Vorteilsanrechnung „neu für alt“ bei hundertjähriger, eingestürzter Mauer und Schadensanfälligkeit des geschädigten Grundstücks
Gericht
BGH
Art der Entscheidung
Revisionsurteil
Datum
25. 06. 1992
Aktenzeichen
III ZR 101/91 (Düsseldorf)
Wenn sich eine Mauer schon über mehrere Jahrzehnte vor dem Einsturz neigte, kann die darin liegende Schadensgeneigtheit eines Grundstücks eine Minderung des nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruchs bewirken.
Die Kl. sind Eigentümer eines Hausgrundstücks in der bekl. Stadt, das an eine von dieser unterhaltene Gemeindestraße grenzt. An der Grenze des kl. Grundstücks befindet sich eine etwa vor 100 Jahren errichtete Mauer. Zwischen dieser Mauer und der Fahrbahn der Gemeindestraße liegt ein mit Bäumen und Sträuchern bewachsener, von der Bekl. unterhaltener Grünstreifen.
Als sich die Mauer 1985 bedrohlich zur Grundstücksinnenseite neigte, machten die Kl. die Bekl. für die Neigung der Mauer verantwortlich und verlangten Ersatz der für die Errichtung einer neuen Mauer erforderlichen Kosten. Nachdem das LG der Klage zunächst im wesentlichen stattgegeben und das OLG dieses Urteil aufgehoben und die Sache zurückverwiesen hatte, hatten LG und OLG die Klage abgewiesen. Auf die Revision der Kl. hatte der Senat durch Urteil vom 8. 3. 1990 (NJW 1990, 3195) das Urteil des OLG aufgehoben und die Sache zu anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das BerGer. zurückverwiesen. Nachdem die Mauer nun im Januar 1991 auf einer Länge von ca. 15 m nach innen umgefallen war, hat das OLG das erstinstanzliche Urteil abgeändert und der Klage in Höhe von 62202,22 DM nebst Zinsen stattgegeben.
Die hiergegen gerichtete Revision der Bekl. führte zur Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das BerGer.
I. Das BerGer. ist der Auffassung:
Die Bekl. sei verpflichtet, den Kl. eine Entschädigung in Höhe von 80 % der Kosten zu zahlen, die ihnen für den Abriss der alten und den Bau einer neuen Mauer entstünden. Rechtsgrundlage sei der vom Verschulden unabhängige nachbarrechtliche Ausgleichsanspruch aus § 906 II 2 BGB in entsprechender Anwendung. Ursache für Neigung und Einsturz der Mauer sei das Wurzelwerk, das unter und über der Erdoberfläche in die Fugen des Mauerwerks eingedrungen sei. Die Bekl. treffe eine Verantwortlichkeit jedoch nur für das unterhalb der Oberfläche eingedrungene Wurzelwerk, dessen Verursachungsanteil an Neigung und Umfallen der Mauer mit 80 % zu bemessen sei. Da durch den Abriss der alten und den Aufbau einer neuen Mauer keine dem früheren Zustand vergleichbare Lage geschaffen werde, die neue Mauer sich nach Qualität und Aussehen nicht mit der alten vergleichen lasse, schulde die Bekl. nicht die Kosten für den Neubau, auch nicht mit einem Abzug „neu für alt“, sondern Ersatz der Minderung des Verkehrswerts der beschädigten Sache, nämlich des Hausgrundstücks, durch die Beschädigung. Diese Verkehrswertminderung sei identisch mit den Kosten für die „Sanierung“ der Mauer.
II. Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung nicht in allen Punkten stand.
1. Rechtlich nicht zu beanstanden sind die Ausführungen des BerGer., soweit es einen nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch dem Grunde nach bejaht. Insoweit hat das BerGer. die Vorgaben des ersten Revisionsurteils des Senats (NJW 1990, 3195) beachtet und erhebt die Revision auch keine Einwendungen.
