Erwerbsobliegenheit des volljährigen Kindes
Gericht
OLG Köln
Art der Entscheidung
Beschluss
Datum
23. 01. 1986
Aktenzeichen
4 WF 11/86
Einem volljährigen Kind, das nach Abschluss der Berufsausbildung keine Stelle im erlernten Beruf findet oder eine solche verliert, ist im Verhältnis zu seinen Eltern nach längerer Arbeitslosigkeit jedwede Arbeit zumutbar.
Die Anspruchsvoraussetzung der Bedürftigkeit ist nur dann erfüllt, wenn der Berechtigte nachweist, dass er eine nach diesem Maßstab zumutbare Arbeit trotz intensiver Bemühungen nicht finden kann.
Auszüge aus den Gründen:
I.
Die Antragstellerin [ASt.] ist die i. J. 1955 geborene Tochter des Antragsgegners [AGg.]. Sie hat eine abgeschlossene Berufsausbildung als Erzieherin. Von September 1983 bis August 1984 arbeitete sie als Bürohilfe. Nach der Kündigung dieses Arbeitsverhältnisses bezog sie für 4 Monate Arbeitslosengeld und sodann Arbeitslosenhilfe und ergänzend Sozialhilfe.
Der AGg. ist Rentner und bezieht Renten i. H. von etwa 4 000 DM monatlich.
Die ASt. begehrt mit Gesuch v. 6. 11. 1985 Prozesskostenhilfe [PKH] für monatl. Unterhaltsleistungen i. H. von 910 DM ab Oktober 1985.
Sie hat behauptet, sich seit Beginn der Arbeitslosigkeit intensiv und regelmäßig um eine neue Anstellung bemüht zu haben. Dem AmtsG hat sie zur Glaubhaftmachung eine Aufstellung über Zeitungsannoncen, die sie verfolgt oder auf die sie sich beworben hat, vorgelegt. Die Aufstellung umfasst 19 Stellenausschreibungen für die Zeit vom 16. bis 23. 10. 1985, die sich bis auf zwei Ausnahmen auf Arbeit als Kinderbetreuerin beziehen.
Das AmtsG hat das PKH-Gesuch zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, dass der volljährigen ASt. auch zumutbar sei, berufsfremde Tätigkeiten unterhalb der gewohnten Lebensstellung anzunehmen. Die ASt. habe aber nicht glaubhaft gemacht, dass sie sich seit Beginn der Arbeitslosigkeit intensiv um eine nach diesen Maßstäben zumutbare Stelle bemüht habe. Der Nachweis von Bemühungen in der letzten Woche vor Einreichung des PKH-Gesuchs reiche dazu nicht aus.
Mit der Beschwerde macht die ASt. geltend, ihr sei nicht zuzumuten, Arbeiten unterhalb ihres sozialen Status als Erzieherin anzunehmen. Sie habe sich auch vor Oktober 1985 um Arbeit bemüht, sich aus Unkenntnis über die Notwendigkeit eines Nachweises darüber aber keine Aufzeichnungen gemacht. Auf frühere Versäumnisse komme es jedenfalls deshalb nicht an, weil sie erst Unterhalt ab Oktober 1985 verlange. Die amtsgerichtliche Entscheidung führe letztlich zu einer Verwirkung des Unterhaltsanspruchs, ohne dass die gesetzlichen Voraussetzungen nach § 1611 BGB dafür erfüllt seien. Im Beschwerdeverfahren hat sie eine weitere Aufstellung über Arbeitsbemühungen im Erziehungsbereich für die Zeit ab Anfang November 1985 vorgelegt.
II.
1. Die zulässige Beschwerde (§ 127 II S. 1 ZPO) ist unbegründet, da die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat.
Die ASt. ist nach §§ 1601 ff. BGB als volljährige Tochter des AGg. nur unterhaltsberechtigt, wenn sie außerstande ist, sich selbst zu unterhalten (§ 1602 I BGB). Das Maß des dann zu gewährenden Unterhalts richtet sich nach ihrer Lebensstellung (§ 1610 I BGB). Der Unterhalt volljähriger Kinder ist nicht auf den Ausbildungsunterhalt beschränkt (eingehend BSG, FamRZ 1985, 1251 [1252], gegen Palandt/Diederichsen, BGB, 45. Aufl., § 1610 Anm. 2, § 1602 Anm. 2 e).
Ein (vermögensloses) volljähriges Kind ist aber nur dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn ihm die Aufnahme einer den Bedarf deckenden Erwerbstätigkeit nicht möglich oder zumutbar ist. Nach Abschluss der Ausbildung (§ 1610 II BGB) geht das Gesetz dabei von der Eigenverantwortlichkeit des Volljährigen aus (BGH, FamRZ 1985, 273 [274]; 1245). Das volljährige Kind teilt dann nicht mehr die Lebensstellung der Eltern, sondern hat eine eigene Lebensstellung, die keine statische Größe in Anknüpfung an das bei Abschluss der Ausbildung erreichte Niveau ist, sondern eine dynamische Größe, die davon abhängt, in welcher Weise und welchem Umfang es der Volljährige versteht, die Ausbildung zur Erreichung und Aufrechterhaltung eines bestimmten wirtschaftlichen Niveaus zu nutzen. Auch wenn der Beruf schon einige Zeit ausgeübt worden ist, diese Stellung dann aber verloren geht, kann sich die Lebensstellung wieder verschlechtern (vgl. auch Palandt/Diederichsen, a.a.O., § 1610 Anm. 2).
