Ansprüche der Arbeitnehmer auf Leistung der betrieblichen Altersversorgung bei Insolvenz

Gericht

BAG


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

11. 10. 1988


Aktenzeichen

3 AZR 295/87


Leitsatz des Gerichts

  1. Ansprüche und Anwartschaften der Arbeitnehmer auf Leistung der betrieblichen Altersversorgung, die im Falle der Insolvenz des Arbeitgebers einen Anspruch gegen den Träger der Insolvenzsicherung begründen, gehen auf den Pensions-Sicherungs-Verein als Träger der Insolvenzsicherung über (§ 9 II BetrAVG).

  2. Der Pensions-Sicherungs-Verein kann die auf ihn übergangenen Ansprüche im Konkurs des Arbeitsgebers als Konkursforderungen geltend machen.

  3. Diese Konkursforderungen sind unbestimmte Forderungen i. S. des § 69 KO, die mit ihrem Schätzwert geltend zu machen sind (Bestätigung von BAGE 24, 204 = AP § 61 KO Nr. 9).

  4. Bei der Schätzung sind biometrische Erfahrungswerte und der Vorteil der sofortigen Fälligkeit zu berücksichtigen. Der Vorteil der sofortigen Fälligkeit ist durch Abzinsung des Kapitalbetrages auszugleichen.

  5. Ein Abzinsungssatz von 5,5 % ist nicht zu beanstanden. § 6a III EStG, der eine Abzinsung für Pensionsrückstellungen von 6 % vorschreibt, ist nicht entsprechend anwendbar.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Parteien streiten darüber, wie Forderungen auf laufende Renten und Anwartschaften im Konkurs des Arbeitgebers zu berechnen sind. Der Kl. ist der Träger der gesetzlichen Insolvenzsicherung (§ 14 I 1 BetrAVG). Der Bekl. ist Konkursverwalter über das Vermögen der M-GmbH & Co. KG. Das Unternehmen gewährte seinen Mitarbeitern Leistungen der betrieblichen Altersversorgung, teils über eine Unterstützungskasse, teils aufgrund unmittelbarer Versorgungszusagen. Bei Konkurseröffnung bezogen 87 ehemalige Mitarbeiter laufende Renten; für 113 Arbeitnehmer bestanden unverfallbare Versorgungsanwartschaften. Die daraus folgenden Ansprüche und Anwartschaften der Arbeitnehmer sind gem. § 9 II 1 BetrAVG auf den Kl. übergegangen. Er hat sie mit einem Gesamtbetrag von 1249643,97 DM als Konkursforderung nach § 61 I Nr. 6 KO zur Konkurstabelle angemeldet. Bei der Ermittlung des Betrags hat er sich auf ein Gutachten des Versicherungsmathematikers Dr. H gestützt (Richttafeln 1982), in dem ein Rechnungszinsfuß von 5,5 % zugrundegelegt ist. Der Bekl. hält diese Kapitalberechnung für falsch. Er hat sich auf ein Gutachten des Dipl.-Mathematikers B berufen, der für seine Berechnungen die Richttafeln von Heubeck-Fischer aus dem Jahre 1948 angewendet hat und von einem Rechnungszinsfuß von 6 % ausgegangen ist. Dieser Sachverständige ist zu einem Barwert von 1077801,97 DM gelangt. Die Differenz von 171842 DM ist unter den Parteien streitig. Der Kl. hat beantragt, zur Konkurstabelle eine Forderung des Kl. gegen die Gemeinschuldnerin, die Fa. M-GmbH & Co. KG, aus nach § 9 II BetrAVG auf den Kl. übergegangenen Forderungen der Begünstigten aus betrieblicher Altersversorgung in Höhe von 1249643,97 DM festzustellen.

Das ArbG hat die Klage abgewiesen, das LAG hat ihr stattgegeben. Die Revision der Bekl. blieb erfolglos.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

