Schadensteilung bei Zusammenstoß mit Gegenverkehr, der bei Rot in die Kreuzung einfährt - Vertrauen auf verkehrsgerechtes Verhalten der Verkehrsteilnehmer

Gericht

BGH


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

02. 03. 1982


Aktenzeichen

VI ZR 230180 (Schleswig)


Leitsatz des Gerichts

  1. Ein Linksabbieger darf in der Regel darauf vertrauen, daß ein im Gegenverkehr entgegenkommender an sich vorfahrtberechtigter Verkehrsteilnehmer das Rotlicht einer dazwischenliegenden Fußgängerbedarfsampel nicht bewußt mißachten wird.

  2. Ein Verkehrsteilnehmer darf in der Regel einen Mitverschuldenseinwand gegenüber einem auf sein verkehrsgerechtes Verhalten Vertrauenden nicht aus dem Vorwurf herleiten, dieser habe mit seinem (des ginwendenden) grobem vorsätzlichem Verkehrsverstoß vorsorglich rechnen müssen.

Tatbestand

Zum Sachverhalt:

Im März 1979 ereignete sich in M. innerhalb der geschlossenen Ortschaft ein Verkehrsunfall, an dem der Pkw der KI., den deren Sohn R fuhr, und der Pkw des Erstbekl., der bei der Zweitbekl. haftpflichtversichert ist, beteiligt waren. R wollte von der vorfahrtsberechtigten B 502 an der Kreuzung "Alter Sportplatz Stiller Winkel" nach links abbiegen. Der Erstbekl. kam ihm im Gegenverkehr entgegen. In einer Entfernung von 14,80 in hinter der Einmündung "Alter Sportplatz" (aus der Fahrtrichtung des R gesehen) befindet sich auf der B 502 eine Fußgänger-Bedarfsampel. An dieser standen sich jeweils am Fahrbahnrand die Zeugen W und S gegenüber, um die Fahrbahn zu überqueren. S hatte die Ampel betätigt. Ein vor dem Pkw der Kl. geradeaus weiterfahrender Kraftfahrer hielt vor dieser Ampel an, als sie für ihn "rotes" Licht zeigte. Der ihm nachfolgende R, der sich zur Fahrbahnmitte hin eingeordnet und das linke Blinklicht am Fahrzeug betätigt hatte, nahm an, daß der Erstbekl. auch an der Fußgängerampel anhalten werde und bog darum nach links ein. Der Erstbekl. überfuhr jedoch den Fußgängerüberweg bei für ihn "rotem" Lichtzeichen. Trotz eines Bremsversuchs stieß er gegen die rechte hintere Seite des Pkw der KI., der gegen ein anderes dort wartendes Fahrzeug gedrückt wurde. Auf den der Kl. entstandenen Gesamtschaden hat die Zweitbekl. in Anerkennung einer Mithaftung des Erstbekl. ein Drittel bezahlt.

Das LG ist von einer Quotelung im Verhältnis 2: 1 zu Lasten der Bekl. ausgegangen. Die Berufungen beider Parteien sind ohne Erfolg geblieben. Die - zugelassene - Revision der Kl. hatte Erfolg, die Anschlußrevision der Bekl. wurde zurückgewiesen.

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

I. Das BerGer. stellt fest, daß der Erstbekl. (im folgenden: Bekl.) beim Umschalten der Ampel auf "rot" noch mindestens 10 in vom Überweg entfernt war und in Anbetracht der vorhergehenden Geldphase von 3 Sekunden unschwer rechtzeitig hätte anhalten können. Es mißt jedoch den Lichtzeichen dieser nur für Fußgänger bestimmten Ampelanlage keine Schutzwirkung zugunsten des Fahrverkehrs und damit auch nicht zugunsten des nach links abbiegenden R bei. Demgemäß lastet es R, da der Gegenverkehr ihm gegenüber vorfahrtberechtigt war (§ 9 III StVO), eine Vorfahrtverletzung an. Es hält indessen sein Verschulden für erheblich geringer als dasjenige des Bekl., der trotz "rot" weitergefahren war. Bei der nach § 17 StVG gebotenen Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile gelangt das BerGer. zu einer mit dem LG übereinstimmenden Beurteilung und bewertet den Verursachungsanteil des R ebenfalls mit einem Drittel.

II. Die Anschlußrevision der Bekl. war zurückzuweisen. Die Revision der Kl. führte zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur uneingeschränkten Verurteilung der Bekl.

1. a) Trotz teilweise mißverständlicher Begründung geht das BerGer. zutreffend davon aus, daß der Bekl. den Unfall zurechenbar und schuldhaft verursacht hat. Er hat, indem er das Rotlicht der Überwegsampel offensichtlich bewußt mißachtet hat, einen groben vorsätzlichen Verkehrsverstoß begangen. Dieser Verstoß ist deshalb, weil der Sohn der Kl. nicht mit ihm gerechnet, vielmehr seine Fahrweise auf ein verkehrsgerechtes Verhalten des Bekl. eingestellt hat, für den streitgegenständlichen Unfall ursächlich geworden. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Überwegsampel primär dem Schutz von entgegenkommenden Linksabbiegern dienen sollte. Sie sollte es nicht, wie das BerGer. zutreffend ausführt, aber das wäre nur wesentlich, wenn es um eine Schutzgesetzverletzung nach § 823 II BGB i. V. mit § 37 StVO ginge. Dieser Begründung bedarf der Klaganspruch aber nicht.

