Reiserücktritt bei Erkrankung - Wirksame Umschreibung von Reiserücktrittsvoraussetzungen mit "unerwartet schwer"
Gericht
LG München I
Datum
30. 03. 2000
Aktenzeichen
12 O 19386/99
§ 8 AGBG ist konform zu Richtlinie 53/13/EWG dahin gehend auszulegen, dass Kontrollfreiheit nur dann gegeben ist, wenn die Klauseln hinreichend bestimmt und transparent sind, also nicht gegen das Transparenzgebot verstoßen.
Es ist grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn der Versicherer in Allgemeinen Versicherungsbedingungen mit unbestimmten Rechtsbegriffen arbeitet. Der Pflichtenmaßstab des Verwenders von Allgemeinen Geschäftsbedingungen kann nicht entscheidend über den des Gesetzgebers hinausgehen, bei dem anerkannt ist, dass unbestimmte Rechtsbegriffe zulässig sind. Eine enumerative Aufzählung von Krankheiten birgt deren Unvollständigkeit in sich. Die Verwendung von Regelbeispielen führt nicht zu gesteigerter Klarheit für den Versicherungsnehmer.
Maßgebende Auslegungskriterien nach Literatur und Rechtsprechung sind objektive Kriterien. Danach liegt eine (unerwartete) schwere Erkrankung vor, wenn bei dem Versicherten aus dem Zustand des Wohlbefindens heraus Krankheitssymptome auftreten, die der Nutzung der gebuchten Hauptreiseleistung in diesem gesundheitlichen Befinden entgegenstehen. Dabei ist eine Krankheit schwer, wenn sie einen solchen Grad erreicht hat, dass der Antritt der Reise objektiv nicht zumutbar ist.
Der Versicherungsfall tritt ein, wenn es dem Versicherten auf Grund der Verletzung nach allgemeiner Lebenserfahrung voraussichtlich nicht möglich oder jedenfalls nicht zumutbar ist, die gebuchten Hauptreiseleistungen in Anspruch zu nehmen.
Der Ausschluss der Leistung wegen vorsätzlichen Herbeiführens des Versicherungsfalls enthält einen Ausschluss des subjektiven Risikos und entspricht bezüglich des Vorsatzerfordernisses der Vorschrift des § 61 VVG. Wenn der Inhalt einer Klausel mit dem der gesetzlichen Regelung übereinstimmt und hinsichtlich der groben Fahrlässigkeit für den Versicherungsnehmer günstiger ist, liegt ein Verstoß gegen das Transparenzgebot nicht vor.
Zum Sachverhalt:
Der Kl., zu dessen Mitgliedern insbesondere die Verbraucherzentralen der Länder gehören, nimmt die Interessen der Verbraucher durch Aufklärung und Beratung wahr. Die Bekl., eine Reiseversicherungsgesellschaft, verwendet in ihren Versicherungsverträgen - Reiserücktrittskostenversicherung, Reiseabbruchversicherung - u.a. folgende vorformulierte Klausel:
"Versicherungsschutz besteht, wenn die planmäßige Durchführung der Reise
nicht zumutbar ist, weil die versicherte Person selbst oder eine Risikoperson
während der Dauer des Versicherungsschutzes von einem der nachstehenden
Ereignisse betroffen wird …
- Schwere Unfallverletzung
- Unerwartet
schwere Erkrankung."
Der Kl. meint, diese Klausel benachteilige den Versicherungsnehmer unangemessen und sei deshalb unwirksam. Die Inhaltskontrolle finde bei dieser Klausel statt, auch wenn sie eine Leistungsbeschreibung enthalte; dies ergebe sich daraus, dass die Klausel nicht hinreichend transparent sei.
Die Klage auf Nichtverwendung dieser Klausel hatte keinen Erfolg.
Aus den Gründen:
Die Klage ist jedoch nicht begründet, weil dem Kl.
gegen die Bekl. kein Unterlassungsanspruch aus § 13 I AGBG zusteht. Danach kann
derjenige, der in Allgemeinen Geschäftsbedingungen Bestimmungen, die nach §§ 9 -
11 AGBG unwirksam sind, verwendet oder für den rechtsgeschäftlichen Verkehr
empfiehlt, auf Unterlassung in Anspruch genommen werden.
Die beiden Klauseln „schwere Unfallverletzung“ und „schwere Erkrankung“ unterliegen nicht der Inhaltskontrolle gem. §§ 9 - 11 AGBG, was sich aus der Regelung in § 8 AGBG ergibt.
