Zur Haftungsabwägung nach § 17 I StVG

Gericht

KG Berlin


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

17. 01. 2000


Aktenzeichen

12 U 6678/98


Leitsatz des Gerichts

  1. Im Rahmen der Abwägung nach § 17 I StVG dürfen nur unfallursächliche Umstände berücksichtigt werden.

  2. Dies gilt grundsätzlich auch für eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit durch den Vorfahrtberechtigten.

Tatbestand

Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der an einer Vorfahrtstraße wartepflichtige Kl. hatte seinen Pkw in die bevorrechtigte Fahrbahn „hineinrollen“ lassen, wo es zu einer Kollision mit dem LKW des Bekl. kam, der die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten hatte. Das LG hatte eine Mithaftung des Kl. von 25% angenommen; die Berufung des Kl. hatte Erfolg.

Entscheidungsgründe

Auszüge aus den Gründen:

1. Zutreffend hat das LG festgestellt, dass gegen den wartepflichtigen Kl. der Beweis des ersten Anscheins spricht, dass der Unfall durch dessen schuldhafte Vorfahrtverletzung verursacht worden ist.

Darüber hinaus steht nach dem eigenen Vorbringen des Kl. er sei in die bevorrechtigte Straße „hineingerollt“, also unter Schrittgeschwindigkeit in diese hineingefahren fest, dass der Kl. seinen Pflichten aus § 8 StVO nicht nachgekommen ist.

Wer die Vorfahrt zu beachten hat, darf nach § 8 II 2 StVO nur weiterfahren, wenn er übersehen kann, dass er den Vorfahrtberechtigten weder gefährdet noch wesentlich behindert. Kann er dies nicht übersehen, weil die Straßenstelle unübersichtlich ist, darf er sich nach § 8 II 3 StVO vorsichtig in die Kreuzung hineintasten, bis er Übersicht hat. „Hineintasten“ bedeutet zentimeterweises Vorrollen bis zum Übersichtspunkt mit der Möglichkeit sofort anzuhalten (BGH NJW 1985, 2757; Senat NZV 1999, 85; Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 35. Aufl. 1999, StVO § 8 Rdnr. 58). Der Wartepflichtige genügt seiner Pflicht nicht, wenn er die Schnittlinie der bevorrechtigten Straße überfährt und damit ganz oder teilweise die Fahrspur eines bevorrechtigten Verkehrsteilnehmers sperrt.

Nach seinem eigenen Vorbringen ist der Kl. in die Vorfahrtstraße „hineingerollt“; hieraus folgt ohne weiteres, dass er nicht zentimeterweise, also Zentimeter für Zentimeter, vorgerollt ist bis zum Übersichtspunkt mit der Möglichkeit, sofort anzuhalten, sich also nicht i.S.d. § 8 II 3 StVO „hineingetastet hat“. Dies hätte nämlich bedeutet, dass er mit seinem Wagen jeweils nur wenige Zentimeter langsam vorgerollt und dann wieder angehalten und dieses Fahrmanöver über einen längeren Zeitraum mehrfach wiederholt hätte (vgl. Senat, a.a.O.).

2. Entgegen der Auffassung des LG führt die von ihm angenommene Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h an der Unfallstelle durch den Bekl. um 12 km/h nicht zu einer Mithaftung der Bekl.

a) Das LG hat seine Auffassung damit begründet, der Kl. habe nicht damit rechnen müssen, dass der Bekl. zu 3 mit dem von ihm geführten Lkw statt der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h eine Geschwindigkeit von 62 km/h fahren würde.

Mit dieser Erwägung lässt sich die vom LG angenommene Mithaftung der Bekl. nicht rechtfertigen; denn die Verkehrsteilnehmer dürfen nicht generell darauf vertrauen, dass die 50 km/h-Grenze innerorts genau eingehalten wird; vielmehr müssen nach höchstrichterlicher Rechtsprechung von anderen Kraftfahrern auch erhebliche Überschreitungen in Rechnung gestellt werden (vgl. BGH NJW 1984, 1962, 1963; Jagusch/Hentschel, a.a.O., StVO § 3 Rdnr. 52 m.w.N.; § 8 Rn. 53, 54a), soweit diese bei sorgfältiger Beobachtung der Fahrbahn erkennbar waren; Schätzungsfehler gehen zu Lasten des Wartepflichtigen (BGH, a.a.O.); der Wartepflichtige darf generell lediglich darauf vertrauen, dass kein bevorrechtigter Verkehrsteilnehmer aus einer nicht einzusehenden Position (Kuppe, stark gewölbte Brücke, Kurve) überschnell herankommen werde (BGH VersR 1966, 936; Senat, DAR 1992, 433, 434f. = VerkMitt 1992, 100). Für einen solchen Sachverhalt bestehen keine Anhaltspunkte.

