Zum Schriftformerfordernis bei der Einlegung eines Einspruchs gegen einen Strafbefehl
Gericht
BVerfG
Art der Entscheidung
Pressemitteilung
Datum
04. 07. 2002
Aktenzeichen
2 BvR 2168/00
Die Verfassungsbeschwerde eines Beschuldigten (Beschwerdeführer - Bf), der sich gegen die Verwerfung seines Einspruchs gegen einen Strafbefehl und die Zurückweisung seines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand wehrte, hatte Erfolg. Die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts bestätigt die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung, wonach die Gerichte bei der Auslegung und Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise erschweren dürfen.
1. Der Bf hatte gegen einen Strafbefehl des Amtsgerichts Stuttgart (AG) am letzten Tag der Frist per Telefaxschreiben Einspruch hingelegt und zugleich die Übersendung des Einspruchsschreibens per Post am selben Tag angekündigt. Die Telefaxschreiben enthielten unter anderem den maschinenschriftlichen Namen des Bf, aber keine Unterschrift. Er hatte die Telefaxschreiben mit Hilfe seines Computers ohne Ausdruck unmittelbar an das AG geschickt. Vier Tage später ging ein von ihm unterzeichnetes Einspruchsschreiben beim AG ein. Ferner beantragte der Bf vorsorglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Das AG verwarf den Einspruch als unzulässig. Das Telefax habe die Schriftform, der vier Tage später eingegangene Einspruch die Frist nicht eingehalten. Der Bf sei auch nicht unverschuldet an der rechtzeitigen Erhebung des Einspruchs gehindert gewesen, weshalb auch der Wiedereinsetzungsantrag erfolglos blieb. Die hiergegen gerichtete Beschwerde verwarf das Landgericht Stuttgart (LG). Mit der Verfassungsbeschwerde (Vb) rügt der Bf, dass diese Auslegung des Schriftlichkeitserfordernisses ihm die Möglichkeit des rechtlichen Gehörs im gerichtlichen Verfahren nehme und den ersten Zugang zum Gericht versperre.
2. Die Kammer hat die Entscheidung des LG aufgehoben, weil sie der Bedeutung und Tragweite der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien nicht gerecht wird. Die Sache wurde an das LG zur Entscheidung über die Beschwerde zurückverwiesen.
Die Kammer hebt zunächst die große praktische Bedeutung des Strafbefehlsverfahrens für die Strafrechtspflege hervor. Dieses macht es - vielfach auch im Interesse des Beschuldigten - möglich, auf vereinfachtem Weg zu einer Entscheidung zu gelangen, die einem rechtskräftigen Urteil gleichsteht. Der Beschuldigte kann durch bloßen Einspruch die Durchführung der Hauptverhandlung erzwingen. Dies verbürgt seinen Anspruch auf rechtliches Gehör und den Zugang zum Gericht.
Nach Art. 19 Abs. 4 GG hat der Bürger Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle von Akten der öffentlichen Gewalt. Der Anspruch auf rechtliches Gehör garantiert das Recht, sich in einem gerichtlichen Verfahren zu äußern und vom Richter zur Sache gehört zu werden. Diese beiden verfassungsrechtlichen Garantien schließen es allerdings nicht aus, dass die Prozessordnungen ein Rechtsschutzbegehren von der Einhaltung formeller Voraussetzungen abhängig machen. Dies gilt auch für die in der Strafprozessordnung vorgesehene Schriftform des Einspruchs. Sie dient der Rechtssicherheit und belastet den Beschuldigten nicht unzumutbar. Auch die Gerichte müssen bei der Auslegung und Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften den Grundsatz rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung beachten. Sie dürfen dabei keine überspannten Anforderungen stellen.
Diesem Maßstab entspricht die angegriffene Entscheidung nicht. Dem Schriftformerfordernis wird zwar grundsätzlich dadurch Genüge getan, dass ein Schriftstück handschriftlich vom Absender unterzeichnet wird. Es wird jedoch nicht in jedem Fall verletzt, wenn das Schriftstück nicht handschriftlich unterzeichnet ist, sondern mit dem maschinenschriftlich geschriebenen Namen des Beschwerdeführers schließt. Zweck der Schriftform ist es, den Inhalt der Erklärung und die Person, von der sie ausgeht, hinreichend zuverlässig deutlich zu machen. Ferner soll sie sicherstellen, dass das Schriftstück mit Wissen und Willen des Berechtigten dem Gericht zugeleitet wird. Davon ausgehend hält die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) in Strafsachen die eigenhändige Unterzeichnung nicht für eine wesentliche Voraussetzung der Schriftlichkeit. Vielmehr verzichtet der BGH auf eine eigenhändige Unterschrift, wenn aus dem Schriftstück ansonsten in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise ersichtlich ist, von wem die Erklärung herrührt und dass kein bloßer Entwurf vorliegt. Dieser fachgerichtlichen Rechtsprechung folgt auch das Bundesverfassungsgericht.
Deshalb hätte das Ausgangsgericht prüfen müssen, ob der mit dem Faxschreiben erhobene Einspruch vom Bf herrührte und dieser ihn mit Wissen und Wollen in den Verkehr gebracht hat. Darauf deuten die in dem Schreiben enthaltenen Daten hin, die in der Regel allein dem Betroffenen bekannt sind. Eine solche an den Umständen des Einzelfalls orientierte - vom Ausgangsgericht jedoch unterlassene - Prüfung war zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes geboten. Nur mit dem Einspruch konnte sich der Beschwerdeführer in einer Hauptverhandlung erstmals umfassend rechtliches Gehör verschaffen.
Ausdrücklich weist die Kammer darauf hin, dass in Prozessen mit Vertretungszwang bestimmende Schriftsätze formwirksam durch elektronische Übertragung einer Textdatei mit eingescannter Unterschrift auf ein Faxgerät des Gerichts übermittelt werden können. Das heißt jedoch nicht, dass die Person des Erklärenden nicht auch bei einer anderen Gestaltung des Faxschreibens eindeutig bestimmt werden kann.
Schließlich hätte dem Beschwerdeführer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden müssen. Das LG hat die Voraussetzungen hierfür überspannt, wenn es von dem Beschwerdeführer verlangt, dieser habe sich kundig machen müssen, ob seine Vorgehensweise den Anforderungen der deutschen Rechtsordnung genüge.
Beschluss vom 4. Juli 2002 - Az. 2 BvR 2168/00 -
Karlsruhe, den 23. Juli 2002
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