Kahlschnitt überhängender Zweige ohne Fristsetzung
Gericht
LG Gießen
Art der Entscheidung
Berufungsurteil
Datum
02. 10. 1996
Aktenzeichen
1 S 230/96
Auch wenn der Nachbar überhängende Zweige abschneidet, ohne dem störenden Eigentümer zuvor eine angemessene Beseitigungsfrist zu setzen, kann dieser nicht Ersatz des Schadens verlangen, der bei ordnungsgemäßer Fristsetzung ebenfalls entstanden wäre. Dies ist der Fall, wenn die Pflanzen nicht mehr austreiben, weil der notwendige Rückschnitt bis ins alte Holz geht.
Ein Grenzüberwuchs von ca. 1 m (hier: über Rasen, Garageneinfahrt und Garagendach) beeinträchtigt die Benutzung des Nachbargrundstücks ohne weiteres.
Auszüge aus dem Sachverhalt:
Die Parteien sind Grundstücksnachbarn. Entlang der gemeinsamen Grenze wächst seit 1976 auf dem Grundstück der Kl. eine Hecke aus Scheinzypressen. Diese inzwischen etwa 5 m hohen Pflanzen ließ der Bekl. ohne vorherige Ankündigung zum Teil bis ins alte Holz zurückschneiden, weil Zweige auf sein Grundstück herüberhingen. Die Parteien streiten über das Ausmaß des Überhangs, die dadurch auf dem Grundstück des Bekl. bewirkte Beeinträchtigung und das Ausmaß des Rückschnitts. Die Kl. behaupten, die Hecke sei irreparabel geschädigt. Sie werde zur Seite des Bekl. hin nicht mehr ausschlagen und habe deshalb ihre Funktion als Sichtschutz verloren. Eine Neuanpflanzung koste 8528,16 DM, jedenfalls sei der Verkehrswert ihres Grundstücks um diesen Betrag gemindert.
Das AG hat die Schadensersatzklage abgewiesen. Die Berufung der Kl. war erfolglos.
Auszüge aus den Gründen:
Zwar können dem störenden Eigentümer, von dessen Grundstück der Überhang ausgeht, gegen den Nachbarn Schadensersatzansprüche nach § 823 I BGB zustehen, wenn dieser die überhängenden Zweige abschneidet, ohne die Voraussetzungen des § 910 BGB zu beachten. Dieser Grundsatz verhilft den Kl. vorliegend aber nicht zum Erfolg, auch wenn ihnen der Bekl. vor seiner Selbsthilfe keine angemessene Beseitigungsfrist setzte (§ 910 I 2 BGB). Durch die vom Bekl. verletzte Pflicht, eine Beseitigungsfrist zu setzen, soll die Selbsthilfe des Nachbarn verschoben, aber nicht ausgeschlossen werden. Liegen die Selbsthilfevoraussetzungen im übrigen vor und hätte der störende Eigentümer auch bei Einhaltung von § 910 I 2 BGB das Abschneiden und seine Ausführung nicht vermeiden können, so scheidet ein Ersatzanspruch aus, weil der Schaden auch dann entstanden wäre, wenn sich der Nachbar rechtmäßig verhalten hätte (sog. rechtmäßiges Alternativverhalten, Staudinger/Roth, BGB, 13. Bearb., § 910 Rdnr. 30). Davon ist im vorliegenden Fall auszugehen.
Unstreitig wuchsen die Zweige der auf dem Grundstück der Kl. stehenden Scheinzypressen über die Grenze auf das Grundstück des Bekl. Dort stellten sie auch eine Beeinträchtigung dar (§ 910 II BGB). Aus den schriftlichen Bestätigungen der Zeugen W und A ... ergibt sich, daß die Zweige ca. einen Meter in das Grundstück des Bekl. hineinragten. Diese Angabe stimmt mit den Feststellungen des vom Bekl. beauftragten Privatgutachters überein und steht auch mit den vom Sachverständigen S gefertigten Lichtbildern in Einklang. Sie ist deshalb glaubhaft. Der gegenteilige, ohnehin nicht hinreichend substantiierte Vortrag der Kl. ist nicht unter Beweis gestellt. Bei einem Überwuchs von ca. einem Meter in der Garageneinfahrt, über dem Garagendach und über dem Rasen liegt die Beeinträchtigung des Bekl. in der Benutzung seines Grundstücks ohne weiteres auf der Hand.
Die Kl. hätten das Abschneiden der Zweige – so wie geschehen – auch nicht vermeiden können. Angesichts der auf dem Grundstück des Bekl. vorhandenen Grenzbebauung (Garage und Einfahrt) war der Rückschnitt bis zur Grenze vorzunehmen, denn es stellt ein berechtigtes Interesse des Bekl. dar, sein Grundstück in diesem Bereich über die gesamte Breite nutzen zu können; dies etwa im Hinblick auf die Bequemlichkeiten beim Einsteigen in einen auf der Garageneinfahrt abgestellten Pkw oder bezüglich der Instandhaltung des Garagendachs. Soweit die Kl. behaupten, der Bekl. habe die Zweige bis über die Grundstücksgrenze hinaus zurückgeschnitten, fehlt es schon am Vortrag, wie weit über der Grundstücksgrenze die Zweige abgeschnitten worden sein sollen. Soweit der vom Bekl. beauftragte Privatgutachter festgestellt hat, daß etwa 5 cm mehr als bis zur Grundstücksgrenze zurückgeschnitten wurden, handelt es sich um eine unwesentliche Überschreitung, die praktisch keine Rolle spielt und bei Gartenarbeiten auch sonst vorkommt. Angesichts des Ausmaßes, den der zu beseitigende Überhang bereits angenommen hatte, mußte der Rückschnitt jedenfalls bis ins alte Holz gehen mit der Folge, daß die stehenbleibenden Äste nicht mehr austreiben konnten.
Die Bewertung des derzeitigen Zustands der Scheinzypressen entlang der Grenze zum Grundstück des Bekl. als Schaden an der Hecke oder Wertminderung des kl. Grundstücks durch den Sachverständigen S ist für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht von Belang. Im übrigen hat der Sachverständige die vom ursprünglichen Zustand ausgehende Eigentumsbeeinträchtigung für den Bekl. verkannt. Bei der Beurteilung, ob die Kl. durch den vom Bekl. veranlaßten Rückschnitt einen Schaden oder eine Wertminderung erlitten haben, darf der vorher bestehende Überhang nicht unberücksichtigt bleiben. Ein Schaden oder eine Wertminderung auf seiten der Kl. kann nur in solchen Vorteilen liegen, die den Kl. durch das Eigentum an ihrem Grundstück zugewiesen sind, nicht darüber hinaus auch in einer vom Gesetz nicht gebilligten Inanspruchnahme des benachbarten Grundstücks, das im Eigentum des Bekl. steht. Die Kl. müssen – mit anderen Worten – auf ihrem eigenen Grundstück für Sichtschutz sorgen.
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