Tragweite des sog. "Gegenseitigkeitsgrundsatzes" gegenüber einem volljährigen Gymnasiasten

Gericht

OLG Schleswig


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

24. 09. 1985


Aktenzeichen

8 UF 106/83


Leitsatz des Gerichts

Zur Tragweite des sog. "Gegenseitigkeitsgrundsatzes" gegenüber einem volljährigen Gymnasiasten: Auch Schüler sind - jedenfalls nach erlangter Volljährigkeit und Loslösung vom Elternhaus - unterhaltsrechtlich gehalten, das selbst gewählte Ausbildungsziel mit hinreichender Zielstrebigkeit anzugehen.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Parteien streiten darum, ob der Bekl. dem Kl. für die Zeit von Januar 1979 bis Juli 1981 rückständigen Unterhalt schuldet.

Der Bekl. und die Mutter des Kl. waren von 1957 bis 1963 miteinander verheiratet. Aus der Ehe ist der Kl., geboren am 16. 10. 1957, hervorgegangen. Er wuchs nach der Scheidung bei der Mutter auf, deren Haushalt er dann einige Zeit nach seiner Volljährigkeit (etwa 1976/1977) noch als Schüler verlassen hat. Für die Zeit von Januar 1979 bis Juli 1981 hat der Bekl. keinen Unterhalt an den Kl. gezahlt, der damals weiterhin die Schule besuchte. Deshalb ist für seinen Unterhalt ausschließlich seine Mutter, die als Sekretärin arbeitet, aufgekommen. Der Kl. selbst hatte in jenem Zeitraum nur durch Gelegenheitsarbeiten einen durchschnittlichen Zuverdienst von ca. 100 DM monatlich. Hingegen erzielte der Bekl. aus seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt und Notar damals ein monatl. Nettoeinkommen von über 6.500 DM.

Mit der Klage hat der Kl. für den Zeitraum von Januar 1979 bis Juli 1981 vom Bekl. als Unterhalt monatlich 600 DM beansprucht, zuzüglich Schulgeld (für den Besuch eines Privatgymnasiums) i. H. von monatlich 300 DM bzw. (ab Februar 1980) 250 DM, insgesamt also (31 Monate) 27.600 DM.

Gegenüber der (erst) im April 1982 eingereichten Klage hat der Bekl. eingewandt, er schulde schon mangels Verzugs keinen Unterhalt für die Vergangenheit. Auch könne der Kl., da er seine Schulzeit übermäßig lange ausgedehnt habe, keinen Unterhalt mehr beanspruchen. Er habe die Schule nur unregelmäßig besucht und sich seinen Hobbys hingegeben; er sei mehrfach sitzengeblieben und habe wiederholt die Schule gewechselt. Deshalb sei es für ihn besser gewesen, sich seinen Lebensunterhalt durch Arbeit selbst zu verdienen.

Demgegenüber hat der Kl. geltend gemacht: Zum einen habe sich der Bekl. mit der Zahlung von Unterhalt in Verzug befunden; er sei auch nach Januar 1979 wiederholt von ihm selbst, seiner Mutter, seiner Großmutter sowie dem Zeugen S.-B., einem Onkel mütterlicherseits, angemahnt worden. Zum anderen habe er - der Kl. - das Abitur deshalb erst so spät erlangt, weil sich seine Entwicklung infolge der Scheidung seiner Eltern erheblich verzögert habe. In der 12. Klasse sei er erkrankt und habe sie wiederholen müssen.

Das FamG hat dem Kl. monatlich nur 300 DM zuerkannt, denn er habe nicht nachgewiesen, dass er den Bekl. darüber hinaus in Verzug gesetzt habe. Andererseits habe dieser ihm aber weiterhin Unterhalt geschuldet, denn die Phase des verzögerten Schulbesuchs sei bereits 1978 abgeschlossen gewesen. Die 12. Klasse habe der Kl. aus Krankheitsgründen wiederholen müssen. In dem hier zu beurteilenden Zeitraum von Januar 1979 bis Juli 1981 habe er insgesamt hinreichend zielstrebig auf das Abitur hingearbeitet.

