Darlegungs- und Beweislast zu medizinischen Fragen

Gericht

OLG Brandenburg


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

11. 07. 2001


Aktenzeichen

1 U 4/01


Leitsatz des Gerichts

  1. Im Arzthaftungsprozess ist die Darlegungslast des klagenden Patienten geringer als in vielen anderen Verfahren. Denn es kann vom Patienten nicht erwartet werden, dass er das nötige Fachwissen zur Darstellung des Sachverhalts vor Gericht hat.

  2. Das Gericht hat in Arzthaftungsprozessen die Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die KI hat den Bekl, einen Facharzt für Gynäkologie in eigener Praxis, wegen frauenärztlicher Behandlung auf Schadensersatz und Schmerzensgeld in Anspruch genommen.

Die KI trug sich seit 1997/98 mit dem Wunsch, mit ihrem damaligen Lebensgefährten ein Kind zu haben. Da die erhoffte Schwangerschaft ausblieb, begab sie sich am 11. 9. 1998 in die gynäkologische Behandlung des Bekl. Bei der Untersuchung der KI, unter anderem auch durch Sonographie, stellte der Bekl Zysten fest. Vor dem Hintergrund des Verdachts auf beiderseitigen Tubenverschluss empfahl er in einer weiteren Konsultation am 18. 1. 1999, die Durchgängigkeit der Eileiter zu überprüfen. Auf Rat des Bekl und entsprechenden Wunsch der KI wurde die Durchführung einer Echovist-HSG-Untersuchung (Hysterosalpingographie) verabredet. Hierbei handelt es sich um ein ambulantes Verfahren zur Tubendiagnostik mittels Kontrastmittel und Ultraschall. Dabei wird in kleinen Mengen Kontrastmittel (hier: D-Galactose) in die Gebärmutterhöhle eingegeben und über eine parallele Sonographie auf dem Ultraschall-Monitor beobachtet, ob das Kontrastmittel von der Gebärmutter in die Eileiter gelangt. Geschieht dies, so erweisen sich die Eileiter (Tuben) als durchgängig; anderenfalls ist ein Tubenverschluss festzustellen. Nach klinischer Untersuchung, Kontrollsonographie und Scheidendesinfektion mittels Nufuran G-Zäpfchen wurde die Echovist-HSGUntersuchung am 4. 2. 1999, gegen 16.00 Uhr, vorgenommen. Dabei ergab sich, dass der linke Eileiter der KI durchgängig, der rechte Eileiter hingegen verschlossen war. Nach Auftreten von Beschwerden begab sich die KI am Folgetag, dem 5. 2. 1999, zur stationären Behandlung in das Städtische Klinikum B GmbH. Am 9. 2. 1999 erfolgte dort wegen Verdachts auf Abzess im Unterbauch eine operative Laparoskopie, bei der sich Verwachsungen des großen Netzes an der Uterusvorwand und den linken Adnexen (Tuben, Ovarien) sowie ein Abszess im Douglas'schen Raum zeigten. Hierauf wurde der Bauch durch Laparotomie eröffnet. Dabei ergaben sich eine eitrige Pelveoperitonitis (Beckenbauchfellentzündung), eine Pyosalpinx (Eileiterentzündung) links, die dicht am Uterus perforiert war, und eine Sactosalpinx (Tubenverschluss) rechts, wobei die rechte Tube ebenfalls in Adhäsionen eingebettet war; im isthmischen Bereich beider Tuben bestanden eichelgroße Knoten (Salpingitis isthmica nodosa). Nach Eiterabsaugung und Lösung der Adhäsionen wurden beide Eileiter entfernt und der Teil des großen Netzes, der den Abszess abgedeckelt hatte, wegen entzündlicher Infiltrationen reseziert. Der weitere Verlauf der Behandlung verlief ohne Komplikationen. Die stationäre Behandlung endete am 19. 2. 1999. Infolge der Operation vom 9. 2. 1999 ist die KI empfängnisunfähig. Zudem verblieb eine Quer-Narbe in der Schambehaarung. Im Juni 2000 kam es zur Trennung von ihrem Lebensgefährten. Die KI hat behauptet, sie sei von dem Bekl über die Echovist-HSG-Untersuchung, insbesondere auch deren Risiken, nicht aufgeklärt worden. Der zunächst in Aussicht genommene Termin zur Durchführung der Echovist-HSG sei um eine Woche auf den 4. 2. 1999 verschoben worden, da sich ihre monatliche Regelblutung um eine Woche verspätet habe. Bereits am Abend des 4. 2. 1999, also wenige Stunden nach der Echovist-HSG, habe sie ziehende Schmerzen im gesamten Unterleib verspürt, die stetig zugenommen u nd schließlich ein unerträgliches Maß erreicht hätten. Daher sei sie noch in der gleichen Nacht - am 5. 2. 1999, gegen 3.00 Uhr - von ihrem damaligen Lebensgefährten zur Notaufnahme des Städtischen Klinikums B GmbH gebracht und sogleich zur stationären Behandlung aufgenommen worden. Dort habe sie erfahren, dass eine eitrige Entzündung beider Eileiter vorliege und mit der Echovist-HSG zusammenhängen könne. Als künftige Schadensfolgen sei mit Entzündungen an den Schnittstellen im Unterbauch, Depressionen wegen fehlgeschlagener Lebensplanung und Empfängnisunfähigkeit sowie Nachteilen im Zusammenhang mit möglichen Maßnahmen zur Refertilisation zu rechnen. Die KI hat geltend gemacht, es deute vieles - vor allem auch der enge zeitliche Zusammenhang - darauf hin, dass die Eileiter- und Beckenbauchfellentzündungen und damit auch die Operation vom 9. 2. 1999 durch Fehler des Bekl bei der Durchführung der Echovist-HSG verursacht worden seien. Hierfür spreche ein Beweis des ersten Anscheins. Der Eingriff vom 4. 2. 1999 sei bereits mangels zureichender Aufklärung über die Echovist-HSG und deren Risiken rechtswidrig gewesen. Zudem habe es der Bekl versäumt, vor dem Eingriff vom. 4. 2. 1999 die nötigen Voruntersuchungen vorzunehmen, insbesondere ein Blutbild unter Einschluss der Blutsenkung zu ermitteln, um eine etwaige Entzündung im Bauchraum abzuklären, zumal sich aus der Verzögerung der Regelblutung möglicherweise entsprechende Verdachtsmomente ergeben hätten. Unter Berücksichtigung der erlittenen Beschwerden, des zweiwöchigen stationären Aufenthalts, der Operation vom 9. 2. 1999 und der eingetretenen Dauerfolgen hat die KI ein Schmerzensgeld von mindestens 100000 DM für angemessen gehalten.

