Spielbedingter Kinderlärm
Gericht
OLG Düsseldorf
Art der Entscheidung
Berufungsurteil
Datum
11. 10. 1995
Aktenzeichen
9 U 51/95
Die gegen einen im strafrechtlichen Sinne schuldunfähigen Minderjährigen gerichtete Klage auf Unterlassung tatsächlicher Handlungen ist unzulässig, da ein auf die Klage ergehendes Urteil weder gegen den Minderjährigen noch gegen den gesetzlichen Vertreter vollstreckbar wäre.
Die Kl. und die Bekl. sind Grundstückseigentümer und Nachbarn in der aus Einfamilienhäusern bestehenden, 1990 errichteten Siedlung in D. Die T-Straße, an der die Häuser der Bekl. und der Kl. liegen, ist durch Zeichen 325 gem. § 42 IVa StVO als verkehrsberuhigter Bereich ausgewiesen. Die Kinder der Bekl. und andere Kinder aus der Siedlung benutzen die T-Straße für Spiele, u.a. spielen sie Fußball und andere Ballspiele. Die Kl. fühlen sich durch den von den Kindern bei den Ballspielen verursachten Lärm in ihrem Ruhebedürfnis gestört. Die Kl. haben vorgetragen, die (ebenfalls bekl.) Kinder der Bekl. im Alter zwischen acht und zwölf Jahren hätten zumindest bis Mitte April 1994 „mit nervenzerreißender Regelmäßigkeit“ in unmittelbarer Nähe ihres Grundstücks auch während der Mittagszeit und nach 20 Uhr Fußball und andere Ballspiele gespielt und dabei durch Schreien, Johlen und Pfeifen eine das Maß des Erträglichen übersteigende Lärmentwicklung verursacht, so daß eine Erholung in den Mittags- und Abendstunden unmöglich gewesen sei. Die Bekl. haben sich darauf berufen, daß die von den Kindern spielbedingt verursachte Geräuschentwicklung das in einer Wohnsiedlung mit Spielstraßen zumutbare Maß nicht überschreiten würde, unwesentlich und ortsüblich sei.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Kl. hatte keinen Erfolg.
I. ...
2. Das Urteil würde den Kl. aber auch keine Vollstreckungsmöglichkeit gegen die Bekl. als gesetzliche Vertreter bieten. Die Frage, ob aus einem Unterlassungstitel gegen einen Minderjährigen die Vollstreckung gegen den gesetzlichen Vertreter betrieben werden kann, ist - soweit ersichtlich - bislang höchstrichterlich noch nicht entschieden. Der Senat beantwortet sie dahin, daß Ordnungsmittel bei schuldhaften Zuwiderhandlungen gegen ein dem Minderjährigen erteiltes Verbot grundsätzlich nur gegen den Minderjährigen und nicht gegen den gesetzlichen Vertreter verhängt werden können. Die Verhängung von Ordnungsmitteln gegen den gesetzlichen Vertreter bedarf eines zusätzlichen, gegen diesen gerichteten Titels. Dies gilt jedenfalls in den Fällen, in denen - wie hier - tatsächliche Handlungen untersagt werden. In diesen Fällen ist es der Minderjährige selbst, der dem Verbot zuwiderhandelt. Zur „Wirksamkeit“ dieser Zuwiderhandlung bedarf es keines Zutuns des gesetzlichen Vertreters. Eine andere Beurteilung mag dann gerechtfertigt sein, wenn dem Minderjährigen ein rechtsgeschäftliches Handeln untersagt worden ist, da er hiergegen wirksam nur mit Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters verstoßen kann. Nimmt der gesetzliche Vertreter für den Minderjährigen ein verbotenes Rechtsgeschäft vor oder genehmigt er ein solches, so handelt er selbst diesem Verbot zuwider. Anders ist es in den Fällen der hier vorliegenden Art. Der Titel gegen den minderjährigen Schuldner kann einen Titel gegen den gesetzlichen Vertreter als Vollstreckungsgrundlage nicht ersetzen, wenn und soweit dieser selbst Schuldner eines eigenen gleichgerichteten Unterlassungsanspruches ist. Ein Unterlassungstitel der hier in Rede stehenden Art gegen den Minderjährigen begründet aber keine eigenen Pflichten des gesetzlichen Vertreters gegenüber dem Gläubiger; denn in materieller Hinsicht ist er nicht selbst Schuldner der den Minderjährigen treffenden Verbindlichkeit.
