Das Tischgebet im Kindergarten
Gericht
BVerfG
Art der Entscheidung
Beschluss über Verfassungsbeschwerde
Datum
02. 10. 2003
Aktenzeichen
1 BVR 1522/03
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
I.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen verwaltungsgerichtliche Entscheidungen, die es im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt haben, die Durchführung eines Tischgebets in einem kommunalen Kindergarten zu untersagen (vgl. VG Gießen, NJW 2003, S. 1265; Hessischer VGH, NJW 2003, S. 2846). Die Beschwerdeführer, ein diesen Kindergarten besuchendes, im September 1997 geborenes Kind und sein Vater, der eine atheistische Weltanschauung vertritt, sehen durch diese Entscheidungen ihre Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt. Sie machen geltend, dass es das Prinzip der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates verbiete, dass Angestellte eines kommunalen Kindergartens als Organisatoren und Veranstalter religiöser Betätigung auftreten.
II.
Die Voraussetzungen des § 93 a Abs. 2 BVerfGG für eine Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung liegen nicht vor, weil die Verfassungsbeschwerde unzulässig ist. Ihrer Zulässigkeit steht der in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde entgegen.
1. Zwar ist der Rechtsweg im Ausgangsverfahren erschöpft. Mit dem Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs liegt eine das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes abschließende letztinstanzliche Entscheidung vor (vgl. § 152 VwGO). Doch kann der Grundsatz der Subsidiarität in solchen Fällen zur Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde führen, wenn Verfassungsverstöße gerügt werden, die sich nicht speziell auf das Eilverfahren beziehen, sondern Fragen aufwerfen, die sich genau so auch im Hauptsacheverfahren stellen, so dass dieses geeignet ist, der behaupteten verfassungsrechtlichen Beschwer abzuhelfen (vgl. BVerfGE 77, 381 <401>; 80, 40 <45>; 93, 1 <12>). Allerdings darf ein Beschwerdeführer nicht auf das Verfahren der Hauptsache verwiesen werden, wenn die Verletzung von Grundrechten durch die Eilentscheidung selbst geltend gemacht wird oder wenn die Entscheidung von keiner weiteren tatsächlichen oder einfachrechtlichen Aufklärung abhängt und die Voraussetzungen gegeben sind, unter denen gemäß § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG vom Erfordernis der Rechtswegerschöpfung abgesehen werden kann (vgl. BVerfGE 79, 275 <279>; 93, 1 <12>).
2. Danach haben die Beschwerdeführer hier zunächst den Hauptsacherechtsweg zu beschreiten.
a) Die Verfassungsbeschwerde hat mit den geltend gemachten Verstößen gegen Art. 4 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ausschließlich Rügen zum Gegenstand, die nicht speziell die im Ausgangsverfahren ergangene Eilentscheidung betreffen, sondern sich auf verlässlicher Grundlage erst nach Durchführung des fachgerichtlichen Hauptsacheverfahrens beurteilen lassen. Denn es besteht insoweit - in tatsächlicher wie in einfachrechtlicher Hinsicht - noch zusätzlicher Aufklärungsbedarf.
Einfachrechtlich haben die Verwaltungsgerichte das Achte Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII), auf dessen hier einschlägige Regelungen die Beschwerdeführer in der Beschwerdeschrift im Einzelnen hingewiesen haben, bisher nur am Rande, mit dem Hinweis auf den in § 24 SGB VIII geregelten Anspruch auf den Besuch eines Kindergartens, erwähnt. Auf die nähere rechtliche Ausgestaltung des mit der Aufnahme in eine solche Einrichtung entstehenden Rechtsverhältnisses zwischen Kind, Personensorgeberechtigten, Kindergartenträger und -personal sind sie dabei nicht eingegangen. Nicht gewürdigt ist deshalb auch, dass die in Tagesstätten wie Kindergärten tätigen Fachkräfte und Mitarbeiter bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben nach § 22 Abs. 3 SGB VIII mit den Erziehungsberechtigten zum Wohl der Kinder zusammenzuarbeiten und bei der Ausgestaltung der Jugendhilfeleistungen auch in solchen Einrichtungen gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 3 in Verbindung mit § 9 Nr. 1 SGB VIII die Rechte der Personensorgeberechtigten und des Kindes bei der Bestimmung der religiösen Erziehung zu beachten haben. Es liegt nahe, dass sich in diesen Regelungen, die gegenüber allen Kindern und Erziehungsberechtigten zu wahren sind, die Grundrechtspositionen konkretisieren, die bei unterschiedlichen Wertvorstellungen von Kindern und Eltern in einen Ausgleich zu bringen sind (vgl. auch Wiesner, in: Ders./Kauf-mann/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe, 1995, § 9 Rn. 1 ff.; Mainberger, in: Hauck/Noftz, SGB VIII, K § 9 Rn. 1
