Ausschlagungsfrist und Kenntnis von der Erbschaft

Gericht

1. ZS


Art der Entscheidung

Beschluss über Beschwerde


Datum

26. 08. 1993


Aktenzeichen

1Z BR 80/93


Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

I.

Der am 3. 3. 1992 verstorbene Erblasser hat keine letztwillige Verfügung hinterlassen. Als gesetzliche Erben kommen seine Witwe (Beteiligte [Bet.] zu 1) sowie seine drei Kinder (Bet. zu 2 bis 4) in Betracht. Ein Aktivnachlaß wurde nicht festgestellt.

Die Bet. zu 5, eine Kundenkreditbank, hat mit gleichlautenden Schreiben v. 14. 8. 1992 gegenüber den Bet. zu 1 bis 4 eine Nachlaßverbindlichkeit von rund 4.600 DM aus einer Darlehensgewährung geltend gemacht. Darin heißt es: ,,Wie wir in Erfahrung gebracht haben, sind Sie Erbin/Erbe geworden. Aus einer Kreditgewährung steht unserer Mandantin noch eine Forderung zu.'' Am 14. 10. 1992 hat die Bet. zu 5 beim NachlG unter Vorlage eines gegen den Erblasser gerichteten Vollstreckungsbescheids v. 22. 7. 1982 beantragt, den Bet. zu 1 bis 4 eine Frist zur Erstellung eines Nachlaßverzeichnisses zu setzen. Der Antrag wurde den Bet. zu 1 bis 4 am 3. 11. 1992 mitgeteilt.

Die Bet. zu 1 bis 4 haben am 23. 11. 1992 die Erbschaft zur Niederschrift des NachlG ausgeschlagen und dabei angegeben, sie hätten erst am 3. 11. 1992 durch anwaltliche Beratung Kenntnis vom Anfall der Erbschaft, vom Grund der Berufung zur Erbfolge und von der Überschuldung des Nachlasses erhalten.

Das NachlG (Rechtspfleger) hat mit Beschluß v. 15. 1. 1992 den Antrag auf Bestimmung einer Inventarfrist abgelehnt. Das hiergegen gerichtete Rechtsmittel der Bet. zu 5 ist dem Nachlaßrichter zur Entscheidung über die Abhilfe und von ihm dem LG vorgelegt worden. Dieses hat mit Beschluß v. 14. 5. 1993 die Beschwerde zurückgewiesen. Gegen diese Entscheidung richtet sich die Beschwerde der Bet. zu 5. Den Bet. zu 1 bis 4 wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

II.

Das zulässige Rechtsmittel ist nicht begründet.

...

3. a) Zutreffend ist das LG davon ausgegangen, daß der auf § 1994 I S. 1, II S. 1 BGB gestützte Antrag eines Nachlaßgläubigers, dem Erben eine Inventarfrist zu bestimmen (vgl. BayObLGZ 1992, 162, 164 f.), vom NachlG abzulehnen ist, wenn die Erben die Erbschaft bereits wirksam ausgeschlagen haben (vgl. BayObLGZ 3, 823, 826; BGB-RGRK/Johannsen, 12. Aufl., Rz. 8, MünchKomm/Siegmann, BGB, 2. Aufl., Rz. 5, Soergel/Stein, BGB, 12. Aufl., Rz. 7, Staudinger/Marotzke, BGB, Rz. 12, jeweils zu § 1994); denn eine form- und fristgerechte Ausschlagung hat die Wirkung, daß der Anfall der Erbschaft an den Ausschlagenden als nicht erfolgt gilt (§ 1953 I BGB; vgl. Palandt/Edenhofer, BGB, 52. Aufl., § 1994 Rz. 2).

b) Das LG hat festgestellt, daß die Bet. zu 1 bis 4 die Erbschaft am 23. 11. 1992 gegenüber dem NachlG vor Ablauf der Ausschlagungsfrist wirksam ausgeschlagen haben. Hiergegen wendet sich die Rechtsbeschwerdeführerin ohne Erfolg.

aa) Die für eine Ausschlagung der Erbschaft vorgeschriebene Form (§ 1945 I BGB) ist durch die Erklärungen der Bet. zu 1 bis 4 zur Niederschrift des Rechtspflegers des gemäß §§ 72, 73 I FGG zuständigen NachlG gewahrt. Zwar kann die Erbschaft nur binnen einer Frist von sechs Wochen ausgeschlagen werden (§ 1944 I BGB). Diese Frist beginnt aber gemäß § 1944 II S. 1 BGB für jeden Erben erst mit dem Zeitpunkt, in dem er vom Anfall der Erbschaft (§§ 1992, 1942 I BGB) und vom Grund der Berufung zur Erbfolge bestimmte und überzeugende Kenntnis erlangt (BayObLGZ 1968, 68, 74; vgl. auch BayObLGZ 1992, 64, 68; Palandt/ Edenhofer, a.a.O., § 1944 Rz. 2).

Erforderlich, aber auch genügend ist es, wenn dem Erben die tatsächlichen und rechtlichen Umstände in so zuverlässiger Weise bekanntgeworden sind, daß von ihm vernünftigerweise erwartet werden kann, in die Überlegungen über Annahme oder Ausschlagung einzutreten (vgl. MünchKomm/Leipold, a.a.O., § 1944 Rz. 8). Fahrlässige Unkenntnis des Erben steht seiner Kenntnis nicht gleich (BGH, LM, BGB § 2306 Nr. 4 = Rpfleger 1968, 183; BayObLGZ 1968, 68, 74; MünchKomm/Leipold, a.a.O.; BGB-RGRK/Johannsen, a.a.O., Rz. 8, Soergel/Stein, a.a.O., Rz. 8, Staudinger/Otte/Marotzke, a.a.O., Rz. 7, jeweils zu § 1944); es ist auch ohne Bedeutung, ob ein Nichtkennen auf tatsächlichem oder Rechtsirrtum beruht (vgl. BGB-RGRK/Johannsen, a.a.O.).