1. Gem. § 8 AGBG unterliegen Allgemeine Geschäftsbedingungen, zu denen auch Allgemeine Versicherungsbedingungen gehören, nur dann einer Inhaltskontrolle entsprechend den Vorschriften in §§ 9 - 11 AGBG, wenn durch die Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen vereinbart werden. Ausnahmen hiervon und damit gerade nicht der Inhaltskontrolle unterliegend sind preisbestimmende, leistungsbeschreibende sowie deklaratorische Klauseln (vgl. nur Ulmer/Brandner/Hensen, AGBG, 8. Aufl., § 8 Rdnr. 5). Die angegriffenen Klauseln regeln die Voraussetzungen für das Eintreten des Versicherungsschutzes; es werden die versicherten Risiken in der Klausel aufgeführt. Deshalb handelt es sich um eine rechtsbegründende Risiko- bzw. Leistungsbeschreibung, die grundsätzlich von der Inhaltskontrolle ausgenommen ist.
2. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz besteht nicht, auch wenn die Richtlinie 93/13/EWG des Rates über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen vom 5. 4. 1993 berücksichtigt werden muss. Nach deren Art. 4 II betrifft die Beurteilung der Missbräuchlichkeit der Klauseln weder den Hauptgegenstand des Vertrags, noch die Angemessenheit zwischen dem Preis bzw. dem Entgelt und den Dienstleistungen bzw. den Gütern, die die Gegenleistung darstellen, sofern diese Klauseln klar und verständlich sind. Demgemäß ist § 8 AGBG, dessen Wortlaut dieses Erfordernis nicht erfasst, richtlinienkonform dahin gehend auszulegen, dass die Kontrollfreiheit nur dann gegeben ist, wenn die Klausel hinreichend bestimmt und transparent ist, also nicht gegen das Transparenzgebot verstößt (vgl. BGH, NJW 1995, 2710 = VersR 1995, 1186; Präve, VersR 2000, 138 [139]; Palandt/Heinrichs, BGB, 59. Aufl., § 8 AGBG Rdnr. 1a). Angesichts dieser Möglichkeit der richtlinienkonformen Auslegung war der bundesdeutsche Gesetzgeber nicht gehalten, das Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen abzuändern, um der Umsetzung der Richtlinie in innerstaatliches Recht Genüge zu tun.
Das Transparenzgebot gebietet, dass Vertragsklauseln klar und verständlich abgefasst sein müssen (vgl. BGHZ 106, 259 [264] = NJW 1989, 582; BGHZ 112, 115 [118] = NJW 1990, 2383). In erster Linie handelt es sich dabei um eine Anforderung an die Qualität der Formulierung der Klauseln, wobei von einem objektiven Maßstab auszugehen ist. Dagegen hat die Bekl. nicht verstoßen.
a) Es ist bei der Überprüfung des Verstoßes gegen das Transparenzgebot zu fragen, inwieweit der Inhalt der Klausel aus der Perspektive des Empfängerhorizonts eines durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Versicherungsnehmers begriffen werden kann. Dies ist vorliegend ebenso wie die hinreichende Klarheit der Klausel zu bejahen.
Der Klarheit und Verständlichkeit steht nicht entgegen, dass die Bekl. als Verwenderin mit dem Adjektiv „schwer“ zur Beschreibung der Intensität der Krankheit einen unbestimmten Rechtsbegriff in ihre Klausel aufgenommen hat. Es ist zwar allgemein davon auszugehen, dass in Allgemeinen Versicherungsbedingungen die tatbestandlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen so genau zu bezeichnen sind, dass sich keine ungerechtfertigten Beurteilungsspielräume ergeben können. Jedoch ist zu beachten, dass angesichts der Vielzahl denkbarer Konstellationen von Erkrankungen ein tendenziell höherer Abstraktionsgrad in Allgemeinen Versicherungsbedingungen kaum zu umgehen ist. Es lässt sich nicht von vornherein festschreiben, welche Erkrankungen oder welche Unfallverletzungen „schwer“ sind. Deshalb kann es nicht beanstandet werden, wenn die Bekl. - wie auch der Gesetzgeber - mit unbestimmten Rechtsbegriffen arbeitet. Die Allgemeinen Versicherungsbedingungen müssen eine Vielzahl von denkbaren Fällen umfassend regeln, was dazu führt, dass sie abstrakt-generellen Charakter haben müssen. Der Pflichtenmaßstab des Verwenders von Allgemeinen Geschäftsbedingungen kann deshalb nicht entscheidend über den des Gesetzgebers hinausgehen, bei dem anerkannt ist, dass unbestimmte Rechtsbegriffe zulässig sind (so Präve, VersR 2000, 138 [140]; Hellner, in: Festschr.f. Steindorf, S. 573 [584f.]). Eine Konkretisierung der Leistungspflicht ist anderweitig nicht ohne weiteres möglich. Eine enumerative Aufzählung von Krankheiten birgt die nicht zu vermeidende Unvollständigkeit in sich; die Verwendung von Regelbeispielen führt nicht zu einer gesteigerten Klarheit für den Versicherungsnehmer, da gerade bei Regelbeispielen immer die Möglichkeit der Ausnahme besteht, und der Versicherungsnehmer deshalb abgehalten werden kann, Ansprüche gegen den Versicherer geltend zu machen.