Dagegen darf der Vorfahrtsberechtigte darauf vertrauen, dass aus einer Seitenstraße herannahende, nicht sichtbare Wartepflichtige seine Vorfahrt beachten werden (vgl. OLG Hamm MDR 1999, 1194).

b) Darüber hinaus ist der vom LG zu Gunsten des Wartepflichtigen herangezogene Vertrauensgrundsatz für sich allein gesehen hier nicht geeignet, im Rahmen der Abwägung nach § 17 StVG eine Mithaftung der Beklagten zu begründen, weil der Beklagte zu 3 mit dem LKW an der Unfallstelle eine Geschwindigkeit von 62 km/h gefahren sei.

aa) Zwar sind erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitungen des bevorrechtigen Verkehrs geeignet, zur Mithaftung des Vorfahrtberechtigten - in Sonderfällen auch zur Alleinhaftung - zu führen. Das Maß der Mithaftung hängt von der Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung sowie den weiteren Umständen des Einzelfalles ab (BGH NJW 1984, 1962 = DAR 1984, 220; Senat, VerkMitt 1982, 94; NZV 1999, 85, 86).

Stets ist jedoch für eine Mithaftung wegen Geschwindigkeitsüberschreitung erforderlich, dass diese Sorgfaltspflichtverletzung unfallursächlich war; denn im Rahmen der Vorschrift des § 17 StVG dürfen nur Umstände berücksichtigt werden, die erwiesenermaßen ursächlich für den Schaden geworden sind (ständige Rspr., vgl. BGH VersR 1982, 442 = NJW 1982, 1149; NJW 1988, 58; Senat VerkMitt 1984, 36; NZV 1999, 85, 86 = KG Report 1999, 315, 318 sowie zuletzt Urteile v. 24. 9. 1998 - 12 U 3283/96 - sowie vom 25. 3. 1999 - 12 U 9746/97 -, OLG Celle VersR 1973, 1174; OLG Bremen NZV 1988, 42, 43; OLG Hamm NZV 1996, 69, 70; OLG Stuttgart DAR 1997, 26, 27; OLG Rostock DAR 1999, 550, Ls.; LG Augsburg r + s 1987, 338; für alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit: BGH NJW 1995, 1029 = NZV 1995, 145; ferner generell Jagusch/Hentschel a.a.O., StVG § 17 Rdnr. 5; StVO § 3 Rdnr. 67).

Daher kommt es für eine bei der Abwägung nach § 17 I StVG zu berücksichtigende Sorgfaltspflichtverletzung darauf an, ob sich der Bekl. zu 3. in Folge überhöhter Geschwindigkeit außerstande gesetzt hat, unfallverhütend zu reagieren oder ob ihm dies auch bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit nicht möglich gewesen wäre (BGH VersR 1982, 442, 443; BGH NJW 1988, 58; BGH NZV 1991, 23, 24); dies gilt nicht nur für Geschwindigkeitsüberschreitungen bis zu 10 km/h, die auch nur dann zu vernachlässigen sind, wenn sie nicht unfallursächlich waren (BGH VersR 1980, 868, 869; VersR 1982, 442, 443; so ausdrücklich auch Senat, Urt. v. 31. 1. 1994 - 12 U 3121/92 -; vgl. auch Senat VerkMitt 1987, 86, 87 sowie VerkMitt 1990, 51, jeweils unter Bezugnahme auf BGH VersR 1982, 442).

bb) Eine Unfallursächlichkeit der Geschwindigkeitsüberschreitung des Bekl. zu 3. hat der Kl. weder dargelegt noch bewiesen.

Wie das LG zutreffend ausgeführt hat, hat er zunächst seine Behauptung nicht bewiesen, der Bekl. zu 3. sei vor dem Unfall mit etwa 70 km/h gefahren.

Ob der Kl. bewiesen hat, dass der Bekl. zu 3. tatsächlich 62 km/h gefahren ist und dies zwischen den Parteien nach Vorliegen des Gutachtens der Mannesmann VDO AG vom 13. 5. 1998 unstreitig geworden ist, kann letztlich dahinstehen; insoweit ist nur darauf hinzuweisen, dass im Gutachten unter „Toleranzen bei der mikroskopischen Auswertung“ darauf aufmerksam gemacht wird, dass die tatsächlich vorhandenen Messfehler im Betrieb +/- 3 km/h betragen, so dass es naheliegt, dass tatsächlich nur eine Geschwindigkeit von 59 km/h als erwiesen angesehen werden kann; …

Jedenfalls gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass sich der Kl. in Folge einer überhöhten Geschwindigkeit außerstande gesetzt hat, unfallverhütend zu reagieren oder sonst eine sich auf das zu schnelle Fahren zurückzuführende erhöhte Gefahrenlage in dem Unfall aktualisiert hat (vgl. BGH NJW 1988, 58); ohne nähere Anhaltspunkte kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Geschwindigkeitsüberschreitung generell abstrakt die Gefährdung durch den Lkw erhöht hat. Insbesondere kann sich der Kl. auch nicht darauf berufen, dass von dem vom Bekl. zu 3. geführten Lkw eine erhöhte Betriebsgefahr ausgegangen sei, da es sich um ein schweres Fahrzeug gehandelt habe; denn selbst die Betriebsgefahr eines Lastzuges ist gleich hoch mit der des wartepflichtigen Pkw, der in eine Vorfahrtstraße hineinragt (BGH VersR 1966, 338) und gleich hoch bei Vorfahrtverletzung durch einen Pkw (OLG Hamburg VersR 1966, 195).

Rechtsgebiete

Straßenverkehrs- und Straßenrecht