I. Die Parteien streiten nur um die Höhe der Konkursforderung. Die Konkursforderung ist dem Grunde nach nicht bestritten. Gegenstand der Forderung sind die vom Kl. gesicherten Ansprüche auf laufende Renten und aus aufrecht erhaltenen Anwartschaften, die kraft Gesetzes auf ihn übergegangen sind (§ 9 II 1 BetrAVG). Die Forderungen des Kl. sind Forderungen, deren Geldbetrag unbestimmt ist (§ 69 KO). Soweit es um Versorgungsanwartschaften geht, sind Anfangs- und Endtermin der Bezüge ungewiss. Bei den laufenden Renten ist nur der Endtermin ungewiss. Solche unbestimmten Forderungen verwandeln sich im Konkurs in einen sofort fälligen Zahlungsanspruch, dessen Wert nach § 69 KO zu schätzen ist (BAGE 24, 204 (211) = AP § 61 KO Nr. 9 (zu I 5); BAG, AP § 61 KO Nr. 10 (zu 1 c); AP § 240 ZPO Nr. 3 (zu I 1 b); Kuhn-Uhlenbruck, KO, 10. Aufl., § 69 Rdnr. 3c). Auch hierüber besteht zwischen den Parteien kein Streit. Der Streit betrifft allein die Frage, wie der Schätzwert zu ermitteln ist. Hierbei sind biometrische Erfahrungswerte und der Vorteil der sofortigen Fälligkeit zu unterscheiden. Es geht einmal um die Frage, wie man die ungewisse Laufzeit der Renten erfasst und in mathematischen Formeln ausdrückt, und zum anderen darum, wie man den Vorteil der Fälligstellung im Konkurs mit einem angemessenen Abzinsungssatz ausgleicht.

II. Die Schätzung des Kl. auf der Grundlage der Richttafeln von Heubeck aus dem Jahre 1982 mit einem Rechnungszinsfuß von 5,5 % ist nicht zu beanstanden.

1. Der Kl. konnte der Schätzung seiner Forderung die versicherungsmathematischen Richttafeln von 1982 zugrunde legen (Blätter der Deutschen Gesellschaft für Versicherungsmathematik 1982, 493 ff.). Der Bekl. hat seine ursprünglich gegen die biometrischen Annahmen des Sachverständigen erhobenen Einwendungen nicht mehr aufrechterhalten. Der Senat sieht keine Veranlassung, die auf umfangreichen Erhebungen beruhenden Aussagen des Sachverständigen anzuzweifeln. Sie berücksichtigen die Änderungen der Bevölkerungsstruktur in den letzten 40 Jahren und bilden eine geeignete Grundlage für die vom Gläubiger vorzunehmende Schätzung und Umrechnung (Kuhn-Uhlenbruck, § 69 Rdnr. 5; Kilger, KO, 15. Aufl., § 69 Anm. 6).

2. Der Kl. brauchte den so ermittelten Kapitalbetrag nur um 5,5 % abzuzinsen.

a) Durch die vorzeitige Fälligstellung im Konkurs des Versorgungsschuldners erhält der Gläubiger Mittel, auf die er ganz (Anwartschaften) oder teilweise (laufende Renten) nach Maßgabe der Versorgungsordnung erst in Zukunft Anspruch hat. Das ist ein geldwerter Vorteil; mit dem sofort zur Verfügung stehenden Kapital lassen sich Erträge erzielen. Der Vorteil der vorzeitigen Fälligstellung muss in die Schätzung eingehen. Der Barwert muss so bemessen sein, dass sich der Gläubiger die Leistung, die er wegen des Konkurses vom Versorgungsschuldner nicht erhält, anderweit beschaffen kann. Nichts anderes ist gemeint, wenn im Schrifttum die Auffassung vertreten wird, maßgebend sei der gemeine Wert (Kuhn-Uhlenbruck, § 69 Rdnr. 5 m. w. Nachw.).

b) Mit einem Abzinsungssatz von 5,5 % wird der Vorteil der vorzeitigen Fälligstellung im Konkurs des Versorgungsschuldners angemessen erfasst. Dieser Zinsfuß wird seit 1960 unangefochten angewendet, nachdem das Steueränderungsgesetz 1960 den Rechnungszinsfuß für Pensionsrückstellungen von 3,5 % auf 5,5 % erhöht hatte. Zwar handelt es sich hierbei letztlich um einen im Anschluss an die steuerliche Rechtslage "gegriffenen" Wert. Er hat sich aber in jahrzehntelanger Anwendung bewährt und führt erfahrungsgemäß zu Ergebnissen, die den Vorteil des Gläubigers näherungsweise zuverlässig erfassen. Der Bekl. hat nicht dartun können, dass seither durch Änderungen der gesamtwirtschaftlichen Verhältnisse erkennbar fehlerhafte Ergebnisse einträten.