Eine eigene Haftung des gesetzlichen Vertreters käme nur wegen Verletzung der Aufsichtspflicht über den Minderjährigen in Betracht. Der gesetzliche Vertreter hat zwar als Inhaber der elterlichen Gewalt aus der Verpflichtung zur Personensorge ( § 1631 I BGB) durch Unterrichtung und Beaufsichtigung des Minderjährigen dafür Sorge zu tragen, daß dieser der gerichtlichen Anordnung eines Unterlassungsgebotes nicht zuwider handelt. Hieraus läßt sich jedoch nicht ableiten, daß die Aufsichtspflicht auch innerhalb des durch das titulierte Unterlassungsgebot begründeten besonderen Pflichtenverhältnisses gegenüber dem Gläubiger gilt und diesem so eine nicht gesondert zu titulierende Vollstreckungsmöglichkeit gegen den gesetzlichen Vertreter aus einem gegen den Minderjährigen gerichteten Unterlassungsurteil bietet. Zwischen der Verpflichtung des Minderjährigen aus dem Titel und der allgemeinen Aufsichtspflicht des gesetzlichen Vertreters besteht keine Identität; vielmehr handelt es sich um eigenständige - nur die jeweilige Person betreffende - Verpflichtungen mit der Folge, daß eine Verletzung dieser Verpflichtungen auf unterschiedlichen Zuwiderhandlungen beruht. Eine Durchsetzung bzw. Sanktionierung der Verletzung des Unterlassungsgebotes durch Vollstreckung von Ordnungsmitteln gegen den gesetzlichen Vertreter setzt voraus, daß zu einer Zuwiderhandlung des Minderjährigen gegen das gerichtliche Unterlassungsgebot ein zusätzliches, die Aufsichtspflicht verletzendes schuldhaftes Handeln oder Unterlassen des gesetzlichen Vertreters hinzutritt. Diese zusätzliche Verpflichtung, deren Verletzung erst eine strafrechtsähnliche Sanktion gegen den gesetzlichen Vertreter ermöglicht, ist aber durch das nur gegen den Minderjährigen ergangene Urteil nicht tituliert. ...
II. Ein Anspruch gegen die Bekl., lärmintensives Ballspiel der bekl. Kinder zeitweilig zu verhindern, besteht hingegen nicht. Die Kl. haben vielmehr spielbedingten Kinderlärm hinzunehmen.