2. Durch Rechtsirrtum beeinflusst ist jedoch die Bemessung des Ausgleichsanspruchs durch das BerGer. Insoweit begegnet es zwar keinen Bedenken, dass das BerGer. den Verursachungsanteil des unter der Erdoberfläche in die Mauer eingedrungenen Wurzelwerks mit 80 % veranschlagt hat. Zu Unrecht hat das BerGer. indes einen Abzug unter dem Gesichtspunkt „neu für alt“ abgelehnt.
a) Wie der Senat in seinem Urteil vom 8. 3. 1990 (NJW 1990, 3195) ausgeführt hat, bestimmt der Umfang des nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruchs sich nach den Grundsätzen, die für die Bemessung einer Enteignungsentschädigung gelten; ein Abzug „neu für alt“ ist möglich. Dies ergibt sich daraus, dass bei der Berechnung der Enteignungsentschädigung auch die Regeln der Vorteilsausgleichung anzuwenden sind, zu denen auch der schadensrechtliche Grundsatz des Abzugs „neu für alt“ gehört (Senat, BGHZ 55, 294 (302); Nüßgens-Boujong, Eigentum, Sozialbindung, Enteignung, Rdnr. 395).
Das BerGer. geht zutreffend davon aus, dass für die Bemessung des nach § 906 II 2 BGB zu zahlenden Ausgleichs kein Unterschied zur Enteignungsentschädigung besteht. Es stellt selbst fest, dass eine nach heutigen Regeln der Baukunst errichtete Mauer erheblich standfester und damit auch wertvoller ist als die bisherige Mauer. Trotzdem bemisst es den den Kl. zu ersetzenden Nachteil nach den Kosten der Errichtung einer neuen Mauer ohne Abschlag. Das ist rechtsfehlerhaft.
b) Zutreffend ist der Ausgangspunkt des BerGer., dass „beschädigte Sache" hier das ganze Grundstück ist. Dagegen ist die Übertragung der Ausführungen im Urteil des VI. Zivilsenats (BGHZ 102, 322 (326 ff.)) zur Errichtung eines neuen Hauses auf die streitbefangene Mauer schon bedenklich. Der VI. Zivilsenat hält eine Wiederherstellung i. S. des § 249 BGB dann für unmöglich, wenn mit dem Wiederaufbau eines zerstörten Hauses „in baulich-technischer und in wirtschaftlich-funktionaler Hinsicht selbst bei wertender Gesamtbetrachtung ... keine dem früheren Zustand vergleichbare Lage geschaffen werden kann“ (BGHZ 102, 322 (327)). Dabei sollen „allerdings keine zu strengen Anforderungen gestellt werden" dürfen. Nur wenn „das zerstörte Bauwerk in Form und Ausstattung entscheidend vom Stil einer anderen Zeit geprägt“ war oder „infolge geänderter Bauvorschriften an seine Stelle nur noch die Errichtung eines nach Zuschnitt und äußerer Erscheinung gänzlich anders gearteten Gebäudes zulässig“ ist und dies dazu führt, dass „nach der Verkehrsanschauung der Neubau gegenüber dem zerstörten Haus selbst bei wertender Gesamtwürdigung von baulich-technischer und wirtschaftlich-funktionaler Seite als aliud erscheinen“ muss, dann ist, auch wirtschaftlich gesehen, der frühere Zustand nicht wiederherstellbar (BGHZ 102, 322 (328 f.)).
Die Annahme des BerGer., diese Voraussetzungen für die Unmöglichkeit einer Wiederherstellung seien im vorliegenden Fall gegeben, wird von den Feststellungen nicht getragen. Dabei muss vor allem berücksichtigt werden, dass es sich hier nicht um ein Haus, sondern um eine einzelne Mauer handelt, bei deren Zerstörung es in aller Regel eher möglich ist, den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen, als bei einem ganzen Wohngebäude. In wirtschaftlich-funktionaler Hinsicht liegt das auf der Hand; es ist ohne weiteres möglich, eine ebenso hohe und ebenso starke Mauer (von dem durch das Alter bedingten Qualitätszustand abgesehen) zu errichten. Aber auch in baulich-technischer Hinsicht hat das BerGer. keine Umstände festgestellt, die eine neue Mauer notwendig als ein aliud gegenüber der früheren erscheinen lassen müssten. Der Umstand, dass heute Stahlbeton verwendet werden kann (nicht muss) und die Einziehung von Pfeilern vorgeschrieben ist (das wird vom BerGer. nicht belegt), reicht dafür nicht aus, wenn man berücksichtigt, dass „keine zu strengen Anforderungen" gestellt werden sollen. Geht man davon aus, dass nach der „Verkehrsanschauung“ eine Wiederherstellung der Mauer möglich ist, dann können die Kl. zwar Erstattung der dafür erforderlichen Kosten verlangen. Sie müssen sich aber einen Abzug „neu für alt“ anrechnen lassen. Denn die neue Mauer ist wertvoller als die alte vor der Beschädigung. Dies ergibt sich schon aus der Lebenserfahrung und wird durch die Äußerung des Sachverständigen Prof. B nur bestätigt, nach der der Wert der neuen Mauer etwa dreimal so hoch ist wie der der alten.