Die KI hat die Verurteilung der Bekl zur Zahlung von Schmerzensgeld und die Feststellung der Ersatzpflicht des Bekl verfolgt.

Er hat behauptet, bereits bei der Untersuchung am 11. 9. 1998 habe sich auf Grund der Sonographie der dringende Verdacht auf beiderseitigen Tubenverschluss ergeben, den er mit der Kl besprochen habe. Er habe hierbei sowie am 18. 1. 1999 darauf hingewiesen, dass eine weitere Abklärung entweder durch eine stationäre Chromolaparoskopie in OP-Bereitschaft oder durch eine ambulante Echovist-HSG erfolgen könne. Die KI habe einen stationären Aufenthalt vermeiden wollen und sich daher ausdrücklich für die Echovist-HSG entschieden. Über dieses Untersuchungsverfahren und seine Risiken sei die KI am 4. 2. 1999 vor Durchführung des Eingriffs aufgeklärt worden. Der Termin vom 4. 2. 1999 sei bereits am 18. 1. 1999 festgelegt worden Die Echovist-Untersuchung sei fehlerfrei verlaufen; da kein Hinweis auf eine akute Erkrankung vorgelegen habe, sei eine vorherige Blutuntersuchung nicht erforderlich gewesen. Zudem bestehe kein Kausalzusammenhang zwischen der Echovist-HSG und der Operation vom 9. 2. 1999.

Die Klage wurde abgewiesen. Die Berufung der Klage war erfolgreich.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

... Auf die zulässige Berufung der KI war die angefochtene Entscheidung einschließlich des zugrunde liegenden Verfahrens wegen schwer wiegender Verfahrensmängel gem. § 539 ZPO aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LG Potsdam zurückzuverweisen.

1. Die Berufung der KI ist zulässig. Sie ist gem. §§ 511, 511a Abs. 1 ZPO an sich statthaft und form- und fristgerecht bei dem zuständigen Brandenburgischen OLG eingelegt und begründet worden (§§ 516, 519 f. ZPO, § 119 Abs. 1 Nr. 3 GVG).

