Anspruch auf elternunabhängige Förderung

Gericht

OVG Münster


Art der Entscheidung

Beschluss


Datum

14. 02. 1992


Aktenzeichen

16 E 668/91


Leitsatz des Gerichts

  1. Zum Anspruch auf elternunabhängige Förderung eines Auszubildenden gem. § 11 III 1 Nr. 5 BAföG, der zunächst eine betriebliche Ausbildung absolviert hat, anschließend rund ein Jahr im Ausbildungsberuf erwerbstätig war und nach dem Besuch des Kollegs in den Jahren 1987 bis 1989 im Dezember 1989 die Hochschulreife erworben und zum Wintersemester 1990/91 ein Fachhochschulstudium aufgenommen hat, nachdem er zum Sommersemester 1990 nicht zum Studium zugelassen worden war.

  2. Wird Prozesskostenhilfe für eine auf die Gewährung von Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz gerichtete Rechtsverfolgung beantragt, ist in Anlehnung an die obergerichtliche Rechtsprechung der Zivilgerichte eine Prozesskostenvorschusspflicht der Eltern des volljährigen Auszubildenden nicht gegeben, wenn dieser - in der Regel mit dem Abschluss einer Berufsausbildung - eine selbständige Lebensstellung erreicht hat; etwas anderes gilt nur, wenn die Unterhaltsverpflichtung nach Abschluss einer Erstausbildung nicht erfüllt ist, sondern die Eltern ausnahmsweise zur Finanzierung einer weiteren Ausbildung verpflichtet sind (Aufgabe der dem entgegenstehenden Senatsrechtsprechung).

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der 1965 geborene Kl. begehrt Prozesskostenhilfe wegen einer beabsichtigten Rechtsverfolgung auf Bewilligung von Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz für ein zum Wintersemester 1990/91 aufgenommenes Fachhochschulstudium der Sozialarbeit. Zuvor hatte der Kl. nach dem Erwerb der mittleren Reife auf der Realschule eine Ausbildung zum Maschinenschlosser abgeschlossen, war anschließend ein Jahr in diesem Beruf erwerbstätig gewesen und hatte durch den Besuch des Kollegs die Fachhochschulreife erlangt. Das Amt für Ausbildungsförderung lehnte den Förderungsantrag unter Hinweis auf § 11 III 3 BAföG i. d. F. des 12. BAföG-ÄndG vom 22. 5. 1990 und mit der Begründung ab, das anzurechnende Einkommen der Eltern übersteige den gesetzlichen Bedarf und § 11 III 1 Nr. 5 BAföG sei nicht anzuwenden, da der Kl. sein Studium nach dem 1. 7. 1990 aufgenommen habe.

Der Prozesskostenhilfeantrag hatte vor dem OVG Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Der Senat geht aufgrund der gebotenen summarischen Prüfung davon aus, dass die Eltern des Kl. ihre Unterhaltspflicht erfüllt haben und nicht verpflichtet sind, ihm für das Studium der Sozialarbeit noch weiterhin Unterhalt zu leisten, so dass der Kl. grundsätzlich Anspruch auf elternunabhängige Förderung gem. § 11 III 3 Nr. 5 BAföG hat. Dem steht die in § 11 III 3 BAföG getroffene Übergangsregelung nicht ohne weiteres entgegen.

Zwar spricht der Wortlaut des § 11 III 3 BAföG dafür, dass der Kl. nicht gem. § 11 III 1 Nr. 5 BAföG elternunabhängig gefördert werden kann, weil das Fachhochschulstudium gegenüber dem vorangegangenen Kollegbesuch einen (selbständigen) Ausbildungsabschnitt i. S. des § 11 III 3 BAföG darstellt (vgl. § 2 V 2 BAföG), dieser Ausbildungsabschnitt nach dem 1. 7. 1990 begonnen hat und der Kl. nicht wegen der Ableistung eines der in § 66a IV Nrn. 1 bis 4 BAföG genannten Dienste an einer Aufnahme des Studiums vor dem genannten Zeitpunkt gehindert war. Auch kann ein Bürger grundsätzlich nicht darauf vertrauen, dass der Gesetzgeber Sozialleistungen auf alle Zeit unverändert aufrechterhält, da der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz nicht so weit geht, den Begünstigten vor jeder "Enttäuschung" seiner Erwartungen in die Dauerhaftigkeit der Rechtslage zu bewahren (BVerwG, Buchholz 436.36 § 17 BAföG Nr. 11). Allerdings kann im Einzelfall doch ein schutzwürdiges Interesse eines von einer Sozialleistung Begünstigten auf das Bestehenbleiben der Rechtslage anzuerkennen sein, wenn dieses Interesse den öffentlichen Interessen vorgeht (vgl. BVerwG, Buchholz 436.36 § 17 BAföG Nr. 11, unter Hinw. auf die Rspr. des BVerfG). Ein solches ausnahmsweise schutzwürdiges Vertrauen könnte hier anzunehmen sein, wenn man den bisher unwidersprochen gebliebenen Vortrag des Kl. als wahr zugrundelegt.