Die Verwaltungsgerichte werden bei der abschließenden Beurteilung des Begehrens der Beschwerdeführer auch darauf einzugehen haben, dass es in dem Erziehungskonzept, das der Arbeit in dem streitgegenständlichen Kindergarten zugrunde liegt, zwar einerseits heißt, den in der Einrichtung Tätigen sei die multikulturelle Vielfalt in der Gruppe bewusst, und anders geartete Religionen würden toleriert, dass andererseits aber auch davon die Rede ist, es sei ein wichtiges Unterfangen, "die Kinder", also offenbar auch anders oder nicht Gläubige, mit dem christlichen Glauben zu konfrontieren; deshalb würden "viele Gebete" gelernt und Religion, und zwar, wie dem Kontext zu entnehmen ist, christliche Religion "angeboten". Wäre dies im Sinne einer missionarischen Betätigung, eines gezielten Einwirkens auf anders oder nicht Gläubige, zu verstehen, wäre die Durchführung des Tischgebets als Teil des hier maßgeblichen Erziehungskonzepts mit den Grundrechten der Beschwerdeführer nicht zu vereinbaren (vgl. auch - trotz Art. 7 Abs. 1 GG - für den Bereich der öffentlichen Volksschulen BVerfGE 93, 1 <23>).
Kann nach den noch zu treffenden ergänzenden tatsächlichen Feststellungen eine solche missionarische Zielsetzung auch gegenüber dem beschwerdeführenden Kind ausgeschlossen werden, wie es das Verwaltungsgericht bisher im Rahmen der von ihm vorgenommenen summarischen Prüfung pauschal angenommen hat, wird vor einer abschließenden Entscheidung im Hauptsacheverfahren weiter zu prüfen sein, ob zusätzliche Möglichkeiten denkbar sind, die Vorphase und den Ablauf des im Kindergarten gereichten Frühstücks so zu organisieren, dass im Hinblick auf das im Zusammenhang damit gesprochene freiwillige Tischgebet eine Exponierung und Sonderbehandlung des daran nicht teilnehmenden beschwerdeführenden Kindes noch mehr, als bisher von den Gerichten angenommen, vermieden werden können.
b) Es ist für die Beschwerdeführer schließlich trotz des Fortschreitens der Zeit und des Fortgangs der Betreuung und Erziehung in dem streitgegenständlichen Kindergarten nicht unzumutbar, auf den Abschluss des Hauptsacheverfahrens verwiesen zu werden. Den für die Planung und Durchführung von Betreuung und Erziehung Verantwortlichen ist die besondere Situation des beschwerdeführenden Kindes bewusst. Sie sind nach den Feststellungen der Verwaltungsgerichte bemüht, dem für den Fall, dass dieses den Kindergarten weiter besuchen wird, sowohl durch eine schonende Gestaltung des Ablaufs der gemeinsamen Mahlzeit als auch in der Weise Rechnung zu tragen, dass auf die anderen Kindergartenkinder pädagogisch dahingehend eingewirkt wird, dem nicht am Tischgebet teilnehmenden beschwerdeführenden Kind respektvoll zu begegnen und sein Verhalten als Ausdruck einer achtenswerten eigenen weltanschaulichen Überzeugung zu tolerieren. Dem Beschwerdevorbringen ist nichts dafür zu entnehmen, dass der weitere Besuch des Kindergartens für das beschwerdeführende Kind unter diesen Umständen mit unzumutbaren Belastungen und Beeinträchtigungen verbunden wäre.
Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93 d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Jaeger
Hömig
Bryde
Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -
Pressemitteilung Nr. 83/2003 vom 15. Oktober 2003
Dazu Beschluss vom 2. Oktober 2003 - 1 BvR 1522/03 -
Zum Tischgebet im Kindergarten
Die Verfassungsbeschwerde (Vb) eines Vaters und seines minderjährigen Kindes (Beschwerdeführer; Bf), die sich gegen die Praxis des Tischgebets in einem kommunalen Kindergarten wenden, wurde von der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts nicht zur Entscheidung angenommen.
1. Zum Sachverhalt:
Die Verwaltungsgerichte haben es bislang im Verfahren des vorläufigen
Rechtsschutzes auf Antrag der Bf abgelehnt, die Durchführung eines
Tischgebets in einem kommunalen Kindergarten zu untersagen. In diesem
vom 1997 geborenen Bf zu 1. besuchten Kindergarten ist es üblich, vor
dem gemeinsamen Frühstück ein Tischgebet zu sprechen. Der Bf zu 1. und
sein Vater, der Bf zu 2., der eine atheistische Weltanschauung vertritt,
wenden sich mit der Vb gegen die fachgerichtlichen Eilentscheidungen.
