Kein Kinderfreibetrag für schwerbehindertes 26-jähriges Kind bei Abdeckung des notwendigen Lebensunterhalts durch Sozialhilfeleistungen

Gericht

BFH


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

14. 06. 1996


Aktenzeichen

III R 13/94


Leitsatz des Gerichts

  1. Bei der Frage, ob ein behindertes Kind außerstande ist, sich selbst zu unterhalten und deshalb den Eltern kindbedingte Steuervergünstigungen zustehen, sind Unterhaltsbeiträge eines Sozialhilfeträgers (hier: Eingliederungshilfe für Behinderte mit Abdeckung des notwendigen Lebensunterhalts) als eigene Bezüge des Kindes anzusetzen, soweit von einer Rückforderung bei dem gesetzlich unterhaltspflichtigen Steuerpflichtigen abgesehen wurde.

  2. Decken in einem solchen Fall die Sozialleistungen neben der erforderlichen Pflege und medizinischen Betreuung auch den notwendigen Lebensbedarf des Kindes ab, so besteht insoweit für eine darüber hinausgehende steuerliche Entlastung der Eltern keine Veranlassung.

Tatbestand

Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Kl. beantragten in ihrer Steuererklärung für das Streitjahr (1990) die Berücksichtigung eines Kinderfreibetrages, eines Behindertenpauschbetrages gem. § 33b Abs. 5 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 3 EStG 1990 sowie eines Steuerabzugsbetrages nach § 34 EStG (sog. Baukindergeld) für ein schwerbehindertes Kind A. Der im Streitjahr 26-jährige A war laut Schwerbehindertenausweis zu 100 % mit den Merkzeichen G, H und RF behindert und hielt sich in stationärer Behandlung in einem Sonderkrankenhaus auf. Die Kosten der stationären Behandlung übernahm der zuständige Sozialhilfeträger (Eingliederungshilfe für Behinderte). Der Sozialhilfeträger zahlte darüber hinaus an A für persönliche Bedürfnisse einen monatlichen Barbetrag i.H.v. 30 % des Regelsatzes eines Haushaltsvorstandes. Im Rahmen der Eingliederungshilfe wurden auch Fahrtkosten für 15 Familienheimfahrten und eine Weihnachtsbeihilfe gewährt. Die Kl. machten geltend, A habe sich an den Wochenenden, an Feiertagen, im Urlaub und auch sonst gelegentlich an Wochentagen bei ihnen zu Hause aufgehalten. Dies sei auch aus therapeutischen Gründen notwendig gewesen. Für Fahrten mit dem eigenen Pkw zum Abholen des Kindes, für dessen Beköstigung und sonstige Lebensführung an den Besuchstagen, für Kleidung und Urlaub sowie für das Bereithalten eines eigenen Zimmers für A seien ihnen erhebliche, durch die Sozialhilfeleistungen nicht abgedeckte Aufwendungen entstanden. Das FA lehnte die Berücksichtigung der geltend gemachten Steuerentlastungen (mit Ausnahme der Gewährung eines Pflegefreibetrages nach § 33b Abs. 6 EStG) ab. Die dagegen erhobene Klage hatte Erfolg. Der BFH hob das Urteil des FG auf und wies die Klage ab.

Entscheidungsgründe

Auszüge aus den Gründen:

Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, daß das schwerbehinderte Kind A im Streitjahr "außerstande war, sich selbst zu unterhalten".

Nach § 32 Abs. 4 Nr. 7 EStG wird ein Kind, das zu Beginn des Kalenderjahres das 16. (ab VZ 1992 das 18.) Lebensjahr, aber noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet hat, für kindbezogene Freibeträge berücksichtigt, wenn es wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.

Für den Lebensunterhalt geleistete Sozialhilfeleistungen sind Leistungen Dritter zur Entlastung der Unterhaltsverpflichteten

1. ... Im Streitfall sind die von der Sozialbehörde gem. §§ 11 ff. sowie § 27 Abs. 1 und Nr. 6 und Abs. 3 Satz 1 i.V.m. §§ 39 Abs. 1 Satz 1, 40 Abs. 1 Nr. 1 BSHG gewährte Leistungen (Hilfe zum Lebensunterhalt und Eingliederungshilfe für Behinderte), jedenfalls soweit sie für den üblichen Lebensunterhalt gewährt wurden, als ... Leistungen Dritter anzusehen.

Die höchstrichterliche Rechtsprechung ist bereits im Zusammenhang mit der steuerlichen Berücksichtigung von Unterhaltsaufwendungen nach § 33a Abs. 1 Satz 3 EStG davon ausgegangen, daß Sozialleistungen als Leistungen Dritter gelten. Nach der Entscheidung des BFH v. 2. 8. 1974, VI R 148/71 (BStBl. II 1975, 139) sind Unterhaltsbeträge des Sozialamts insoweit anzurechnen, als das Sozialamt von einer Rückforderung bei dem gesetzlich unterhaltsverpflichteten Stpfl. abgesehen hat. Diese zu § 33a EStG ergangene Rechtsprechung - bestätigt durch Urteil v. 22. 7. 1988, III R 175/86 (BStBl. II 1988, 939, DStR 1988, 679) - findet auch im Rahmen des § 32 EStG Anwendung (vgl. BFH in BStBl. II 1975, 139, unter Hinweis auf die Entscheidung vom 8. 11. 1972, VI R 257/71, BStBl. II 1973, 143). ...