Wer nach Abschluss einer qualifizierten Ausbildung keinen entsprechenden Arbeitsplatz findet oder nach Auslaufen der sozialen Sicherung durch Arbeitslosengeld nach Verlust des qualifizierten Arbeitsplatzes keinen neuen findet, kann daher im Verhältnis zu den Eltern auch nur Unterhalt nach dem Maß der einfacheren Lebensstellung verlangen.
Daraus folgt weiter, dass das volljährige Kind sich auch hinsichtlich der Zumutbarkeit einer Erwerbstätigkeit nicht im Verhältnis zu seinen Eltern darauf berufen kann, nur Arbeiten auf dem Ausbildungs- oder bisherigen Berufsniveau seien zumutbar.
Anders als das Ehegattenunterhaltsrecht (§ 1574 II BGB) kennt das Verwandtenunterhaltsrecht keine Einschränkung der Erwerbsobliegenheit auf eine nach den bisherigen (ehelichen) Lebensverhältnissen angemessene Tätigkeit. Das volljährige Kind muss daher im Grundsatz jedenfalls dann jedwede Arbeit annehmen, wenn es im Ausbildungs- oder früher ausgeübten Beruf längere Zeit keine Stelle finden konnte (BSG, FamRZ 1985, 1251; OLG Köln, FamRZ 1983, 942; OLG Zweibrücken, FamRZ 1984, 1250; a. A.: Soergel/Lange, BGB, 11. Aufl., § 1602 Anm. 4, der ohne nähere Begründung § 1574 II BGB auch für den Verwandtenunterhalt anwendet).
Ob für kürzere Zeiten nach Abschluss der Ausbildung oder Verlust des Arbeitsplatzes etwas anderes gilt (z. B. wenn die Übernahme einer nicht qualifizierten Arbeit bei der Suche nach einer neuen Stelle hinderlich ist), kann hier dahinstehen.
Es war und ist der ASt. daher zumutbar, Arbeiten außerhalb des Erziehungsbereichs, auch einfache Reinigungs- oder andere Hilfsarbeiten, zu übernehmen. Andere Gründe für die Unzumutbarkeit der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit (Kinderbetreuung, gesundheitliche Gründe) scheiden hier aus.
2. Nach diesem Maßstab hat sich die ASt. schon nach ihrem eigenen Vorbringen nicht genug um eine bedarfsdeckende Erwerbstätigkeit bemüht.
Zur Glaubhaftmachung der Bedürftigkeit gehört, dass der Berechtigte erfolglose intensive Arbeitsbemühungen in bezug auf alle ihm zumutbaren Arbeiten im einzelnen belegt. Geschieht das nicht, ist eine Anspruchsvoraussetzung des Unterhaltsanspruchs nicht glaubhaft gemacht.
Die Versagung des Unterhaltsanspruchs wegen mangelnder Darlegung und Glaubhaftmachung (Beweis) der Bedürftigkeit als Anspruchsvoraussetzung muss von einer "Verwirkung" des Unterhaltsanspruchs nach § 1611 BGB klar unterschieden werden. Entgegen der Auffassung der ASt. setzt eine Anwendung von § 1611 BGB zunächst voraus, dass eine Bedürftigkeit im unterhaltsrechtlichen Sinne überhaupt zu bejahen ist und lässt in Fällen des Eintritts der Bedürftigkeit durch sittliches Verschulden (o. ä. Sachverhalte) dann trotzdem die Unterhaltsverpflichtung entfallen.
Die Frage nach der Anwendbarkeit des § 1611 BGB könnte sich somit erst dann stellen, wenn die ASt. zwar früher zureichende Arbeitsbemühungen unterlassen hätte, nun aber dartun könnte, dass sie trotz aller Anstrengungen, z. B. wegen verschlechterter Arbeitsmarktlage, jetzt keine Arbeit mehr finden kann. Ob in diesen Fällen die frühere Obliegenheitsverletzung auch im Verwandtenunterhaltsrecht zum dauernden Anspruchsverlust führen kann (so für das Ehegattenunterhaltsrecht jetzt OLG Oldenburg, FamRZ 1986, 64 = NJW 1986, 199) oder welche Grenzen den Verwirkungsfolgen früherer schuldhafter Versäumnisse zu setzen sind (vgl. dazu Kalthoener/Büttner, Die Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts, 3. Aufl., Rz. 348 f.), kann hier unentschieden bleiben, denn die ASt. hat nicht einmal dargetan, dass sie nicht auch heute bei ausreichenden Bemühungen nach diesen Maßstäben zumutbare Arbeit finden könnte.
Sie kann sich auch nicht darauf berufen, bisher nicht gewusst zu haben, dass sie auch zu Arbeiten unterhalb des Niveaus ihrer bisherigen Tätigkeit verpflichtet war, denn insoweit handelt es sich nicht um Verschuldensfragen, sondern um Darlegung und Glaubhaftmachung der objektiven Voraussetzungen des Unterhaltsanspruchs.
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