In Rechtsprechung und Literatur haben sich zudem Auslegungskriterien für die Frage entwickelt, wann eine „schwere Erkrankung“ oder eine „schwere Unfallverletzung“ vorliegt. Maßgeblich hierfür sind objektive Kriterien. Eine (unerwartete) schwere Erkrankung liegt vor, wenn bei dem Versicherten aus dem Zustand des Wohlbefindens heraus Krankheitssymptome auftreten, die der Nutzung der gebuchten Hauptreiseleistung in diesem gesundheitlichen Befinden entgegenstehen. Dabei ist eine Krankheit schwer, wenn sie einen solchen Grad erreicht hat, dass der Antritt der Reise objektiv nicht zumutbar ist (vgl. van Bühren/Nies, Reiseversicherung, AVBR u. ABRV, 2. Aufl., § 1 ABRV Rdnrn. 96, 109 m.w. Nachw.). Die Beurteilung als schwerer Unfall beurteilt sich danach, ob nach allgemeiner Lebenserfahrung die Reiseunfähigkeit des Versicherten zu erwarten ist. Der Versicherungsfall tritt ein, wenn es dem Versicherten auf Grund der Verletzung nach allgemeiner Lebenserfahrung voraussichtlich nicht möglich oder jedenfalls nicht zumutbar ist, die gebuchten Hauptreiseleistungen in Anspruch zu nehmen (vgl. van Büren/Nies, § 1 ABRV Rdnr. 81).
Diese Klausel ist auch für den verständigen Durchschnittsversicherungsnehmer so zu verstehen, dass eine gewichtige und bedeutsame Erkrankung oder ein gravierender Unfall auftreten muss, so dass die Durchführung der Reise nicht mehr möglich ist. Das Adjektiv „schwer“ entstammt auch der Alltagssprache und macht klar, dass ein erheblicher Grad einer Erkrankung oder eines Unfalls vorliegen muss, um den Versicherungsschutz in Anspruch nehmen zu können.
b) Ebenso wenig ergibt sich ein Verstoß gegen das Transparenzgebot aus der Kombination mit der weiteren Tatbestandsvoraussetzung der Unzumutbarkeit. Dieser Begriff der „Unzumutbarkeit“ knüpft für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer erkennbar an weitere subjektive Gegebenheiten an. Eine Unklarheit lässt sich daraus nicht ableiten. Vor allem auch wird dem durchschnittlichen Versicherungsnehmer klar, dass beide Voraussetzungen kumulativ vorliegen müssen.
c) Mangelnde Transparenz lässt sich auch nicht mit der vom Kl. zitierten Regelung aus § 5 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen begründen; nach dieser Klausel sind nicht versichert Schäden durch Streik, innere Unruhen, Kriegsereignisse, Kernenergie und Eingriffe von hoher Hand sowie solche, welche die versicherte Person vorsätzlich herbeiführt.
Der Kl. verweist auf diese Vorschrift des § 5 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen erstmalig in dem nicht nachgelassenen Schriftsatz vom 24. 2. 2000. Dies ist als tatsächliches neues Vorbringen zu werten, weil die Allgemeinen Versicherungsbedingungen dem Gericht nicht vorlagen. Es erscheint fraglich, ob der Hinweis auf § 5 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen Berücksichtigung finden kann, da er nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung erfolgte. Ein Anlass zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung gem. § 156 ZPO besteht jedenfalls nicht, weil sich auch aus dieser Regelung kein Verstoß gegen das Transparenzgebot ableiten lässt. Der Ausschluss der Leistung wegen vorsätzlichen Herbeiführens des Versicherungsfalls enthält einen Ausschluss des subjektiven Risikos und entspricht bezüglich des Vorsatzerfordernisses der Vorschrift des § 61 VVG. Wenn der Inhalt einer Klausel mit dem der gesetzlichen Regelung übereinstimmt und hinsichtlich der groben Fahrlässigkeit für den Versicherungsnehmer günstiger ist, liegt ein Verstoß gegen das Transparenzgebot nicht vor.
Bei dem ersten Teil der Allgemeinen Versicherungsbedingungen, der auf Schäden
durch Streik und ähnliche Umstände verweist, liegt ein objektiver
Risikoausschluss vor, da bei diesen Merkmalen an einen tatsächlichen Zustand
angeknüpft wird (vgl. van Büren/Nies, § 2 ABRV Rdnr. 3). Ein derartiger
Risikoausschluss gehört zu den typischen Gestaltungsmöglichkeiten im
Versicherungsvertrag. Wenn die Bekl. eine solche Möglichkeit wählt, kann darin
kein Verstoß gegen das Transparenzgebot gesehen werden.
Es bleibt deshalb
festzuhalten, dass die vom Kl. beanstandete Klausel klar und verständlich
abgefasst wurde. Die Inhaltskontrolle ist somit nicht eröffnet.
Die gegen das Urteil eingelegte Berufung des Kl. wurde zurückgewiesen (OLG München, Urt. v. 19. 10. 2000 - 29 U 3316/00).
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