Danach hat er gegen den Willen seines Vaters seine Stellung als Maschinenschlosser gekündigt und sich zum Besuch des Kollegs mit der Absicht einer anschließenden Studienaufnahme entschlossen, wobei sein Vater von Anfang an jede finanzielle Unterstützung abgelehnt hat. Deshalb hat er sich zum Durchlaufen des Zweiten Bildungsweges nur im Hinblick darauf entschlossen, dass er während des Kollegbesuchs Anspruch auf elternunabhängige Förderung hatte und darauf vertraute, auch während des Studiums entsprechend der bei Beginn und auch noch bei Beendigung des Kollegbesuchs geltenden Rechtslage einen Anspruch auf elternunabhängige Förderung gem. § 11 III 1 Nr. 5 BAföG zu haben. Dass letzteres nach Ansicht des Bekl. nicht der Fall ist, liegt allein daran, dass der Kl. zum Sommersemester 1990 nicht zum Studium der Sozialarbeit zugelassen worden ist, er sein Studium erst zum Wintersemester 1990/91 aufgenommen hat und dass inzwischen mit Wirkung zum 1. 7. 1990 ein Anspruch auf elternunabhängige Förderung für Zweitausbildungen beseitigt worden war, auch wenn die Eltern nicht zur Finanzierung dieser Zweitausbildung kraft bürgerlichen Unterhaltsrechts verpflichtet sind. Geht man davon aus, dass dem Kl. keine anderweitigen Mittel zur Finanzierung seines Studiums zur Verfügung stehen, und berücksichtigt man weiter, dass er das Kolleg nur im Hinblick auf ein anschließendes Studium besucht haben dürfte und während der Zeit des Kollegbesuchs drei Jahre lang keinen Verdienst erzielen konnte, erscheint es nicht von vornherein ausgeschlossen, in förderungsrechtlicher Hinsicht folgendes in Betracht zu ziehen: Entweder ist unter den besonderen Umständen des Einzelfalls in erweiternder verfassungskonformer Auslegung der Begriff des "Ausbildungsabschnitts" in § 11 III 3 BAföG dahin auszulegen, dass der Ausbildungsabschnitt bereits mit dem Besuch des Kollegs begonnen hat, weil dieser allein dazu gedient haben dürfte, die Hochschulreife zu erwerben, die den Kl. wiederum zur Studienaufnahme berechtigte (vgl. in diesem Zusammenhang die in förderungsrechtlicher Hinsicht den "Zweiten Bildungsweg" privilegierenden Regelungen der §§ 7 II I Nr. 4, 10 III 2 Nr. 1 BAföG). Oder denkbar ist auch eine Gesetzesauslegung dahin, dass der Ausbildungsabschnitt "Studium" bereits im Sommersemester 1990 und damit vor dem Stichtag des 1. 7. 1990 begonnen hat, weil der Kl. bereits zu diesem Semester die Zulassung zum Studium beantragt hatte und lediglich aus hochschulzulassungsrechtlichen Gründen der Studienbeginn erst zum Wintersemester 1990/91 erfolgen konnte.

Kann im Wege einer verfassungskonformen Auslegung ein Anspruch des Kl. nicht bejaht werden, ist zu prüfen, ob der Ausschluss des Kl. von einer elternunabhängigen Förderung durch § 11 III 1 Nr. 5 i. V. mit S. 3 BAföG wegen Verstoßes gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes unter dem Gesichtspunkt einer fehlenden Übergangsgerechtigkeit verfassungswidrig ist.

