine monatliche Leistungspflicht in Höhe von 3700 DM an. Der Kl. hat die Auffassung vertreten, dass der Bekl. angesichts seiner sehr guten Einkommens- und Vermögensverhältnisse die Kosten der Unterbringung in vollem Umfang tragen müsse.

Das AG - FamG - hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Kl. war teilweise erfolgreich.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Der Unterhaltsanspruch des behinderten Sohnes des Bekl. ist nur in Höhe von 4320 DM (4/5 des geltend gemachten Gesamtbedarfs) auf den Kl. übergegangen, eine weiter gehende Inanspruchnahme würde ein unbillige Härte nach § 91 II BSHG bzw. § 91 III BSHG a.F. bedeuten, ein weiter gehender Rechtsübergang (wirksame Rechtsüberleitung) hat daher nicht stattgefunden.

Da der Bekl. von dem auf den Kl. übergegangenen Anspruch einen Teilbetrag von monatlich 3700 DM für die Zeit ab 1. 11. 1999 anerkannt hat, war in Höhe dieses Teilbetrags ein Anerkenntnisurteil zu erlassen. Hinsichtlich des freiwillig gezahlten Teilbetrags von monatlich 3700 DM für die Zeit bis zum 31. 10. 1999 ist die Hauptsache aufgrund der wechselseitigen Erledigungserklärungen erledigt.

Der Bekl. ist seinem behinderten Sohn gem. § 1601 BGB auch nach Vollendung des 27. Lebensjahres unterhaltspflichtig, denn das Zivilrecht sieht eine zeitliche Begrenzung der elterlichen Unterhaltspflicht für Kinder nicht vor. Der Unterhaltsanspruch umfasst auch den behinderungsbedingten Mehrbedarf des Kindes bei Unterbringung in einer Behinderteneinrichtung. Der Bekl. ist zivilrechtlich leistungsfähig, da er den geforderten Unterhalt ohne Beeinträchtigung auch eines erhöhten Selbstbehalts aus seinem laufenden Einkommen, das jedenfalls mit 10000 DM netto monatlich zu bemessen ist, aufbringen kann. Es kann daher dahinstehen, wie hoch das Vermögen genau ist und ob es für die Befriedigung der Unterhaltsansprüche einsatzpflichtig wäre bzw. ob und in welchem Umfang es gegebenenfalls umzuschichten wäre. Auf die Richtlinien der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger, die sich mit der Heranziehung von Vermögen und den Freigrenzen dafür befassen, kommt es daher im Streitfall nicht an.

Gemäß § 91 II 2 BSHG bzw. § 91 III BSHG a.F. (für die Zeit bis zum Inkrafttreten des FKPG am 27. 6. 1993; vgl. Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, 14. Aufl. [1997], § 91 Rdnr. 7) ist der Unterhaltsanspruch auf den Kl. aber auf 4/5 der geltend gemachten Aufwendungen beschränkt, denn im Übrigen würde der Rechtsübergang eine unbillige Härte bedeuten.