Mit seiner Berufung erstrebt der Bekl. weiterhin die volle Abweisung der Klage.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Das Rechtsmittel hat Erfolg.

1. Der Bekl. war als Vater grundsätzlich gemäß §§ 1601 ff., 1610 I BGB verpflichtet, auch ab Januar 1979 anteilig neben der Mutter (§ 1606 III S. 1 BGB) dem bereits volljährigen Kl. den angemessenen Unterhalt zu gewähren, denn als Schüler war dieser noch außerstande, sich selbst zu unterhalten (§ 1602 I BGB). Nach § 1610 II BGB umfasst der Unterhalt den gesamten Lebensbedarf einschließlich der Kosten einer angemessenen Vorbildung zu einem Beruf. Demnach kann ein volljähriger Gymnasiast, der - wie der Kl. - nicht mehr im Haushalt eines Elternteils wohnt, grundsätzlich seine beiden erwerbstätigen Eltern anteilig wegen der Kosten seines allgemeinen Lebensbedarfs (einschließlich eines Wohnanteils) wie auch seiner Ausbildung in Anspruch nehmen; für die Bemessung im einzelnen können die entsprechenden BAföG-Sätze (§§ 12 ff. BAföG) einen Anhaltspunkt geben (Unterhaltsrechtliche Leitlinien des SchlHOLG Abschnitt B 5 b: SchlHA 1985, 121, 123 = FamRZ 1985, 886 ff.).

Gegenüber der Klage, soweit ihr das FamG stattgegeben hat, wendet der Bekl. vergeblich ein, der Kl. könne ihn schon deshalb, weil es sich um Unterhalt für die Vergangenheit handele, nicht mehr in Anspruch nehmen. Gemäß § 1613 I BGB gilt das für die Zeit vor Rechtshängigkeit des Unterhaltsanspruchs nur insoweit, als der Unterhaltsverpflichtete nicht bereits in Verzug geraten war. Die insoweit erforderliche Mahnung (§ 284 I BGB) hat jedoch das FamG für die Zeit ab Januar 1979 jedenfalls hinsichtlich eines Betrags von monatlich 300 DM aufgrund der Beweisaufnahme zu Recht angenommen.

Den Bekl. entlastet es - im Verhältnis zum Kl. - an sich auch nicht, dass von jenem Zeitpunkt an die Mutter allein für den Kindesunterhalt aufgekommen ist: sie hat nämlich nicht eine an sich dem Bekl. obliegende Leistung für diesen bewirken und damit dessen Unterhaltsschuld gegenüber dem Kläger tilgen wollen (vgl. § 267 I BGB). Somit ist der Unterhaltsbedarf des Kl., zumal ihm die Mutter insoweit ausdrücklich nur Geld als Darlehen vorgestreckt hat, noch nicht befriedigt. Sein Unterhaltsanspruch gegen den Bekl. ist deshalb auch nicht gemäß § 1607 II S. 2 BGB auf die Mutter übergegangen.

2. Gleichwohl ist die Klage für den hier zu beurteilenden Zeitraum (Januar 1979 bis Juli 1981) nicht begründet, denn insoweit steht dem Kl. für seinen fortwährenden Schulbesuch ein Unterhaltsanspruch gegen den Bekl. nicht mehr zu:

