Stornierungsgebühren - Teilung der Hotelstornokosten bei Reisekündigung wegen höherer Gewalt

Gericht

BGH


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

23. 11. 1989


Aktenzeichen

VII ZR 60/89 (Karlsruhe)


Leitsatz des Gerichts

  1. Der Reaktorunfall in Tschernobyl vom 25./26. 4. 1986 ist nicht vorhersehbare höhere Gewalt i. S. des § 651j I BGB, die zur Kündigung einer vom 4. bis 9. 5. 1986 für eine Schulklasse gebuchten Reise nach Prag berechtigte.

  2. Zum Anspruch des Reiseveranstalters auf Ersatz von Hotel-Stornokosten, wenn der Reisende den Reisevertrag vor Reisebeginn wegen nicht vorhersehbarer höherer Gewalt kündigt.

Tatbestand

Zum Sachverhalt:

Dr. S, Lehrer eines Gymnasiums, buchte bei dem Kl. - einem Omnibusreiseunternehmer - für die Zeit vom 4. bis 9. 5. 1986 eine Klassenfahrt nach Prag. Am 3. 5. 1986 teilte er dem Kl. mit, das zuständige Ministerium des beklagten Landes habe aufgrund des Reaktorunfalls in Tschernobyl vom 25./26. 4. 1986 angeordnet, von der Reise abzusehen. Die Klassenfahrt wurde daraufhin nicht durchgeführt. Der Kl., der sämtliche Reiseleistungen der geplanten Reise erbringen sollte, verlangte mit der Klage Ersatz bezahlter Stornogebühren für Hotelkosten in Höhe von 5123,20 DM sowie erbrachter Auslagen für beantragte Visa und ausgehändigte Fachliteratur in Höhe von insgesamt 1262,02 DM, jeweils nebst Zinsen.

Das LG hat der Klage in Höhe von 1262,02 DM nebst Zinsen stattgegeben und sie im übrigen abgewiesen. Das OLG hat die Berufung des Kl., mit der er die Verurteilung des beklagten Landes zur Zahlung weiterer 5123,20 DM nebst Zinsen erstrebte, zurückgewiesen. Der BGH hat auf die zugelassene Revision des Kl. die Urteile der Vorinstanzen dahin abgeändert, daß dem Kl. insgesamt 3823,62 DM nebst Zinsen zugesprochen wurden.

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

I. Das BerGer. nimmt an, aufgrund des Reaktorunfalls in Tschernobyl habe der Reisevertrag gem. § 651j BGB gekündigt werden können.

Nicht entscheidend sei, wie sich aus heutiger Sicht die tatsächliche Gefahr einer erhöhten Strahlenbelastung in der CSSR darstelle. Vielmehr sei auf den damals verfügbaren Informationsstand abzustellen. Zur Zeit der vorgesehenen Reise seien von den tschechischen Behörden weder Werte über die Strahlenbelastung in der CSSR bekannt gegeben noch irgendwelche Vorsorgemaßnahmen empfohlen worden. Über die mit der geplanten Reise verbundenen Gefahren habe somit große Ungewißheit bestanden. Dagegen wendet sich die Revision ohne Erfolg.

