Kündigung und Schadensersatz wegen Formaldehyds in Mieträumen

Gericht

LG München I


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

26. 09. 1990


Aktenzeichen

31 S 20 071/89


Leitsatz des Gerichts

Formaldehydkonzentrationen in Mieträumen, die den Grenzwert von 0,1 ppm überschreiten, sowie Schimmelbildung berechtigen zur Kündigung. Der Vermieter hat dem Mieter den aus der Kündigung erwachsenden Schaden zu ersetzen.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Kl. hat den mit den Bekl. geschlossenen Mietvertrag über Wohnräume gekündigt, weil die Formaldehydkonzentration in den Räumen den Grenzwert von 0,1 ppm überschreite. Er hat Ersatz des ihm infolge der Kündigung entstandenen Schadens gefordert. Das AG hat durch Grundurteil der Klage stattgegeben. Die Berufung des Bekl. hatte keinen Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

1. Die zulässige Berufung ist unbegründet, weil dem Kl. der vom AG dem Grunde nach titulierte Schadensersatzanspruch gegen die Bekl. aus § 538 BGB i. V. mit §§ 537, 542, 544 BGB zusteht. Die streitgegenständlichen Mieträume waren übermäßig mit Formaldehyd belastet und von Schimmel befallen. Dies berechtigte den Kl. zur Kündigung gem. §§ 542, 544 BGB. Die Mietsache war fehlerhaft i. S. von § 537 BGB. Der Schadensersatz gem. § 538 BGB erfasst auch den Ersatz des aus der Kündigung entspringenden Schadens (Sternel, MietR, II Rdnr. 579; Palandt-Putzo, BGB, § 538 Anm. 5a).

2. Die genannten Mängel waren im Rechtssinne bei Abschluss des Vertrages vorhanden. Da der Vertrag bereits vor Fertigstellung des Mietobjekts abgeschlossen wurde, kommt es im Rahmen des § 538 BGB diesbezüglich auf den Zeitpunkt der Übergabe an (Sternel, MietR, II Rdnr. 568). Es ist auch nicht erforderlich, dass der Mangel zum Zeitpunkt der Übergabe schon hervorgetreten ist, vielmehr reicht es aus, wenn die Ursache oder Gefahrenquelle bereits bei der Übergabe vorliegt (Palandt-Putzo, BGB, § 538 Anm. 2a).

3. Die Mietsache war sowohl im Hinblick auf die Formaldehydbelastung als auch wegen der Schimmelbildung mangelhaft i. S. der §§ 537, 538 BGB.

a) Formaldehyd:

aa) In der Informationsschrift des Bundesgesundheitsamtes „Vom Umgang mit Formaldehyd“ wird für Wohnräume bei ungünstigen Bedingungen ein Grenzwert von 0,1 ppm festgestellt. Die genannte Grenze hat das Bundesgesundheitsamt bereits 1977 empfohlen. Das streitgegenständliche Anwesen wurde erst 1983 erbaut.

Auf den Rechtscharakter der Empfehlung des Bundesgesundheitsamtes kommt es nicht an, insbesondere ist nicht erforderlich, dass die Empfehlung Niederschlag in einer Rechtsnorm gefunden hat, da die Empfehlung nur zur Auslegung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale in den §§ 537, 538, 542, 544 BGB dient. Zur Auslegung gesetzlicher Tatbestandsmerkmale - Fehler, erhebliche Gefährdung der Gesundheit - können jedoch ohne weiteres Empfehlungen des Bundesgesundheitsamtes ohne Rechtsnormcharakter herangezogen werden.

bb) Insbesondere aufgrund des Gutachtens des Technischen Überwachungsvereins Bayern eV vom 15. 1. 1986 steht auch fest, dass in den streitgegenständlichen Räumen der oben genannte Grenzwert überschritten wird. Der Technische Überwachungsverein hat mehrmals Formaldehydkonzentrationen jenseits des Grenzwerts oder nahe dem zulässigen Höchstwert gemessen. Am 16. 12. 1985 wurde sogar nach zehnminütigem Lüften bei einer Raumtemperatur von 22 Grad noch eine Formaldehydkonzentration von 0,1 ppm festgestellt.

Der Technische Überwachungsverein hat seine Messungen entgegen der Ansicht der Bekl. auch nicht unter irrealen Bedingungen durchgeführt. Insbesondere muss dem Mieter die Möglichkeit eingeräumt werden, die von ihm gemieteten Räume entsprechend seinen Wünschen auch auf höhere Temperaturen bis zu 25 Grad aufzuheizen, ohne dass er Gesundheitsgefahren ausgesetzt wird. Insbesondere bei Krankheit besteht ein schützenswertes Bedürfnis des Mieters, die Mieträume entsprechend stark zu beheizen. Es muss folglich schon bei der Einrichtung der Mieträume diesbezüglich ein ausreichender Spielraum gelassen werden.