a) Zwar hatte der Kl. damals den mit dem Eintritt in die Studienstufe des Gymnasiums erstrebten Regelabschluss, das Abitur, noch nicht erlangt. Aber der Unterhaltspflichtige schuldet nur die Kosten einer angemessenen Vorbildung zu einem Beruf (§ 1610 II BGB). Darunter ist eine Berufsausbildung zu verstehen, die - unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Eltern (§ 1603 BGB) - der Begabung und den Fähigkeiten, dem Leistungswillen und den beachtenswerten Neigungen des Kindes am besten entspricht (BGHZ 69, 190, 192 = FamRZ 1977, 629 m. Anm. Bosch). Andererseits ist - im Verhältnis zum Unterhaltspflichtigen - ein in der Ausbildung stehender Unterhaltsberechtigter seinerseits gehalten, seine Ausbildung mit dem gehörigen Fleiß und der gebotenen Zielstrebigkeit zu betreiben, damit er sie innerhalb angemessener und üblicher Dauer beenden kann (zuletzt BGH, FamRZ 1984, 777, 778 m. w. N.). Dieser sog. Gegenseitigkeitsgrundsatz hat bislang vorwiegend auf Studenten Anwendung gefunden (OLG Hamm, FamRZ 1981, 493 und 1982, 1099 f.; BGH, a.a.O.); er ist jedoch nicht von vornherein auf sie beschränkt. Auch Schüler sind - jedenfalls nach erlangter Volljährigkeit und Loslösung vom Elternhaus - unterhaltsrechtlich gehalten, das selbst gewählte Ziel mit hinreichender Zielstrebigkeit anzugehen und den Ausbildungsgang einigermaßen entsprechend den jeweils hierfür aufgestellten Plänen zu absolvieren. Wer wegen unzulänglicher Leistungen und ohne hinreichende Entlastungsgründe das staatliche Gymnasium definitiv verlassen muss, kann grundsätzlich nicht vom Unterhaltspflichtigen die Kosten dafür beanspruchen, um noch auf Umwegen, insbesondere durch den Besuch von Privatschulen, das Abitur und damit die Studienreife zu erlangen. Ist das erstrebte Ausbildungsziel zweimal verfehlt worden, ist im allgemeinen von unzureichenden Fähigkeiten oder nicht hinreichendem Leistungswillen auszugehen (vgl. zum Ganzen OLG Hamm, FamRZ 1978, 446 (mittlere Reife) bzw. OLG Düsseldorf, FamRZ 1978, 613 f. (Abitur auf "Zweitem Bildungsweg"); Palandt/Diederichsen, BGB, 44. Aufl., 1985, § 1610 Anm. 4 a cc und ee).

b) Demzufolge war der Anspruch des Kl. gegen den Bekl., ihm als angemessene Vorbildung zu einem Beruf den weiteren Besuch eines Gymnasiums zu ermöglichen, ab 1979 erschöpft. Der Kl. hat nämlich in schulischer Hinsicht wiederholt versagt: er hat nicht nur die 9. Klasse wiederholen müssen (1974/75), sondern dann - nach erlangter Volljährigkeit (im Oktober 1975) - mit sog. Ministergenehmigung auch die 10. Klasse (1976/77); und aus dieser Klasse war er schließlich, um der erneuten Nichtversetzung zuvorzukommen, vorzeitig mit einem sog. Abgangszeugnis ausgeschieden. Bereits damals hätte er den Bekl. für den weiteren Besuch des Gymnasiums nicht länger auf Unterhalt in Anspruch nehmen können. Er hat nämlich keine plausiblen Gründe, die das schulische Versagen ihm nachzusehen erlauben, vorgebracht. Dazu reicht das pauschale Vorbringen, dass sich seine Entwicklung infolge der Scheidung seiner Eltern verzögert und er die Trennung vom Vater nicht verkraftet habe, nicht aus, zumal die Auflösung der Familie bereits 1963 erfolgt war. Vergebliche Bemühungen um eine Lehrstelle hat der Kl. weder substantiiert dargetan, noch können sie - im Verhältnis zum Unterhaltspflichtigen - einen Anspruch auf den weiteren Besuch des Gymnasiums begründen.