Besteht bereits aber nach den vorstehenden Ausführungen eine hinreichende Erfolgsaussicht, bedarf es nicht einer näheren Prüfung, ob die Neuregelung der elternunabhängigen Förderung durch das 12. BAföG-ÄndG (§§ 11 III 3, 36 I 2 u. 3 BAföG-ÄndGrstoßes gegen das Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 I GG verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegt, weil Kinder wohlhabender, jedoch nicht unterhaltsverpflichteter und auch nicht freiwillig leistungsbereiter Eltern aus wirtschaftlichen Gründen eine Zweitausbildung nicht durchführen können, während dies Kindern einkommensschwächerer Eltern aufgrund der Regelung des § 11 III 1 Nr. 5 BAföG ohne weiteres möglich ist (vgl. dazu VG Minden, Vorlagebeschl. v. 26. 9. 1991 - 9 K 1883/91, beim BVerfG anhängig unter dem Az. 1 BvL 21/91; Ramsauer-Stallbaum, BAföG, 3. Aufl., § 11 Rdnr. 38).

Der Kl. ist nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen auch nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung aufzubringen (§ 166 VwGO i. V. mit § 114 S. 1 ZPO). Er kann insoweit nicht auf eine Prozesskostenvorschusspflicht seiner Eltern verwiesen werden, da eine entsprechende Verpflichtung ungeachtet einer angesichts eines monatlichen Nettoverdienstes des Vaters von über 3800 DM wohl anzunehmenden Leistungsfähigkeit nicht besteht. Denn der volljährige Kl. dürfte durch den Erwerb des berufsqualifizierenden Abschlusses als Maschinenschlosser, jedenfalls aber aufgrund der anschließenden rund einjährigen Tätigkeit in diesem Ausbildungsberuf, eine selbständige Lebensstellung erreicht haben und seine Eltern dürften nicht zur Finanzierung seiner Zweitausbildung in Form des Kollegbesuchs und des nunmehr betriebenen Fachhochschulstudiums verpflichtet sein.

Die neuere veröffentlichte Rechtsprechung der OLG verneint unabhängig davon, ob die Prozesskostenvorschusspflicht der Eltern aus dem allgemeinen Unterhaltsanspruch nach § 1610 II BGB oder aus der entsprechenden Anwendung des § 1360a IV BGB hergeleitet wird, eine solche Verpflichtung gegenüber volljährigen Kindern, wenn diese durch Abschluss einer Ausbildung eine selbständige, von den Eltern nicht mehr abhängige Lebensstellung erreicht haben (OLG Frankfurt, FamRZ 1985, 959; 1986, 926; OLG Düsseldorf, FamRZ 1986, 698; 1990, 420; OLG Karlsruhe, FamRZ 1989, 534; 1991, 1471; OLG Hamburg, FamRZ 1990, 1141; OLG Köln, FamRZ 1986, 1031 mit der hier nicht einschlägigen Einschränkung, dass die Eltern "in sehr günstigen Einkommens- und Vermögensverhältnissen leben"; noch weitergehend unter Annahme des generellen Ausschlusses einer Prozesskostenvorschusspflicht gegenüber volljährigen Kindern OLG Stuttgart, FamRZ 1988, 758). Dieser Rechtsprechung der für die Entscheidung unterhaltsrechtlicher Streitigkeiten zuständigen Gerichtsbarkeit schließt sich der Senat zur Wahrung der Rechtseinheitlichkeit und im Interesse der Rechtssicherheit an und gibt seine langjährige entgegenstehende Rechtsprechung (vgl. z. B. Beschl. v. 9. 10. 1984 - 16 B 1581/84) auf, wonach trotz der fehlenden Verpflichtung zur Finanzierung einer weiteren Ausbildung grundsätzlich eine aus dem allgemeinen Unterhaltsanspruch hergeleitete Prozesskostenvorschusspflicht angenommen wurde.

Rechtsgebiete

Sozialrecht; Verwaltungsrecht

Normen

BAföG § 11 III; BGB §§ 1360a, 1610; VwGO § 166; ZPO § 114