Der Kl. war im übrigen schon deshalb nicht dazu verpflichtet, die Formaldehydkonzentration durch häufiges Lüften niedrig zu halten, weil die Empfehlung des Bundesgesundheitsamtes ausdrücklich für ungünstige Verhältnisse gilt. Außerdem kann vom Mieter ohnehin nicht verlangt werden, dass er durch häufiges und regelmäßiges Lüften verhindert, dass sich in den Mieträumen gesundheitsgefährdende Formaldehydkonzentrationen aufbauen. Im übrigen ist das von den Bekl. verlangte Lüftungsverhalten bei Abwesenheit des Mieters, an sehr kalten Tagen und bei Krankheit gar nicht möglich.

Ergänzend ist noch darauf hinzuweisen, dass im Sommer gegenüber den Wintermonaten mit einer erhöhten Formaldehydkonzentration zu rechnen ist. Dies steht aufgrund der überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen A fest. Insofern ist im Sommer gegenüber den Messungen des Technischen Überwachungsvereins, die im Winter erfolgten, noch mit einer Erhöhung zu rechnen.

Der Technische Überwachungsverein hat die Formaldehydkonzentration in den leeren Mieträumen gemessen. Demzufolge sind den Messungen des Technischen Überwachungsvereins insbesondere noch die Formaldehydausdünstungen aus Möbelstücken, Teppichen und Vorhängen hinzuzurechnen.

Im übrigen wertet die Kammer die bei der Zeugin F und deren Tochter aufgetretenen Gesundheitsstörungen als Indiz dafür, dass die Formaldehydkonzentration in den streitgegenständlichen Mieträumen die zulässigen Grenzwerte überschritten hat.

b) Schimmelbefall: Dass die streitgegenständlichen Räume in erheblichem Umfang von Schimmel befallen waren, steht aufgrund der von den Parteien vorgelegten Fotografien und den Feststellungen des von den Bekl. beauftragten Sachverständigen B fest. Dies ist zwischen den Parteien im wesentlichen auch unstreitig.

Die Kammer hält daran fest, dass der Mieter berechtigt ist, die gemieteten Räume ausschließlich nach seinem Geschmack und Ermessen zu möblieren, solange die vom Mieter gewählten Standorte nicht als völlig unüblich angesehen werden müssen. Insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Lüftungsverhaltens und des Luftaustausches lassen sich Einschränkungen der genannten Mieterbefugnisse nicht rechtfertigen. Der Mieter ist insbesondere nicht verpflichtet, bauphysikalische Sachschwächen der angemieteten Räume durch Abstriche von der allgemein üblichen Möblierung auszugleichen.

4. Die unter Nr. 3. genannten Mängel berechtigten den Kl. zur fristlosen Kündigung gem. §§ 544, 542 BGB.

Bezüglich der Formaldehydkonzentration ergibt sich die erhebliche Gesundheitsgefährdung i. S. von § 544 BGB nach dem Dafürhalten der Kammer schon aus der Überschreitung der vom Bundesgesundheitsamt festgelegten Grenzwerte, da diese eine solche gerade auszuschließen bestimmt sind.

Schimmel in nennenswertem Umfang kann Krankheiten aus dem allergischen oder asthmatischen Formenkreis hervorrufen oder zumindest auslösen. Außerdem kann Schimmel zu den cancerogenen Stoffen gerechnet werden.

Der Kl. war im Rahmen der Kündigung nach § 544 BGB auch nicht gehalten, ein Abhilfeverlangen zu stellen oder sich auf ein Nachbesserungsverlangen einzulassen (Palandt-Putzo, BGB, § 544 Anm. 1). Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass auch die Kündigungsvoraussetzungen des § 542 BGB vorliegen. Ein Abhilfeverlangen war gem. § 542 I 3 BGB entbehrlich, da wegen der bei der Zeugin F und deren Tochter eingetretenen Gesundheitsstörungen die Erfüllung des Vertrages für den Kl. ohne Interesse war. Im übrigen waren die Bekl. auch gar nicht in der Lage, Abhilfe zu schaffen. Der Schimmelbefall beruht auf bauphysikalischen Gegebenheiten der streitgegenständlichen Wohnung. Der Einbau einer Alufolie zur Reduzierung der Formaldehydkonzentration war dem Kl. nicht zuzumuten, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Alufolie reißt, was wiederum eine schlagartige und erhebliche Zunahme der Formaldehydkonzentration zur Folge hätte.

Rechtsgebiete

Mietrecht; Schadensersatzrecht