Abdeckung des existentiell notwendigen Unterhalts

2. Entgegen der Ansicht der Kl. steht im Zusammenhang mit der Gewährung des Kinderfreibetrages - anders als im zivilen Unterhaltsrecht - nicht der angemessene, sondern der existentiell notwendige Unterhaltsbedarf des (behinderten) Kindes im Vordergrund. Nach der Rechtsprechung des BVerfG folgt aus dem allgemeinen Gleichheitssatz für das Gebiet des Steuerrechts, daß die Besteuerung insbesondere im Einkommensteuerrecht an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Stpfl. auszurichten ist (vgl. z.B. Beschl. v. 26. 1. 1994, 1 BvL 12/86, BStBl. II 1994, 307, DStR 1994, 354). Unvermeidbare Sonderbelastungen durch Unterhaltsverpflichtungen, vor allem für Kinder, mindern diese Leistungsfähigkeit. Es müssen daher Mittel, die für den Unterhalt von Kindern unerläßlich sind, bei der Besteuerung des Einkommens unberücksichtigt bleiben. Allerdings ist bei der Beurteilung der steuerlichen Leistungsfähigkeit der Unterhaltsaufwand für ein Kind nur in dem Umfang als steuerbares Einkommen des Stpfl. außer Betracht zu lassen, in dem Aufwendungen erforderlich sind, um das Existenzminimum des Kindes zu gewährleisten (BVerfG v. 29. 5. 1990, 1 BvL 20/84 u.a., BStBl. II 1990, 653). ...

Soweit die Hilfe zum Lebensunterhalt nach §§ 11 ff. BSHG und die Eingliederungshilfe für Behinderte gem. § 27 Abs. 1 Nr. 6 und Abs. 3 Satz 1 i.V.m. §§ 39, 40 BSHG - wie im Streitfall - die Unterbringungs- und Verpflegungskosten sowie zusätzliche Barbeträge (hier insbesondere Taschengeld) umfassen, decken sie grundsätzlich den notwendigen Lebensbedarf des Kindes ab. Für eine darüber hinausgehende steuerliche Entlastung der Eltern besteht insoweit keine Veranlassung.

Entscheidend ist das Bestehen der Sozialhilfeansprüche, nicht aber deren Geltendmachung

3. So liegen die Verhältnisse auch im Streitfall. Dies ergibt sich bereits aus den tatsächlichen Feststellungen des FG zu den gewährten als auch unwissentlich von der Klin. oder ihrem Sohn nicht geltend gemachten Leistungen nach dem BSHG. Der Sozialhilfeträger zahlte im Streitjahr die erforderlichen Unterbringungs- und Pflegekosten, Weihnachtsbeihilfe, Fahrtkosten der Klin. sowie Barbeträge für die persönlichen Bedürfnisse des Sohnes. Angesichts dieser Sozialleistungen standen im Streitfall genügend Mittel zur Bestreitung der üblichen Lebensbedürfnisse zur Verfügung. Der Sozialhilfeträger war im übrigen nach den §§ 11 bis 13 und 21 (s. nunmehr auch § 27 Abs. 3 Satz 1) BSHG verpflichtet, neben den Pflegeleistungen auch den Lebensunterhalt des Behinderten umfassend sicherzustellen.

Die aus Unwissenheit nicht geltend gemachten Ansprüche gegenüber dem Sozialhilfeträger - hier auf Zahlung eines Bekleidungszuschusses sowie auf Auszahlung des täglichen Aufwands für Lebensmittel für jeden vollen Abwesenheitstag bei zum Wochenende beurlaubten Heimbewohnern - ändern nichts an der Beurteilung, daß der behinderte Sohn gem. § 32 Abs. 4 Nr. 7 EStG nicht außerstande war, sich selbst zu unterhalten. Die Vorschrift stellt nicht darauf ab, ob ein Kind sich tatsächlich selbst unterhält oder ob dies durch die Eltern geschieht, sondern auf die Fähigkeit, sich selbst zu unterhalten. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes.

Berücksichtigung der Sozialhilfeleistungen verstößt nicht gegen Verfassung

4. Durchgreifende Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der strittigen Vorschrift bestehen nach Auffassung des erk. Senats nicht. ...

Eine Auslegung der strittigen Vorschrift dahin, daß Sozialleistungen unberücksichtigt bleiben, führte nach Auffassung des Senats...zu einer verfassungsrechtlich bedenklichen Ungleichbehandlung gegenüber den Eltern, die in ihrer Leistungsfähigkeit tatsächlich gemindert sind, weil sie von den Sozialhilfeträgern als Unterhaltsverpflichtete für die entstandenen Kosten in Anspruch genommen werden (vgl. § 90 BSHG). Eine Ungleichheit in der steuerlichen Entlastung entstünde auch gegenüber Eltern, deren behindertes Kind über hinreichende eigene Einkünfte, z.B. aus Vermögen verfügt, zu dessen Unterhalt daher die Allgemeinheit keinen Beitrag in Form von Sozialleistungen zu leisten hat. ...

Rechtsgebiete

Steuerrecht