1. Nach § 651j BGB können sowohl der Reiseveranstalter als auch der Reisende den Vertrag kündigen, wenn die Reise infolge bei Vertragsschluß nicht voraussehbarer höherer Gewalt erheblich erschwert, gefährdet oder beeinträchtigt wird. Das Reaktorunglück von Tschernobyl ist ein solcher Fall höherer Gewalt. Als unerwartet eingetretenes nicht abwendbares Ereignis hatte es seinen Ursprung weder in der Sphäre des Kl. als Reiseveranstalter noch in der der Reiseteilnehmer; der Kl. konnte ihm - etwa durch eine Änderung des Reiseverlaufs - nicht ausweichen (vgl. Senat, BGHZ 100, 185 (188) m. w. Nachw. = NJW 1987, 1938 = LM § 651f BGB Nr. 9; Larenz, Lehrb. d. SchuldR, Bd. II 1, 13. Aufl., § 53 V, S. 393). Auch wäre die vorgesehene Reise durch den Reaktorunfall erheblich beeinträchtigt und erschwert worden, ohne daß die vom Kl. geschuldeten Reiseleistungen selbst Mängel aufgewiesen hätten (vgl. Senat, BGHZ 85, 50 (57, 58) = NJW 1983, 33 = LM § 651e BGB Nr. 1). Nach dem allein maßgeblichen Kenntnisstand unmittelbar vor Reiseantritt war eine Gesundheitsgefährdung der Reiseteilnehmer aufgrund erhöhter Strahlenbelastung nicht auszuschließen; dieses Risiko war den Reisenden nicht zuzumuten. Das beklagte Land, vertreten durch Dr. S, konnte daher den Reisevertrag gem. § 651j I BGB wegen höherer Gewalt kündigen (vgl. auch LG Freiburg, NJW-RR 1988, 953; AG Ansbach, NJW-RR 1987, 497; AG Rendsburg, NJW-RR 1987, 1080; Tonner, VuR 1986, 5; Wolter, in: MünchKomm, 2. Aufl., § 651j Rdnr. 9).
2. Soweit die Revision in diesem Zusammenhang Verfahrensfehler rügt, hat der Senat die Rügen geprüft, aber nicht für durchgreifend erachtet (§ 565a ZPO).
II. Das BerGer. führt weiter aus, die Zahlungen des Kl. an das Hotel in Prag könnten nicht als erbrachte Leistungen i. S. des § 651e III BGB behandelt werden. Erbracht seien nur die Leistungen, die die Reisenden bis zum Zeitpunkt der Kündigung in Anspruch genommen hätten. Da die Reise aber gar nicht erst durchgeführt worden sei, habe der Kl. die entscheidende Leistung, nämlich Gewährung von Unterkunft und Verpflegung, nicht erbracht. Er könne daher keine Entschädigung verlangen.

Das hält der rechtlichen Nachprüfung nicht in vollem Umfang stand.

1. Wird der Reisevertrag nach § 651j I BGB wegen höherer Gewalt gekündigt, kann der Reiseveranstalter gem. §§ 651j II 1, 651e III 2 BGB für die bereits erbrachten oder zur Beendigung der Reise noch zu erbringenden Reiseleistungen eine Entschädigung verlangen. Dem Kl. steht ein solcher Entschädigungsanspruch - wie das BerGer. mit Recht annimmt - nicht zu. Zwar war er als Reiseveranstalter nach dem zustande gekommenen Vertrag verpflichtet, neben der Visabeschaffung, der Durchführung der Fahrt und der Betreuung der Reisenden durch sachkundige Führer auch die vorgesehene Hotelunterkunft mit Verpflegung bereitzustellen. Er mußte deshalb durch entsprechende Vereinbarungen mit einem Hotel Reservierungen vornehmen lassen, um den Erfolg der Reise zu gewährleisten. Die ihm nach kurzfristiger Kündigung wegen höherer Gewalt und der daraufhin nicht durchgeführten Reise auferlegten Stornokosten beruhen jedoch nicht auf dem Reisevertrag. Diese Kosten „wurzeln“ allein in dem Verhältnis zwischen Reiseveranstalter und Leistungsträger, auf das der Reisende keinen Einfluß nehmen kann und das ihm in der Regel unbekannt ist. Sie können daher - weil nicht im Verhältnis zwischen Reiseveranstalter und Reisenden entstanden - nicht als erbrachte Reiseleistungen i. S. des § 651e III 2 BGB angesehen werden. Daß der Reiseveranstalter bei einer Kündigung nach § 651j I BGB gem. § 651j II 1 i. V. mit § 651e III 3 BGB auch für die Leistungen eine Entschädigung verlangen kann, die für den Reisenden infolge der Aufhebung des Vertrags kein Interesse haben, steht dem nicht entgegen. Auch insoweit muß der Reiseveranstalter „Reiseleistungen“ bereits erbracht haben oder noch erbringen; sein Anspruch auf Entschädigung ist stets an Reiseleistungen geknüpft.