c) Es mag zu erwägen sein, ob der Anspruch auf eine gymnasiale Schulbildung dadurch wieder "aufleben" könnte, dass zum einen der Kl. einige Monate später (im August 1977) die Aufnahmeprüfung für die 11. Klasse einer Privatschule bestanden hat und 1978 plangemäß in die 12. Klasse versetzt worden ist, zum anderen aber auch der Bekl. seine Unterhaltszahlungen (wenn auch nur verzögerlich und auf wiederholte Mahnungen hin) fortgesetzt hat. Gleichwohl braucht sich der Bekl. daran jedenfalls nur solange festhalten zu lassen, als der Kl. nunmehr die Schule hinreichend zielstrebig und erfolgreich durchlief. Das traf indes nur bis zum Herbst 1978 zu. Nach einem versuchten Selbstmord blieb er nämlich der Schule bis zum Januar 1979 fern. Nach der Wiederaufnahme eines regelmäßigen Schulbesuchs ab Februar 1979 musste er zudem die 12. Klasse wiederholen und bestand dann erst im Juli 1981 mit 23 Jahren das Abitur.

Hinsichtlich seines erneuten Scheiterns im Schuljahr 1978/79 kann sich der Kl. zu seiner Entlastung nicht mit Erfolg auf den von ihm im Herbst 1978 unternommenen Selbstmordversuch als Erkrankung berufen; denn dazu wurde er, wie seine persönliche Anhörung ergeben hat, außer durch Schwierigkeiten in seiner Wohngemeinschaft und mit seiner Freundin vor allem durch die wieder aufgetretenen schulischen Probleme veranlasst. Dass eine um den Kl. bemühte praktische Ärztin für dessen psychische Entwicklung einem erfolgreichen Schulbesuch eine wesentliche therapeutische Wirkung beigemessen hat, reicht nicht dazu aus, um den weiteren Besuch des Gymnasiums im Verhältnis zum Unterhaltspflichtigen als "ärztlich indiziert" und damit sachlich geboten erachten zu können. Das erneute schulische Versagen brauchte der Bekl. im übrigen auch nicht allein im Hinblick auf seine vergleichsweise guten wirtschaftlichen Verhältnisse (monatl. Nettoeinkommen von über 6.500 DM) hinzunehmen, die für ihn eine Unterhaltsverpflichtung nur gegenüber dem Kl. an sich erheblich erleichterten (zu diesem Gesichtspunkt: OLG Düsseldorf, FamRZ 1981, 702 f.). Es kann dem Kl. auch nicht im nachhinein zur Fortdauer des Unterhaltsanspruchs verhelfen, dass er mit dem Abitur im Juli 1981 die gymnasiale Schulausbildung schließlich erfolgreich abgeschlossen hat: Es kann nämlich nicht vermittels einer nachträglichen Betrachtungsweise darauf abgehoben werden, ob das Ausbildungsziel - letztendlich - doch noch erreicht worden ist. Vielmehr kommt es für die Frage, ob der Unterhaltspflichtige eine bereits unangemessen verzögerte Ausbildung noch weiterhin zu finanzieren hat, darauf an, ob in jenem Zeitpunkt auf seiten des Unterhaltsberechtigten die erforderlichen Fähigkeiten, der gebotene Leistungswille und eine hinreichende Zielstrebigkeit festzustellen sind (zu der gebotenen ex-ante-Betrachtung: vgl. auch OLG Düsseldorf, a.a.O.).

d) Den Betrag von monatlich 300 DM, den das FamG zuerkannt hat, kann der Kl. im übrigen auch nicht unter dem Gesichtspunkt beanspruchen, dass der Bekl. sich jedenfalls an den Kosten einer anderweitigen, noch ausstehenden Vorbildung zu einem Beruf hätte beteiligen müssen. Der Unterhaltspflichtige braucht nämlich nur für eine angemessene Ausbildung, die der Unterhaltsberechtigte tatsächlich ergriffen hat, aufzukommen, nicht hingegen für einen bloß hypothetischen andersartigen Ausbildungsgang (so auch Palandt/Diederichsen, a.a.O., Anm. 4 a cc).

Über die Frage, ob der Bekl. unterhaltsrechtlich dem Kl. gegenüber gehalten ist, sich an den Kosten des nach dem Abitur (Juli 1981) eingeschlagenen Studiums zu beteiligen (wozu er sich in diesem Verfahren erboten hat), braucht hier nicht entschieden zu werden.

Rechtsgebiete

Unterhaltsrecht