Diese verstießen gegen ihre Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und Art. 6
Abs. 2 Satz 1 GG. Nach dem Prinzip der religiös-weltanschaulichen
Neutralität des Staates dürften Angestellte eines kommunalen
Kindergartens nicht als Organisatoren und Veranstalter religiöser
Betätigung auftreten.
2. In den Gründen der Entscheidung heißt es:
Die Voraussetzungen für eine Annahme der Vb zur Entscheidung liegen
nicht vor. Die Vb ist unzulässig. Ihrer Zulässigkeit steht der Grundsatz
der Subsidiarität der Vb entgegen.
Zwar liegt im Ausgangsverfahren eine das Verfahren des vorläufigen
Rechtsschutzes abschließende letztinstanzliche Entscheidung vor.
Betreffen die gerügten Verfassungsverstöße jedoch
Fragen, die sich genau so auch im Hauptsacheverfahren stellen und sich
nicht speziell auf das Eilverfahren beziehen, ist das Hauptsacheverfahren vor den Fachgerichten
grundsätzlich geeignet, Rechtsschutz gegen die behaupteten
Verfassungsverletzungen zu gewähren.
So liegt der Fall hier. Die mit der Vb geltend gemachten Rügen betreffen
nicht speziell die im Ausgangsverfahren ergangene Eilentscheidung. Sie
lassen sich vielmehr verlässlich erst nach Durchführung des
Hauptsacheverfahrens vor den Verwaltungsgerichten beurteilen. Denn es
besteht insoweit noch tatsächlicher und einfachrechtlicher
Aufklärungsbedarf. Dazu führt die Kammer im Einzelnen aus:
Bislang sind die Verwaltungsgerichte auf die nähere rechtliche
Ausgestaltung des mit der Aufnahme in einen kommunalen Kindergarten
entstehenden Rechtsverhältnisses zwischen Kind,
Personensorgeberechtigten, Kindergartenträger und -personal nicht
eingegangen. Insoweit verweist die Kammer auf die einschlägigen
Regelungen des Achten Buchs Sozialgesetzbuch. Es liegt nahe, dass sich
in diesen Regelungen, die gegenüber allen Kindern und
Erziehungsberechtigten zu wahren sind, die Grundrechtspositionen
konkretisieren, die bei unterschiedlichen Wertvorstellungen von Kindern
und Eltern in einen Ausgleich zu bringen sind. Nach der
grundgesetzlichen Zuständigkeitsverteilung und Aufgabenzuweisung sollen
vorrangig die Fachgerichte selbst den Inhalt und die Bedeutung der
einfachrechtlichen Vorschriften auch im Kontext der auf sie
ausstrahlenden und durch sie zur Geltung zu bringenden Grundrechte
bestimmen.
Die Verwaltungsgerichte werden auch festzustellen haben, ob nach dem in
dem kommunalen Kindergarten maßgeblichen Erziehungskonzept eine – mit
den Grundrechten der Bf nicht zu vereinbarende – missionarische
Zielsetzung gegenüber dem Bf zu 1. ausgeschlossen werden kann. Weiter
ist zu prüfen, ob die Verfahrensabläufe des Kindergartenfrühstücks so
organisierbar sind, dass hinsichtlich des für die Kinder freiwilligen
Tischgebetes einer Exponierung und Sonderbehandlung des daran nicht
teilnehmenden Bf zu 1. noch mehr entgegengewirkt werden kann.
Die Beschreitung des Verwaltungsrechtswegs im Hauptsacheverfahren ist
den Bf auch zumutbar. Das verantwortliche Personal des Kindergartens ist
nach den Feststellungen der Verwaltungsgerichte bemüht, der besonderen
Situation des Bf zu 1. gerecht zu werden. Sie wollen dieser Situation
sowohl durch eine schonende Gestaltung des Ablaufs der gemeinsamen
Mahlzeit als auch in der Weise Rechnung tragen, dass auf die anderen
Kindergartenkinder pädagogisch dahingehend eingewirkt wird, dem nicht am
Tischgebet teilnehmenden Bf zu 1. respektvoll zu begegnen und sein
Verhalten als Ausdruck einer achtenswerten eigenen weltanschaulichen
Überzeugung zu tolerieren.
Beschluss vom 2. Oktober 2003 – 1 BvR 1522/03 –
Karlsruhe, den 15. Oktober 2003
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