2. Der Senat ist jedoch der Ansicht, daß dem Kl. aufgrund der in § 651j II BGB zum Ausdruck gebrachten Risikoverteilung zwischen Reiseveranstalter und Reisendem ein Anspruch auf Ersatz der Stornokosten zur Hälfte zusteht.

a) Die Vorschrift des § 651j I BGB stellt im Anschluß an § 11 des von der Bundesregierung vorgeschlagenen Entwurfs eines Gesetzes über den Reiseveranstaltungsvertrag eine Sonderregelung des Wegfalls der Geschäftsgrundlage dar (vgl. BT-Dr 8/786, S. 21; 8/2343, S. 12). Sie läßt eine Kündigung des Reisevertrags auch dann zu, wenn der Reiseveranstalter zwar seinen Leistungspflichten nachgekommen ist oder nachkommen kann, jedoch aufgrund höherer Gewalt die Geschäftsgrundlage des Vertrags entfallen ist (vgl. Senat, BGHZ 85, 50 (56, 57( = NJW 1983, 33 = LM § 651e BGB Nr. 1). Wird aus diesen Gründen der Vertrag gekündigt, ist das Risiko der gescheiterten Reise zwischen beiden Vertragsparteien angemessen zu verteilen, weil eine Gefährdung oder Beeinträchtigung einer Reise durch höhere Gewalt weder in den Risikobereich des Reiseveranstalters noch in den des Reisenden fällt.

Mit der Regelung des § 651j II BGB hat der Gesetzgeber diese Risikoverteilung in der Weise vorgenommen, daß er einmal dem Reiseveranstalter als Ausgleich für die Kündigungsmöglichkeit des Reisenden auch und gerade bei mängelfreier Reiseleistung einen Entschädigungsanspruch für erbrachte oder noch zu erbringende Reiseleistungen unabhängig davon einräumt, ob diese Leistungen nach der Kündigung für den Reisenden noch von Interesse sind (§ 651j II 1 i. V. mit § 651e III BGB). Zum anderen hat er bestimmt, daß Mehrkosten für die Rückbeförderung von den Parteien je zur Hälfte zu tragen sind (§ 651j II 2 BGB) und die im übrigen aufgrund höherer Gewalt entstandenen Mehrkosten dem Reisenden zur Last fallen (§ 651j II 3 BGB).

Mit dieser gesetzgeberischen Wertung soll bei einer Kündigung des Reisevertrags wegen höherer Gewalt ein möglichst gerechter Interessenausgleich zwischen Reiseveranstalter und Reisendem erreicht werden. Das Risiko von Leistungsstörungen bei Wegfall der Geschäftsgrundlage soll nicht allein der Reiseveranstalter tragen; er wird daher jedenfalls teilweise entlastet. Andererseits werden die aufgrund höherer Gewalt eintretenden oder eingetretenen Risiken weitgehend auf den Reisenden verlagert (vgl. auch Wolter, AcP 183 (1983), 35 (50 ff.)); durch höhere Gewalt verursachte Mehrkosten fallen grundsätzlich ihm zur Last (vgl. Senat, BGHZ 85, 50 (58) = NJW 1983, 33 = LM § 651e BGB Nr. 1).