Nach § 91 II 2 Halbs. 2 BSHG liegt eine unbillige Härte in der Regel bei unterhaltspflichtigen Eltern vor, soweit einem Behinderten nach Vollendung des 21. Lebensjahrs Eingliederungshilfe für Behinderte oder Hilfe zu Pflege gewährt wird. Hier ist für den gesamten streitigen Zeitraum Eingliederungshilfe nach §§ 39 ff. BSHG geleistet worden. Ein Rechtsübergang findet daher nur insoweit statt, als wegen der guten wirtschaftlichen Verhältnisse der Eltern eine Ausnahme vom Regelfall der Nichtinanspruchnahme anzunehmen ist (Schellhorn/Jirasek/Seipp, § 91 Rdnrn. 90ff.). Bei sehr guten wirtschaftlichen Verhältnissen ist dabei auch nach Vollendung des 27. Lebensjahres des Kindes eine Inanspruchnahme möglich (BVerwG, NJW 1994, 66 = FamRZ 1994, 33, noch zu § 91 III BSHG a.F.). Das gilt, wenn, ausgerichtet am Interesse der Allgemeinheit an einem gerechtfertigten Einsatz öffentlicher Mittel, die Nichtinanspruchnahme der unterhaltspflichtigen Eltern unangemessen und mit dem Anliegen des Sozialhilferechts unvereinbar wäre (BVerwG, NJW 1994, 66 = FamRZ 1994, 33; OLG Koblenz, NJWE-FER 1998, 192; Schellhorn/Jirasek/Seipp, § 91 Rdnrn. 90ff.). Bei dieser Angemessenheitsprüfung ist eine Gesamtabwägung der Umstände des Einzelfalls vorzunehmen (OLG Köln [25. Senat], FamRZ 1997, 53; OLG Oldenburg, FamRZ 1996, 625), bei der unter anderem die Dauer und Höhe der bisherigen Unterhaltsbelastungen, die voraussichtliche weitere Dauer, Höhe des Einkommens des Unterhaltspflichtigen und sein Alter zu berücksichtigen sind. Neben materiellen Härtegründen sind aber auch immaterielle Härtegründe zu berücksichtigen (für die Berücksichtigung immaterieller Gründe ebenfalls Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge Nr. 18, FamRZ 1995, 1327 [1328]). Ein immaterieller Härtegrund kann nicht nur dann gegeben sein, wenn die Heranziehung zu einer nachhaltigen Störung des Familienfriedens führen würde (diesen Faktor erwähnt OLG Köln, FamRZ 1997, 53), sondern auch dann, wenn sich die Unterhaltspflichtigen in besonders nachhaltiger Weise um das behinderte Kind kümmern, so dass eine uneingeschränkte wirtschaftliche Belastung unter Außerachtlassung der persönlichen Betreuung unbillig erscheint. Auch in den Fällen sehr guter Einkommens- und Vermögensverhältnissen, bei denen die Inanspruchnahme nicht zu ins Gewicht fallenden Einschränkungen der wirtschaftlichen Lebensführung führt, ist daher zu berücksichtigen, wie alt Kind und Unterhaltspflichtige sind und ob sich die unterhaltspflichtigen Eltern in besonderer Weise langjährig für die Belange ihres behinderten Kindes eingesetzt haben. Die Berücksichtigung dieser Umstände führt im Streitfall zu einer Begrenzung des Rechtsübergangs auf 4/5 der aufgewendeten Mittel.

Das behinderte Kind hat bereits 1996 das 27. Lebensjahr überschritten, also ein Alter erreicht, in dem auch sehr gut gestellte Eltern nicht behinderter Kinder in aller Regel auch dann keine Unterhaltslast mehr trifft, wenn die Kinder eine Hochschulausbildung absolviert haben (OLG Koblenz, NJWE-FER 1998, 192). Entscheidend ist nach Auffassung des Senats, dass der Unterhaltspflichtige sich ungeachtet der notwendigen Unterbringung laufend intensiv um das behinderte Kind gekümmert hat und es weiterhin etwa 40 Tage im Jahr in seinem Haushalt versorgt. Die damit verbundene - nicht nur finanzielle - Leistung muss bei der Billigkeitsabwägung berücksichtigt werden, anderenfalls würden bei sehr guten wirtschaftlichen Verhältnissen Eltern, die sich um das behinderte Kind kümmern, und solche, die das nicht tun, zu Unrecht gleichbehandelt. Da der Bekl. und seine Familie sich schon jahrelang intensiv um das behinderte Kind gekümmert haben, gilt diese Billigkeitswertung auch für die Zeit vor Vollendung des 27. Lebensjahres.

An Rückständen kann der Kl. daher ebenfalls nur 4/5 der geltend gemachten Gesamtaufwendungen bis zum 31. 10. 1998 verlangen. Unter Berücksichtigung der freiwillig erbrachten Leistungen bis 31. 10. 1998 ergibt dies den titulierten Betrag (26633,48 DM).

Rechtsgebiete

Unterhaltsrecht; Sozialrecht