2. Wegen wesentlicher Verfahrensmängel wird die angefochtene Entscheidung einschließlich des zugrunde liegenden Verfahrens gem. § 539 ZPO aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LG Potsdam zurückverwiesen.

Das LG hat mit seiner Annahme, dass die KI für einen kausalen Behandlungsfehler, insbesondere für die haftungsbegründende Kausalität, keine genügenden Anhaltspunkte dargetan habe und die Klage daher ohne Beweiserhebung abzuweisen sei, die besonderen prozessualen Grundsätze für Arzthaftungssachen schwer wiegend verkannt. An die Darlegungs- und Substantiierungspflichten des klagenden Patienten sind im Arzthaftungsprozess nur maßvolle Anforderungen zu stellen, da ihm regelmäßig die genaue Einsicht in das Behandlungsgeschehen und das nötige medizinische Fachwissen zur Erfassung und Darstellung des Konfliktstoffes fehlen (s. BGH NJW 1981, 630, 631; VersR 1981, 752; NJW 1987,500; Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, 8. Aufl. 1999, Rn. 580 f. m w. N.; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 4. Aufl. 2001, 243 f. m. w. N.). Hiermit korrespondiert eine verstärkte Pflicht des Gerichts zur Aufklärung des Sachverhalts im Wege der Amtsermittlung (s. BGH VersR 1980, 940 f.; VersR 1980, 533; VersR 1982, 168 f.; Steffen/Dressler, aaO, Rn. 578, 585; Geiß/Greiner aaO, 243, 247, 248 m. w. N.). Diesen Grundsätzen hat das LG nicht ansatzweise entsprochen; soweit es in dem landgerichtlichen Urteil heißt, dass an die Substantiierungslast des Patienten 'keine überzogenen Anforderungen' gestellt werden dürfen, erscheint dies als bloßes 'Lippenbekenntnis'. Die KI hat in ihrem Vortrag erkennen lassen, dass aus ihrer Sicht ernstliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Echovist-HSG-Untersuchung vom 4. 2. 1999 zum Eintritt einer Eileiter- und Beckenbauchfellentzündung, dem stationären Aufenthalt vom 5. bis 19. 2. 1999 und - vor allem - zur Operation vom 9. 2. 1999 sowie den daraus erwachsenen Dauerfolgen (Gebärunfähigkeit, Narbe) geführt habe; dies sei ihr bereits im Krankenhaus als möglich dargestellt worden. Weiter gehenden Vortrag kann man von einem medizinischen Laien zur Frage der Kausalität nicht erwarten. Darüber hinaus hat sich die KI auf eine unterbliebene Aufklärung, vor allem hinsichtlich der (Infektions-)Risiken der Echovist-HSG, sowie auf mögliche Behandlungsfehler, insbesondere das Unterbleiben einer vorherigen Abklärung auf kontraindizierende Infektionen durch eine Blutuntersuchung, berufen. Auch diesen Vortrag durfte das LG nicht schlicht als unsubstantiiert oder gar im Wege der unzulässigen vorweggenommenen Beweiswürdigung als irrelevant abtun.

In einer solcherart schwer wiegenden Verkennung der besonderen Verfahrensgrundsätze des Arzthaftungsrechts liegt ein wesentlicher Verfahrensfehler i. S. v. § 539 ZPO, der zur Aufhebung und Zurückverweisung führen kann. Anerkanntermaßen stellt das Unterlassen einer Beweiserhebung aus irrigen Erwägungen ebenso wie das Anlegen übersteigerter Substantiierungsanforderungen an die Partei mit korrespondierender Vernachlässigung der gerichtlichen Aufklärung einen Verfahrensfehler i. S. v. § 539 ZPO dar (vgl. BGH NJW 1995, 3124, 3125; Zöller/Gummer ZPO, 22. Aufl. 2001, § 539 Rn. 19; Baumbach/Albers, ZPO, 59. Aufl. 2001, § 539 Rn. 5 m. w. N.). Entsprechendes gilt für Fälle, in denen die erforderliche Sachaufklärung unter Verletzung von Verfahrensnormen, die das rechtliche Gehör und eine umfassende und sachgerechte Aufklärung des streitgegenständlichen Sachverhalts gewährleisten sollen, unterblieben ist (vgl. BGH NJW 1993, 538 f, Musielak/Ball, ZPO, 2. Aufl. 2000, § 539 Rn. 6; Thomas/Putzo, ZPO, 22. Aufl. 1999, § 539 Rn. 7). Freilich fehlt es an einem Verfahrensfehter i. S. v. § 539 ZPO, wenn das Gericht das Vorbringen einer Partei lediglich für nicht genügend substantiiert hält oder infolge materiellrechtlicher Erwägungen von einer Beweisaufnahme absieht (s. BGH NJW 1993, 538, 539; NJW 1993, 2318, 2319; NJW-RR 1995, 123, 125; NJW 1997, 1447 f.; NJW 2000, 2099, 2100; Musielak/Ball, aaO; § 539 Rn. 7, 9; Thomas/Putzo, aaO, § 539 Rn. 4; Baumbach/Albers, aaO, § 539 Rn. 4). Der Fehler des LG liegt hier aber im Schwerpunkt nicht in einer materiellrechtlichen oder die Auslegung des Sachverhalts betreffenden Fehleinschätzung, sondern in der Verkennung der besonderen Verfahrensgrundsätze für Arzthaftungssachen, die ihrerseits auf Verfassungsgebote zurückgehen (faires Verfahren, Waffen- und Chancengleichheit, rechtliches Gehör). Darin liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel i. S. v. § 529 ZPO.