2. Auch der weitergehende Antrag der Kl. auf Unterlassung der Ballspiele in einem Umkreis von 50 m um ihr Grundstück, in den der von den bekl. Kindern genutzte Straßenbereich unstreitig fällt, ist unbegründet. Es ist bereits fraglich, ob der Sachvortrag der Kl. zur Darlegung einer kinderlärmbedingten wesentlichen Beeinträchtigung ausreicht. Daß Kinderlärm „unerträglich“ ist, stellt eine rein subjektive Wertung der Kl. dar. Als gerichtsbekannt kann jedoch vorausgesetzt werden, daß der Lärm spielender Kinder durch Schreien, Lachen und Toben die Immissionsrichtwerte der gesetzlichen Regelungen (z.B. TA Lärm und VDI 2058 Bl. 1) z.T. auch erheblich überschreiten kann. Allein die Überschreitung von Lärmgrenzwerten läßt Kinderlärm indessen nicht zu wesentlichen Beeinträchtigungen i.S. des § 906 I BGB werden. Anders als bei der Beurteilung der Wesentlichkeit einer Beeinträchtigung durch den Lärm technischer Anlagen ist bei Erzeugen von Lärm durch kindliches Spielen, sei es auf Spielplätzen, im Schulbereich oder auf der Straße, zu berücksichtigen, daß Kinderlärm eine notwendige Ausdrucksform und Begleiterscheinung des kindlichen Spielens darstellt, die nicht generell unterdrückt oder auch nur beschränkt werden kann. Bei einer vorzunehmenden Güterabwägung zwischen den Interessen der betroffenen Nachbarn an Ungestörtheit einerseits und dem Interesse der Allgemeinheit an einer kinderfreundlichen Umwelt andererseits steht daher der Begriff der Wesentlichkeit bei der Beurteilung unter einem allgemeinen Toleranzgebot. Nachbarliches Zusammenleben ohne eine gegenseitige Störung ist nicht denkbar. Deshalb muß jeder Eigentümer Störungen in gewissem Umfang hinnehmen, wobei die Wesentlichkeit von Lärm im Sinne einer wertenden Abgrenzung durch situationsbezogene Abwägung zu bestimmen und hierbei auf das Empfinden eines „verständigen Durchschnittsmenschen" abzustellen ist (vgl. BGHZ 121, 248 (255) = NJW 1993, 1656 = LM H. 9/1993 § 906 BGB Nr. 90). Soziale Interessen des Störers und soziale Auswirkungen des Verbots der Störung sind zu berücksichtigen (vgl. OLG Nürnberg, NJW-RR 1988, 979).
Unter Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich im vorliegenden Rechtsstreit, daß die Kl. spielbedingten Kinderlärm hinzunehmen haben. Bei der Siedlung, in der die Parteien wohnen, handelt es sich um ein reines Wohngebiet, in dem ausschließlich Einfamilienhäuser stehen, die überwiegend von Familien mit kleineren Kindern bewohnt werden. Allein diese Wohnsituation bedingt vermehrten Kinderlärm. Das Geräusch spielender Kinder ist schon aus dem engen räumlichen Bezug zwischen Wohnen und Spielen ein untrennbarer Bestandteil des Wohnens (vgl. VGH Mannheim, NVwZ 1990, 988 (989)). Daß dieser Kinderlärm sich nicht nur auf die einzelnen Grundstücke beschränkt, ist zwangsläufig und damit sowohl für die Stadt D. als auch alle Anwohner absehbare Folge der Ausweisung der T-Straße als verkehrsberuhigter Bereich gem. § 42 IVa StVO. Auf diesem gemeinhin als „Spielstraße“ bezeichneten öffentlichen Verkehrsraum sind nach der genannten gesetzlichen Regelung Kinderspiele überall erlaubt, während der Nutzungszweck für Fahrzeuge hinter dem für Kinder und Fußgänger zurückzutreten hat. Wenn aber gesetzlich Kinderspiele in bestimmten Bereichen nicht nur zulässig sind, sondern durch besondere Ausweisung von Straßenraum noch gefördert werden, kann das Spielen dort nicht durch Anwendung von Lärmgrenzen unzumutbar werden. Wer - wie die Kl. - sich für das Wohnen in einer solchen kinderfreundlichen und das Spiel der Kinder fördernden Umgebung entscheidet, hat die hierdurch bedingten Nachteile wie insbesondere spielbedingten Kinderlärm in Kauf zu nehmen.
Menschen mit einem „erhöhten Ruhebedürfnis“ müssen sich ein anderes Wohnumfeld suchen. Auch geräuschfreie Mittagspausen können unter den heute gegebenen Lebensumständen mit zeitlich nicht mehr fest gegeneinander abgegrenzten Arbeits- und Ruhezeiten nicht gefordert werden.
Kanzlei Prof. Schweizer Rechtsanwaltsgesellschaft mbH © 2020
Impressum | Datenschutz | Cookie-Einstellungen