Eine flüssige Abwicklung des Straßenverkehrs ist nur möglich, wenn ein Verkehrsteilnehmer wenigstens ohne besonderen Anlaß zu Mißtrauen davon ausgehen kann, daß sich andere verkehrsgerecht verhalten werden. So durfte der Sohn der Kl. damit rechnen, daß der Bekl. das für ihn deutlich und rechtzeitig erkennbare Haltegebot respektiere. Er durfte diese Erwartung zur Grundlage seines Entschlusses zum Linksabbiegen machen, weil er mit einem befugtermaßen entgegenkommenden Vorfahrtsberechtigten nicht zu rechnen brauchte. Dessen mußte sich auch der Bekl. selbst dann bewußt sein, wenn er wußte, daß die beiden Fußgänger sich durch Zurückweichen auf sein rücksichtsloses Verhalten einstellen und damit nicht gefährdet werden würden. An einem Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen dem Verkehrsverstoß des Bekl. und dem Unfall kann daher kein Zweifel bestehen. Auch das BerGer. hat einen solchen Zweifel offenbar nicht, denn es will dem Bekl. immerhin die überwiegende Verantwortung anlasten.

b) Nicht ohne weiteres verständlich ist indessen, worin das BerGer. die Mitverantwortung des Sohnes der KI., dem es ein allerdings gemildertes Verschulden anlasten will, sieht. Es ist zwar richtig, daß der Bekl. nach seinem rechtswidrigen Durchbrechen der Ampelschranke gegenüber dem Linksabbieger wiederum formal die Vorfahrt hatte. Das aber gibt für ein Schuldurteil gegenüber dem Sohn der Kl. für sich allein nichts her. Die Vorfahrt im Straßenverkehr ist kein absolutes Recht, dessen Verletzung etwa schon Verschulden indizierte, sondern Bestandteil eines Systems von verkehrsrechtlichen Verhaltensregeln. Für einen Kraftfahrer, der damit rechnen darf, daß ein anderer nicht unerlaubtermaßen eine Vorfahrtlage herbeiführen werde, kann ein trotzdem eintretender Unfall sogar ein unabwendbares Ereignis sein (§ 7 II StVG). Soweit das BerGer. daher der Kl. eine Mitverantwortung anlastet, hätte es darlegen müssen, daß der Sohn der Kl. das verkehrswidrige Verhalten des Bekl. schuldhaft nicht schon in einem Zeitpunkt bemerkt hat, in dem der Unfall noch zu vermeiden gewesen wäre, oder doch als besonders sorgfältiger Kraftfahrer i. S. des § 7 II 2 StVG Anlaß gehabt hätte, damit zu rechnen. Solche Feststellungen läßt das Berufungsurteil, das sich offenbar mit dem rechtlich bedenklichen Begriff einer "objektiven Vorfahrtverletzung" begnügen will, durchweg vermissen. Seine Entscheidung hat daher keinen Bestand.

2. Obwohl demnach das BerGer. tatrichterliche Feststellungen versäumt hat, die aus seiner Sicht wesentlich gewesen wären, vermag der Senat alsbald eine ersetzende Entscheidung in dem Sinne zu treffen, daß die Klage voll begründet ist, also die Berufung Erfolg hat und die Anschlußberufung der Bekl. erfolglos bleibt.

a) Daß der Sohn der Kl. mit dem Verkehrsverstoß des Bekl. nicht gerechnet hat, entspricht auch den Feststellungen des BerGer. Daß er - von diesem Verkehrsverstoß überrascht - noch Gelegenheit gehabt hätte, die Kollision gleichwohl zu vermeiden, ist nicht behauptet. Es kommt also nur darauf an, ob er aus besonderem Anlaß mit dem disziplinlosen Verhalten des Bekl. hätte rechnen müssen oder doch als besonders sorgfältiger Kraftfahrer gerechnet haben würde. Würde dies zutreffen, dann könnte seine Mitverantwortung wenigstens zu einem gegebenenfalls geringen Teil nicht geleugnet werden. Zum Beispiel hätte sich wohl der an dem Zusammenstoß beteiligte Dritte, der aber aus besonderen Gründen keine Ansprüche erhoben zu haben scheint, darauf berufen können, so daß entsprechende Feststellungen unerläßlich gewesen wären.

b) Hier aber ist es der Bekl. selbst, der mit seiner Einlassung im Rechtsstreit dem Sohn der Kl. praktisch vorwerfen will, dieser habe mit seiner (des Bekl.) groben Verkehrswidrigkeit vorsorglich rechnen müssen. Das ist zwar insofern richtig, als es nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats bei der Abwägung nach § 254 BGB (bzw. § 17 StVG) entscheidend auf das objektive Verursachungsgewicht des jeweils zu verantwortenden Tatbeitrags ankommt. Indessen darf diese grundsätzlich objektive Gewichtung nicht außer acht lassen, daß § 254 BGB im Grunde nur eine Ausformung des Gedankens des § 242 BGB darstellt. So muß es demjenigen, der vorsätzlich einen groben Verkehrsverstoß begangen hat, als unzulässiger Selbstwiderspruch untersagt sein, Ansprüche oder Einwendungen daraus herzuleiten, daß ein anderer mit seinem ungehörigen Verhalten nicht gerechnet habe. Jedenfalls zugunsten der Bekl. sind Umstände, die eine Ausnahme von diesem Grundsatz rechtfertigen könnten, nicht ersichtlich. Damit kann es für die anstehende Entscheidung offen bleiben, ob der Sohn der Kl. bei besonderer Sorgfalt Anlaß gehabt hätte, die Verkehrswidrigkeit des Bekl. vorauszusehen. Dieser selbst durfte sich jedenfalls nicht darauf berufen, so daß die Klage in jedem Falle vollen Erfolg haben muß.

Rechtsgebiete

Schadensersatzrecht

Normen

StVO 1970 § 9; BGB § 254