Da der Fortgang des Verfahrens weder einer Anhörung der Parteien noch der Beweiserhebung bedarf (s. nachfolgend), hat der Senat davon abgesehen, gem. § 5401 ZPO in der Sache selbst zu entscheiden.

3. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

Gegen die Zulässigkeit der Klage bestehen keine durchgreifenden Bedenken. Bei der Prüfung der Begründetheit der Klage (Schadensersatzansprüche aus positiver Vertragsverletzung sowie aus §§ 823, 249 ff., 847 Abs. 1 BGB) ist zwischen der Rüge eines Aufklärungsmangels und dem Vorwurf des Behandlungsfehlers zu unterscheiden. In Bezug auf den gerügten Aufklärungsmangel ist anhand einer persönlichen Anhörung der Parteien unter Auswertung der Patientenunterlagen zu klären, in welcher Weise und über welche Risiken der Echovist-HSG der Bekl die KI aufgeklärt hat und ob sich die KI bei weiter gehender Aufklärung in einem echten Entscheidungskonflikt befunden hätte. Sodann wäre, ggf. durch Hinzuziehung eines medizinischen Sachverständigen, zu klären, ob Risiken, die der Bekl der KI etwa nicht mitgeteilt hat, für die Echovist-HSG typisch und vorliegend relevant geworden sind und ob ein Kausal-Zusammenhang zwischen der Echovist-HSG und der stationären Behandlung vom 5. bis 19. 2. 1999 - vor allem der Operation vom 9. 2. 1999 - besteht; für die letztgenannte Frage sind insbesondere auch die Behandlungsunterlagen des Krankenhauses auszuwerten. Zu dem Vorwurf eines Behandlungsfehlers ist durch Gutachten eines medizinischen Sachverständigen zu klären, ob etwa das Unterbleiben einer vorherigen Abklärung auf kontraindizierende Infektionen durch eine Blutuntersuchung nach Lage des Falles einen ggf. schweren - ärztlichen Kunstfehler dargestellt hat und auf eine kausale Verknüpfung zwischen der Echovist-HSG und der stationären Behandlung vom 5. bis 19. 2. 1999 vor allem der Operation vom 9. 2. 1999 - geschlossen werden kann bzw. ob sich aus dem gesamten GeschehensabIauf genügende Anhaltspunkte für die Annahme eines (anderweitigen) kausalen Behandlungsfehlers bei der Durchführung der Echovist-HSG ergeben. Sofern sich danach eine Haftung des Bekl dem Grunde nach ergibt, wären, ggf. unter sachverständiger Beratung, weitere Feststellungen zu den bereits eingetretenen und zur Frage der nicht fern liegenden Möglichkeit künftiger Schadensfolgen zu treffen.

Soweit die Parteien in nach Schluss der mündlichen Verhandlung eingereichten Schriftsätzen ihre Bereitschaft bekundet haben, in dieser Sache ein Schlichtungsverfahren vor der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der Norddeutschen Ärztekammer durchzuführen, bleibt es ihnen unbenommen, für diesen Fall vor dem LG die Anordnung des Ruhens des Verfahrens (§ 251 ZPO) zu beantragen ...

Rechtsgebiete

Arzthaftungsrecht

Normen

ZPO §§ 138, 539