Sorgfaltspflicht des Kraftfahrers bei innerörtlichem kurzen Anhalten

Gericht

BGH


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

07. 01. 1986


Aktenzeichen

VI ZR 198/84


Leitsatz des Gerichts

Zu den Anforderungen, die an die Sorgfaltspflicht eines Kraftfahrers zu stellen sind, der unter ungünstigen Witterungs- und Verkehrsbedingungen (hier: Schneetreiben und Schneematsch auf einer ansteigenden Straße) innerorts am Straßenrand anhält, um einen Mitfahrer aussteigen zu lassen.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Am 8. 12. 1981 gegen 7.30 Uhr hielt der Erstbekl. mit seinem bei der Zweitbekl. haftpflichtversicherten LKW auf der Bundesstraße 14 innerhalb der Ortschaft G. an, um seine Mutter aussteigen zu lassen. Kurz nach dem Anhalten fuhr der damals 17jährige Kl. mit seinem Mokick von hinten auf den LKW auf. Er erlitt eine Gehirnerschütterung und eine Wirbelsäulenfraktur, die zu einer Querschnittslähmung führte.

Der Kl. hat dem Erstbekl. (im folgenden: der Bekl.) vorgeworfen, er sei trotz der zur Unfallzeit noch herrschenden Dämmerung und trotz Schneetreibens ohne Licht gefahren und habe plötzlich ohne Vorankündigung mitten auf der rechten Fahrbahnhälfte angehalten. Mit der Klage verlangt der Kl. die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes und die Feststellung, dass die Bekl. ihm die Hälfte seines Unfallschadens ersetzen müssen.

Das LG hat festgestellt, dass die Bekl. dem Kl. 1/3 seines materiellen Schadens zu ersetzen haben; die weitergehende Klage hat es abgewiesen. Auf die Berufung beider Parteien hat das BerGer. dem Kl. ein Schmerzensgeld von 80000 DM zugesprochen und die Feststellung getroffen, dass die Bekl. dem Kl. 1/4 seines weiteren Schadens ersetzen müssen. Auf die Revision der Bekl. wurde der Schmerzensgeldantrag abgewiesen. Im übrigen (materieller Schaden) blieb es bei der vom BerGer. getroffenen Schadensverteilung.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

I. Das BerGer. ist - abweichend vom LG - zu dem Ergebnis gelangt, dass den Bekl. ein Verschulden an dem Unfall trifft. Es legt ihm einen schuldhaften Verstoß gegen § 1 II StVO zur Last, weil er wegen einer besonders gefährlichen Verkehrslage an der Unfallstelle gar nicht hätte anhalten dürfen. Außerdem hätte er den nachfolgenden Verkehr durch wiederholtes Betätigen der Fußbremse deutlicher auf sein unmittelbar bevorstehendes Anhalten aufmerksam machen und während des Anhaltens die Warnblinkanlage einschalten müssen. Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

1. Das BerGer. geht zutreffend davon aus, dass im vorliegenden Fall keines der in § 12 I StVO normierten Halteverbote eingreift. In besonders gelagerten Fällen kann allerdings ein Halten oder Parken auch dann, wenn es durch keine der Einzelvorschriften des § 12 StVO verboten wird, nach § 1 II StVO unzulässig sein, weil es andere gefährdet oder mehr als unvermeidbar behindert (BayObLG, VRS 59, 219 (220); 64, 380 (381); OLG Stuttgart, VersR 1974, 1133; OLG Köln, VRS 60, 467; Full-Möhl-Rüth, StraßenverkehrsR, § 12 Full-Möhl-Rüth es sich aber um eine wirkliche Ausnahmesituation handeln. Grundsätzlich muss der fließende Verkehr die Behinderungen hinnehmen, die von einem Halten oder Parken ausgehen, das nach der ins einzelne gehenden Regelung des § 12 I und II StVO nicht unzulässig ist. Wer sein Fahrzeug dort abstellt, wo es weder durch allgemeine Verkehrsregeln noch durch das Aufstellen von Verkehrszeichen verboten ist, kann in der Regel davon ausgehen, dass damit von ihm geschaffene Behinderungen vom Fahrverkehr als unvermeidbar hinzunehmen sind (so mit Recht BayObLG, VRS 64, 380 (381)). Etwas anderes gilt nur, wenn im Einzelfall besondere Umstände die Prüfung nahe legen, ob durch das Halten auf der Fahrbahn der fließende Verkehr nicht in unzumutbarer Weise behindert wird.