Die Frage, ob und wann ein Erbe Kenntnis vom Anfall der Erbschaft sowie vom Grund der Berufung zur Erbfolge erlangt hat, liegt im wesentlichen auf tatsächlichem Gebiet (BGH, Rpfleger 1968, 183). Das Rechtsbeschwerdegericht ist daher an die Feststellung des Gerichts der Tatsacheninstanz gemäß §§ 27 I S. 2 FGG, 561 II ZPO gebunden, wenn diese Feststellungen nicht verfahrenswidrig zustande gekommen sind, wenn der Sachverhalt ausreichend ermittelt wurde, alle geeigneten Beweise erhoben wurden (§ 12 FGG) und wenn die Beweiswürdigung rechtsfehlerfrei ist (std. Rspr.; vgl. z. B. BayObLG, FamRZ 1991, 1232, 1234).

bb) Die von der Rechtsbeschwerdeführerin angegriffene Feststellung des LG, daß die Bet. zu 1 bis 4 erst durch anwaltliche Belehrung am 3. 11. 1992 tatsächliche Kenntnis vom Anfall der Erbschaft und von der Berufung zur gesetzlichen Erbfolge erhielten, läßt einen Rechtsfehler nicht erkennen.

(1) Dem Ausgangspunkt der rechtlichen Beurteilung des LG, von juristischen Laien könne nicht das Wissen erwartet werden, daß sie auch dann als Erben behandelt würden, wenn kein Aktivnachlaß vorhanden ist, kann allerdings in dieser Allgemeinheit nicht gefolgt werden. Ob und wann ein Erbe Kenntnis vom Anfall der Erbschaft erhält, ist vielmehr nach den gesamten Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Persönlichkeit des Erben, zu beurteilen. Hierbei kann das Fehlen eines Aktiv-nachlasses oder die Annahme, ein solcher fehle, bei einem Laien unter den besonderen Umständen des Einzelfalls die Kenntnis vom Anfall der Erbschaft ausschließen. (vgl. BayObLGZ 33, 334, 337; Soergel/Stein, a.a.O., Rz. 9, Palandt/Edenhofer, a.a.O., Rz. 4, Staudinger/Otte/Marotzke, a.a.O., Rz. 8, einschränkend aber MünchKomm/Leipold, a.a.O., Rz. 11, jeweils zu § 1944).

Derartige Umstände durfte das LG hier nach den gesamten Gegebenheiten annehmen, insbesondere aufgrund der Persönlichkeit der rechtsunerfahrenen Erben, wie sie aus dem Protokoll des NachlG über die Ausschlagungsverhandlung der Begründung der Nichtabhilfeentscheidung und der von der Bet. zu 5 vorgelegten schriftlichen Erklärung des Bet. zu 2 v. 24. 8. 1992 erkennbar wird und sich in der undatierten schriftlichen Stellungnahme der Bet. zu 1 gegenüber dem Senat bestätigt hat.

(2) Das LG, das den übereinstimmenden Angaben der Bet. zu 1 bis 4 Glauben geschenkt hat, hält die Schreiben der Bet. zu 5. v. 14. 8. 1992 für nicht geeignet, die gemäß § 1944 II S. 1 BGB erforderliche Kenntnis zu vermitteln. Hiergegen bestehen schon deshalb keine rechtlichen Bedenken, weil private, für den Erben unüberprüfbare Mitteilungen regelmäßig nicht genügen (vgl. Soergel/Stein, a.a.O., § 1944 Rz. 8) und weil der Inhalt jener Schreiben weder eine bestimmte Erbenstellung erkennen läßt, noch einen bestimmten Berufungsgrund (vgl. BayObLGZ 1992, 64, 68, m.w.N.). Aufgrund der unsubstantiierten Inanspruch-nahmen als Schuldner für eine rund zehn Jahre zurückliegende Darlehensverbindlichkeit des Erblassers, wie sie in den Formularschreiben v. 14. 8. 1992 enthalten sind, die zwar den Briefkopf des Verfahrensbevollmächtigten der Bet. zu 5 tragen, jedoch offensichtlich nicht von einem Rechtsanwalt unterschrieben sind, läßt sich eine Fehlvorstellung der Bet. zu 1 bis 4 nicht ausschließen. Es ist unter den hier gegebenen Umständen möglich, daß die Witwe und die Kinder des Erblassers als juristische Laien die gemäß § 1944 II S. 1 BGB vorausgesetzte überzeugende Kenntnis nicht auf Grund der Schreiben v. 14. 8. 1992 erhalten haben. Entgegen der Auffassung der Bet. zu 5 folgt diese Kenntnis auch nicht aus der Beantwortung durch den Bet. zu 2, der lediglich erklärt hat, er werde nicht bezahlen. Ob die von den Richtern der Tatsacheninstanzen getroffenen Schlußfolgerungen die einzig möglichen sind oder eine andere Schlußfolgerung ebenso nahe oder noch näher gelegen hätte, unterliegt nicht der Prüfung des Rechtsbeschwerdegerichts (Keidel/ Kuntze/Winkler, FG, Teil A, § 27 FGG Rz. 42, m.w.N.).

Rechtsgebiete

Erbrecht