c) ArbG und LAG haben geprüft, ob nach den Renditemöglichkeiten auf dem Kapitalmarkt für langfristige Geldanlagen ein höherer Zinsfuß angesetzt werden kann. In Übereinstimmung mit den Vorinstanzen ist dies nach der gutachtlichen Stellungnahme der Deutschen Bundesbank vom 17. 9. 1985 zu verneinen. Diese hat ausgeführt, angesichts der unterschiedlichen Fälligkeitstermine lasse sich auch auf dem Kapitalmarkt allenfalls eine Näherungslösung ermitteln. Außerdem sei zweifelhaft, ob für weit in die Zukunft reichende Versorgungsverbindlichkeiten genügend lange Anlagemöglichkeiten und ausreichend günstige Wiederanlagemöglichkeiten gefunden werden könnten. Schon zwischen der Entstehung des Anspruchs und seiner Feststellung könnten sich erhebliche Änderungen des Zinsniveaus ergeben. Hieraus ist zu schließen, dass sich der vom Kl. gewählte Zinssatz von 5,5 % nicht deshalb als fehlerhaft erweist, weil sich auf dem Kapitalmarkt auf kürzere Sicht möglicherweise höhere Renditen erzielen lassen. Auf ungewisse oder gar spekulative Kapitalanlagen braucht sich der Gläubiger nicht einzulassen.

3. Die Einwendungen des Bekl. überzeugen nicht.

a) Der Auffassung, der Abzinsungssatz müsse dem gesetzlichen Zinsfuß in § 6a III EStG folgen, kann sich der Senat nicht anschließen. Die steuerrechtliche Behandlung von Pensionsrückstellungen für Direktzusagen lässt keine unmittelbaren Schlüsse darauf zu, welchen Vorteil der Gläubiger durch die Vorfälligkeit von Versorgungsrechten erhält. Die Gesetzesmaterialien zeigen, dass der Gesetzgeber mit der Erhöhung des Rechnungszinsfußes von 5,5 % auf 6 % durch das Zweite Haushaltsstrukturgesetz fiskalische Zwecke verfolgt und sich dabei an der erwarteten wirtschaftlichen Ertragskraft der Unternehmen orientiert hat (vgl. BT-Dr 9/795, S. 41, 66). Auf die Einwendungen des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (BT-Dr 9/985, S. 13) nahm er keine Rücksicht. Den Abzinsungssatz für Aufwendungen an Unterstützungskassen ließ er unverändert bei 5,5 % (Anlage zu § 4d EStG).

b) Die Anwendbarkeit des § 6a III EStG folgt auch nicht aus dem Betriebsrentengesetz. Zwar kann der Träger der Insolvenzsicherung gem. § 8 II BetrAVG in entsprechender Anwendung des § 3 II BetrAVG in begrenztem Umfang Versorgungsanwartschaften abfinden; für die Berechnung des Abfindungsbetrags ist u. a. der bei der jeweiligen Form der betrieblichen Altersversorgung vorgeschriebene Rechnungszinsfuß maßgebend. Jedoch geht es bei der Barwertermittlung im Konkurs des Versorgungsschuldners nicht um die Abfindung einer in der Vergangenheit erdienten Versorgungsanwartschaft, sondern um eine Sicherstellung des Wiederbeschaffungswerts, die zum Teil weit in die Zukunft reichen muss. Die Anwendung der für die steuerliche Behandlung geltenden Zinssätze (§§ 6a III , 4d EStG) würde dem Zweck der Vorteilsausgleichung der vorzeitigen Fälligstellung nicht gerecht. Zutreffend weisen Höfer-Abt (BetrAVG I, 2. Aufl., § 3 Rdnr. 49) darauf hin, dass es ohnehin problematisch erscheint, die Bemessung der Leistungen im Arbeitsverhältnis von steuerrechtlichen Vorschriften abhängig zu machen. Wesentlich näher läge es, von dem gesetzlichen Zinsfuß in Höhe von 4 % oder 5 % auszugehen (§ 246 BGB, § 352 HGB), der gem. den §§ 65 II , 70 KO für betagte Forderungen und wiederkehrende Hebungen auch im Konkursverfahren gilt. Zwar treffen diese Vorschriften nicht unmittelbar auf Rentenansprüche zu, da deren Laufzeit ungewiss ist. Doch könnte diesen Vorschriften ein auch auf § 69 KO anzuwendender allgemeiner Grundsatz zugrunde liegen. Der gesetzliche Zinssatz könnte auch in den Fällen als Abzinsungssatz maßgebend sein, in denen die unbestimmte Forderung und mit ihr der Vorteil der vorzeitigen Fälligkeit zu schätzen sind. Die Frage kann im Streitfall offen bleiben, da der Kl. nur einen Abzinsungssatz von 5,5 % geltend macht. Seine auf dieser Grundlage beruhende Schätzung erscheint jedenfalls nicht fehlerhaft.

Vorinstanzen

LAG Baden-Württemberg, 2 Sa 25/86, 15.10.1986

Rechtsgebiete

Arbeitsrecht