Das BerGer. überspannt die an einen Kraftfahrer zu stellenden Anforderungen, wenn es dem Bekl. in der hier gegebenen Situation ein kurzes Anhalten verwehren will. Das BerGer. hat nicht festzustellen vermocht, dass der - beleuchtete - LKW auf der langen geraden Strecke als Hindernis zu spät zu erkennen gewesen sei. Es hat die Gefährdung des nachfolgenden und des entgegenkommenden Verkehrs vielmehr darin gesehen, dass nachfolgende Verkehrsteilnehmer nur unter Benutzung der Gegenfahrbahn an dem ca. 170 m vor der Kuppe stehenden LKW vorbeifahren konnten. Dies sei wegen der Dämmerung, des Schneetreibens und des auf der Straße liegenden Schneematsches auf der ansteigenden Straße nur unter erschwerten Bedingungen möglich gewesen. Das allein vermag es aber noch nicht zu rechtfertigen, dem Bekl. ein nach § 12 I StVO an sich erlaubtes kurzes Anhalten zu verbieten. Das BerGer. hat zu wenig berücksichtigt, dass zur Unfallzeit nur geringer Verkehr herrschte, die dem Kl. mit ihrem Schulbus nachfahrende Zeugin H ohne Behinderung durch Gegenverkehr an dem haltenden LKW vorbeifahren konnte und der Bekl. nur für einen kurzen Moment angehalten hat, um seine Mutter aussteigen zu lassen. Wie die Revision mit Recht rügt, fehlt es an jedem Anhaltspunkt dafür, dass der Bekl. wusste, er könne einige hundert Meter weiter hinter der Kuppe in einer seitlichen Einbuchtung anhalten. Die unstreitige Ortskenntnis des Bekl. besagt noch nichts darüber, dass ihm auch bekannt war, dass dort im Gegensatz zur Unfallstelle keine Schneehaufen am Fahrbahnrand lagen.

Zudem hat sich die Gefahr, deretwegen das BerGer. ein Anhalten des Bekl. an der Unfallstelle als unzulässig angesehen hat, nicht verwirklicht. Der Kl. ist nicht zur Benutzung der Gegenfahrbahn gezwungen worden und musste auch nicht auf der glatten, ansteigenden Straße anhalten und wieder anfahren. Zu dem Unfall ist es vielmehr nur gekommen, weil der Kl. zu spät auf das Anhalten des LKW reagiert hat. Selbst wenn das darauf mitberuht haben würde, dass der Kl. damit gerechnet hat, der LKW werde wegen der Straßenverhältnisse nicht vor der Kuppe halten, so wird unter den gegebenen Umständen damit allein der innere Zusammenhang des Auffahrunfalls mit den vom BerGer. hervorgehobenen Gefahren, die im maßgeblichen Zeitpunkt nur theoretische waren, nicht hergestellt.

2. Der Bekl. war entgegen der Auffassung des BerGer. nicht verpflichtet, seine Anhalteabsicht deutlicher als geschehen anzukündigen. Die ausdrückliche Regelung des § 11 I 1 StVO 1937, dass, wer halten will, dies anderen Verkehrsteilnehmern rechtzeitig und deutlich anzuzeigen hat, ist von der Straßenverkehrsordnung 1970 nicht übernommen worden. Sie erschien dem Gesetzgeber offenbar angesichts der Generalklausel des § 1 StVO entbehrlich; zudem zeigen die nach § 53 II StVZO vorgeschriebenen Bremsleuchten in der Regel das Anhalten deutlich genug an. Auch hier kann es allerdings im Einzelfall nach § 1 I StVO geboten sein, die Absicht des Anhaltens deutlicher anzukündigen. Wenn man beispielsweise auf einer Schnellstraße für den nachfolgenden Verkehr unerwartet sein Fahrzeug bis zum Halten abbremsen will, ist es geboten, durch wiederholtes Loslassen der Bremse und das dadurch bedingte wiederholte Aufleuchten der Bremslichter die nachfolgenden Verkehrsteilnehmer zu warnen (vgl. Senat, VersR 1972, 1071).

So lag der Fall hier aber nicht. Der Bekl. ist während der letzten 350 m nur noch maximal 22 km/h gefahren. Er hat zwar nach den Feststellungen des BerGer. den LKW auf der ansteigenden Straße allmählich ausrollen lassen. Die somit fehlende Betätigung der Bremslichter hat der Bekl. aber dadurch ausgeglichen, dass er bereits mehrere hundert Meter vor seinem Anhalten den rechten Blinker betätigt hat. Da nach den örtlichen Gegebenheiten ein Abbiegen nach rechts nicht in Betracht kam, war die Betätigung des rechten Blinkers in Verbindung mit der auffallend langsamen Fahrweise eine ausreichende Warnung des nachfolgenden Verkehrs vor dem bevorstehenden Anhalten des LKW. Wenn der Kl. auch nur einigermaßen aufmerksam gewesen wäre, hätte ihm dies nicht entgehen können.