c) Selbst wenn man aber mit dem BerGer. davon ausgeht, dass die Kl. nicht die Kosten der Wiederherstellung der Mauer unter Vornahme eines Abzugs „neu für alt“, sondern nur Ersatz der Minderung des Verkehrswerts des Grundstücks verlangen können, erweist die Berechnung der Wertminderung durch das BerGer. sich als rechtsfehlerhaft.
Das BerGer. schätzt die Minderung des Verkehrswerts auf die Höhe der Kosten für die „Sanierung“ der Mauer. Mit „Sanierung“ meint es den Abriss der alten und den Aufbau der neuen Mauer. Diese Gleichsetzung von Verkehrswertminderung und Sanierungskosten wäre nur zutreffend, wenn der Verkehrswert des Grundstücks sich durch die „Sanierung“ nicht ändern würde, d. h. wenn die Mauer in eben dem Zustand und Wert wieder hergestellt würde, den sie ohne die Beschädigung hatte. Nur dann könnte der Verkehrswert des Grundstücks mit der alten Mauer (unter Vernachlässigung der auszugleichenden Beschädigungen) demjenigen mit der neuen Mauer gleich sein und wäre auch die Wertminderung durch die auszugleichende Beschädigung den Kosten der Errichtung einer neuen Mauer gleich. Auch diese Annahme widerspricht aber nicht nur jeder Lebenserfahrung, sondern auch den erwähnten Angaben des Sachverständigen B. Es kann nicht angenommen werden, dass ein solcher Wertunterschied der Mauern sich auf den Verkehrswert des Grundstücks mit der alten und der neuen Mauer überhaupt nicht auswirkt. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass der Bau einer neuen Mauer auch den Verkehrswert des Grundstücks im Verhältnis zu dem Zustand mit der alten (aber unbeschädigten) Mauer erhöht.
3. Mit Recht rügt die Revision weiter, das BerGer. habe sich nicht mit dem Umstand befasst, dass die Mauer schon 1956 geneigt war. Wie der Senat schon in seinem Urteil vom 8. 3. 1990 (NJW 1990, 3195) ausgeführt hat, schließt dieser Umstand einen Ersatzanspruch zwar nicht schlechthin aus, kann ihn aber mindern.
Der nachbarrechtliche Ausgleichsanspruch gewährt für die Beeinträchtigung des Grundstücks einen angemessenen Ausgleich. Bei der Bemessung dieses Ausgleichs ist auch zu berücksichtigen, wenn das beeinträchtigte Grundstück sich in einem mangelhaften Zustand befunden hat, ohne den der Schaden nicht oder nicht in dem tatsächlich erlittenen Umfang eingetreten wäre (Senat, NJW 1971, 750; BGH, NJW-RR 1988; Hagen, in: Festschr. f. Lange, 1992, 483 ff. (503)). Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass ein Grundstück von schadensgeneigter Beschaffenheit für den Eigentümer eine schwächere Rechtsposition begründet, als wenn dem Grundstück diese Schadensneigung fehlt, und dass der schadensanfällige Zustand eines von einer Einwirkung betroffenen Grundstücks daher den Entschädigungsanspruch zu vermindern vermag (Senat, LM Art. 14 (Cc) GrundG Nr. 26 = VersR 1976, 760).
Mit dieser Frage hat das BerGer. sich überhaupt nicht auseinandergesetzt. Auch das ist rechtsfehlerhaft.
III. Das Berufungsurteil kann daher mit der gegebenen Begründung nicht bestehen bleiben. Eine abschließende sachliche Entscheidung ist dem Senat nicht möglich, weil dazu noch tatrichterliche Feststellungen erforderlich sind.
Kanzlei Prof. Schweizer Rechtsanwaltsgesellschaft mbH © 2020
Impressum | Datenschutz | Cookie-Einstellungen