b) Ausgehend von den Grundgedanken dieser Regelung ist der Senat der Auffassung, daß bezahlte Stornokosten für eine wegen höherer Gewalt nicht in Anspruch genommene Hotelunterkunft, die keine erbrachten Reiseleistungen darstellen und für die der Reiseveranstalter deshalb gem. §§ 651j II 1, 651e III 2 BGB keine Entschädigung verlangen kann, nicht allein vom Reiseveranstalter zu tragen sind. Zwar wäre es unbillig, solche Kosten wie die aufgrund einer Kündigung wegen höherer Gewalt anfallenden Mehrkosten mit Ausnahme der Mehrkosten für die Rückbeförderung allein dem Reisenden aufzuerlegen, zumal dieser dem Risiko einer wegen höherer Gewalt gescheiterten Reise ebenso fernsteht wie der Reiseveranstalter. In Anlehnung an die der Regelung des § 651j II 2 BGB über den Ausgleich der Mehrkosten für die Rückbeförderung zugrunde liegende Risikoverteilung ist es jedoch angemessen, etwaige aufgrund einer Kündigung wegen höherer Gewalt entstandene Stornokosten für die vom Reiseveranstalter bereits vorgenommene und auch notwendige Hotelreservierung beiden Parteien je zur Hälfte aufzuerlegen. Auch solche Kosten sind unvorhersehbare „Mehrkosten“, die - wie die Mehrkosten für die Rückbeförderung - allein durch höhere Gewalt entstanden sind und nach Treu und Glauben nicht nur von einer Partei getragen werden können. Insofern ist durch Anwendung der allgemeinen Grundsätze von Treu und Glauben die gesetzliche Regelung ergänzungsbedürftig, die auf Kosten, wie sie hier entstanden sind, nicht zugeschnitten ist.

c) Eine derartige Risikoverteilung ist allein sach- und interessengerecht. Bei einem Wegfall der Geschäftsgrundlage ist gem. § 242 BGB grundsätzlich der Inhalt des Vertrags den veränderten Umständen anzupassen (vgl. BGHZ 47, 48 (51, 52) m. w. Nachw. = NJW 1967, 721 = LM § 306 BGB Nr. 5). Diese Anpassung kann darin bestehen, daß ein an sich von einer Partei zu tragendes Risiko auf beide Parteien je zur Hälfte verteilt wird (BGH, NJW 1984, 1746 (1747) = LM § 242 (Bb) BGB Nr. 108). Auch im Streitfall ist es angemessen, das aufgrund der vor Reisebeginn ausgesprochenen Kündigung nach der gesetzlichen Regelung allein vom Kl. als Reiseveranstalter zu tragende Risiko, Stornokosten an ein Hotel zahlen zu müssen, zur Hälfte den Reisenden aufzuerlegen. Eine solche Risikoverteilung erscheint um so mehr geboten, als die Vorschrift des § 651j BGB hinsichtlich der Kostenpflicht eine zu starre Regelung enthält. Darauf wurde bereits im Rechtsausschuß des Bundestags von einer Minderheit hingewiesen (BT-Dr 8/2343, S. 13), diese Auffassung wird auch vom Schrifttum geteilt (Bartl, ReiseR, 2. Aufl., Rdnr. 152; Klatt, Gesetz über den Reisevertrag, Anm. zu § 651j).

Die gegenteilige Ansicht, die dem Reiseveranstalter im Fall einer Kündigung wegen höherer Gewalt vor Beginn der Reise jeden Anspruch auf Entschädigung versagt und ihm insoweit das Risiko allein überbürdet (so Larenz, SchuldR, Bd. II 1, 13. Aufl., S. 394; vgl. auch Löwe, Das neue PauschalreiseR, S. 99 zu § 651e BGB), wird der hier gebotenen Risikoverteilung nicht gerecht. Insbesondere übersieht sie, daß der Reisevertrag wegen unvorhersehbarer höherer Gewalt schon vor Beginn der Reise gekündigt werden kann und dem Reiseveranstalter für bereits erbrachte Reiseleistungen (z. B. Auslagen für Visabeschaffung, Reiseleiter, Reiseliteratur) grundsätzlich ein Entschädigungsanspruch zusteht (h. M., vgl. Erman-Seiler, BGB, 7. Aufl., § 651j Rdnr. 5; Jauernig-Teichmann, BGB, 4. Aufl., § 651j Anm. 3; Palandt-Thomas, BGB, 48. Aufl., § 651j Anm. 1, 3; Staudinger-Schwerdtner, BGB, 12. Aufl., § 651j Rdnrn. 15, 26; Wolter, in: MünchKomm, § 651j Rdnr. 3).

Rechtsgebiete

Reiserecht

Normen

BGB §§ 651j, 651e