Zu einer deutlicheren Ankündigung seines bevorstehenden Anhaltens war der Bekl. nach dem festgestellten Sachverhalt nicht verpflichtet. Das BerGer. hat nicht festzustellen vermocht, dass der Kl. entsprechend seiner Darstellung vor dem Unfall mit einem Abstand von 20-25 m hinter dem LKW hergefahren ist. Nur wenn dies feststünde und der Bekl. diese Fahrweise des Kl. hätte erkennen können, wäre von ihm zu verlangen, dass er unmittelbar vor dem endgültigen Anhalten den Kl. durch ein kurzes Antippen der Bremse zusätzlich warnte, nachdem er bereits eine ganze Weile mit eingeschaltetem rechten Blinker gefahren war. Hier ist indes nach dem unwiderlegten Vortrag des Bekl. davon auszugehen, dass sein LKW bereits eine beachtliche Zeit - der Bekl. spricht sogar von einer Minute - gestanden hat, bevor der Kl. aufgefahren ist. Danach war er im Augenblick des Anhaltens des LKW noch so weit von diesem entfernt, dass der Bekl. ihn auf seine Anhalteabsicht nicht besonders hinweisen musste.

3. Der Bekl. war schließlich - jedenfalls dem Kl. gegenüber - auch nicht verpflichtet, die Warnblinkanlage einzuschalten. § 15 S. 1 StVO schreibt das Einschalten der Warnblinkanlage nur für liegengebliebene Fahrzeuge vor. Ob auch an haltenden Fahrzeugen die Warnblinkanlage zu betätigen ist, richtet sich wiederum nach § 1 II StVO (vgl. OLG Celle, VM 1972, 68; Full-Möhl-Rüth, § 15). Wie die Vorschrift des § 15 StVO zeigt, dient das Warnblinklicht der Warnung des fließenden Verkehrs vor einem bereits stehenden Fahrzeug, das nicht rechtzeitig als stehendes Hindernis erkannt werden kann. Der Kl. ist nicht auf ein stehendes Hindernis zugefahren, er ist vielmehr im fließenden Verkehr dem LKW des Bekl. gefolgt. Deshalb musste er allenfalls auf die Anhalteabsicht des Bekl. aufmerksam gemacht werden. Er gehörte aber nicht zum Kreis derer, die gegebenenfalls durch ein Warnblinklicht vor einem stehenden Hindernis gewarnt werden mussten. Schon aus diesem Grund kann er aus einem unterbliebenen Einschalten der Warnblinkanlage keine Rechte herleiten.

Da dem Bekl. kein Schuldvorwurf zu machen ist, entfällt ein Schmerzensgeldanspruch des Kl. Auch der Feststellungsantrag ist bezüglich des immateriellen Schadens unbegründet. Hinsichtlich des immateriellen Schadens ist somit das landgerichtliche Urteil wiederherzustellen.

II. Bezüglich des materiellen Schadens hat die Abwägung des BerGer., wonach die Bekl. zu 1/4 haften, im Ergebnis Bestand.

Der Unfall war für den Bekl. kein unabwendbares Ereignis. Bei Anwendung der nach § 7 II StVO erforderlichen äußersten Sorgfalt hätte er den Kl. noch deutlicher auf seine Anhalteabsicht hinweisen müssen. Ein besonders sorgfältiger Fahrer hätte in Rechnung gestellt, dass ein Zweiradfahrer hinter ihm fuhr, dessen Aufmerksamkeit durch die schwierigen Straßen- und Witterungsverhältnisse abgelenkt sein konnte und der deshalb vorsichtshalber besonders nachdrücklich auf den Anhaltevorgang aufmerksam zu machen war. Wenn der Bekl. schon vorher ein- oder zweimal leicht auf die Bremse getreten hätte, wäre das für den Kl. eine deutlichere Anzeige des bevorstehenden Anhaltens gewesen.

Trotz der groben Unaufmerksamkeit des Kl. ist es nicht geboten, die Haftung für die erhebliche Betriebsgefahr des LKW völlig zurücktreten zu lassen. Sie ist jedoch mit 1/4 ausreichend berücksichtigt.

Rechtsgebiete

Straßenverkehrs- und Straßenrecht